Sindelfingen: Selbst organisierte Kämpfe bei Mercedes-Benz! Zu den Ereignissen in Sindelfingen

Bei Mercedes-Benz in Sindelfingen, in Daimlers Riesenfabrik für Automobile mit mehr als 35 000 Beschäftigten ging im Dezember 2009 die Post ab! In das Ende eines Jahres voller Krise, Kurzarbeit und Angst um den Arbeitsplatz platzten Nachrichten hinein, die ein Fass zum Überlaufen brachten:

Aus Protest gegen Vorstandpläne, einen Großteil der neuen C-Klasse, der meist verkauften Mercedes-Baureihe, künftig nicht mehr in Sindelfingen, sondern im Geländewagen-Werk in Tuscaloosa/Alabama in die USA und in Bremen zu fertigen, legten Daimler-Beschäftigte am Dienstag, dem 1. Dezember 2009 die Produktion lahm. Mehr als 3000 Arbeitsplätze allein in Sindelfingen stehen auf dem Spiel. Vor dem Werk versammelten sich nach Angaben des Betriebsrates am Morgen mehr als 12.000 Mercedes-Mitarbeiter, von Porsche und zahlreichen Zulieferern wie Bosch, Behr oder Mahle. Allein dies ist eine beachtliche Tatsache. Von Anfang an wurden die Daimler-Kollegen von breiter Solidarität gestützt!

Trotz der Aktionen beschloss der Daimlervorstand Dienstagabend ungerührt die Verlagerungen.

Einen Tag später ging’s aber erst richtig los, und zwar spontan und entgegen den Plänen des Betriebsrats und der IG Metall Führung in Stuttgart. Wir zitieren den Bericht der Betriebszeitung kämpferischer Mercedes-Kolleg/innen „Was tun?“ vom 4.12.2009:

„Die A-Schicht der E-Klasse Montage hat es vorgemacht: Tausende aus der Montage der E- und C-Klasse haben am Mittwoch die Bänder verlassen und sind zum Bau 1/1 gezogen. Auch B- und C-Schicht entschieden, dass angesichts der Vorstandsentscheidung, die C-Klassenproduktion aus Sindelfingen abzuziehen, am Mittwoch nicht weiter produziert werden kann!

Vorgesehen war das nicht. Vorgesehen war, dass wir nach den Aktionen am Dienstag erst nächste Woche am Mittwoch in einer außerordentlichen Betriebsversammlung wieder zusammenkommen sollten. Das war der Plan der Betriebsratsspitze. Unser Plan war aber, sofort etwas zu tun! Und das, Kolleginnen und Kollegen, das ist der richtige Anfang!“

Selbst organisiert und nicht durch die Mannschaft des Gesamt-BR-Vorsitzenden Erich Klemm gingen die Kolleginnen in den Kampf. Mittwoch früh noch, nach der Vorstandsentscheidung, hatte die Werksleitung versucht, zwecks Beruhigung der Kollegen die Meister vor zuschicken, aber die Kollegen ließen sich nicht beruhigen und verließen die Bänder, eine Abteilung nach der anderen.

Am Donnerstag kam es erneut zu Arbeitsniederlegungen. Erst im Laufe dieser Auseinandersetzungen willigten die Betriebsratsführung und die IG Metall ein, am Freitag, dem 4. Dezember auf die Straße zu gehen und durch die Innenstadt Sindelfingens zu ziehen.

Betriebszeitung „Was Tun?“ am Freitag, 4. Dezember:

„Heute sind wir endlich auf der Straße – da, wo viele von uns nach den Plänen des Vorstands spätestens 2014 landen sollen. … Die letzten Tage waren turbulent. Unsere Ohnmacht wandelte sich in Wut, wir haben mit dem Kämpfen begonnen. Dass wir heute hier marschieren, haben wir erreicht, wir alle zusammen! … wir müssen unbedingt weiter machen, wo wir am Mittwoch und Donnerstag begonnen haben….

… dieser Vorstand entscheidet nur danach, wie der maximale Profit zu erzielen ist. Da kann Uwe Meinhardt(2. Bevollmächtigter der IG Metall Stuttgart und für Daimler Sindelfingen zuständig- die Red.) ruhig von Zockermentalität sprechen. Wir wissen, dass das der ganz normale Kapitalismus ist. Da sind wir nicht mehr als ihre Lohnsklaven. Ja! Wir bekommen für unsere Arbeit einen Lohn, der uns am Leben hält… Dass die C-Klasse weg soll, hat angeblich strategische Gründe. Da ist den Vorstandsbossen egal, was mit uns, unseren Kollegen in den Zulieferbetrieben und mit der Region hier passiert… Strategisch planen zum Wohl der Gesellschaft oder gar der Umwelt? Aber woher denn?!… Rund 4.500 Arbeitsplätze sollen hier ihrer Profitgier zum Opfer fallen.

Und was hören wir von IGM- und Betriebsratsführung? Man will ein Zukunftskonzept und dass die Arbeitsplätze weit über 2013/14 hinaus gesichert sind…Wir haben das gleiche hinterhältige Spiel mit Erpressung und Verzicht ja nun schon öfter mitgemacht.“

Am Morgen zogen 15 000 Kolleg/innen durch Sindelfingen, abends in der Spätschicht 8000 durch die Nachbarstadt Böblingen!!

Tags drauf (5. Dezember) trieb den „Gewerkschaftsreporter“ der „Stuttgarter Zeitung“, Mathias Schiermeier, die Sorge um!

„In Sindelfingen herrscht der Ausnahmezustand. Bei Daimler laufe vieles außer Rand und Band, sagt der IG-Metall-Bezirksleiter Jörg Hofmann. … nach der Entscheidung, die C-Klasse zu verlagern, gehen die Beschäftigten auf die Barrikaden. Aus Wut über den Vorstand lassen Tausende von Mitarbeitern über Tage immer wieder die Bänder ruhen. Diese spontanen Arbeitsniederlegungen außerhalb von Tarifkonflikten bewegen sich jenseits der Legalität, weil so genannte wilde Streiks verboten sind. Tage wie diese in Sindelfingen haben wir in der Republik seit Jahren nicht mehr und in der jüngeren Daimler-Geschichte sogar noch nie erlebt.“ (!!! – die Red.)

Schiermeier, der sich sonst gerne kritisch gibt, auch gegenüber dem Kapital, verfällt in Hetze:

„Es ist die Stunde der unbekannten Revoluzzer aus den hinteren Reihen… Sie stacheln die Kollegen am Fließband zur Untätigkeit an und spielen ein wenig Klassenkampf. Dabei finden sie große Resonanz, weil die Stimmung wegen des dauerhaften Personalmangels und der Sparpakete ohnehin aufgeladen ist.“ Merkwürdig, wie so oft sollen die Kollegen, wenn sie den Kampf aufnehmen, auf „Revoluzzer“ hereingefallen sein. Sind sie dumm? Dann wird Schiermeier warnend und geradezu staatstragend:

„Die Situation drohe außer Kontrolle zu geraten, sagt der Bezirksleiter Hofmann. Wie besorgt er wirklich ist, steht dahin, denn dass die Situation tatsächlich außer Kontrolle gerät, ist nicht zu befürchten.

Die IG-Metall-Funktionäre um Betriebsratschef Erich Klemm sind zu einflussreich und zu gut abgestimmt, als dass sie sich von selbst ernannten Aufrührern das Heft des Handelns entreißen ließen. Und sie sind zu vernünftig und zu pragmatisch, um in einem zügellosen Aufstand einen Sinn zu erkennen. Die Gewerkschaft lässt die ungeplanten Streiks nur so weit laufen, wie es notwendig ist, um der Wut ein Ventil zu geben…“

Die Parteinahme ist deutlich! Aber Schiermeier hat nicht ganz unrecht, leider: Es werden Verhandlungen mit dem Betriebsrat eingefädelt. Die Betriebsversammlungen kommen bereits am Montag, nicht am Mittwoch. Die Zeit drängt! Erich Klemm muss kämpfen, aber auch Daimler-Boss Zetsche.

Die Kraft der Kollegen ist deutlich! Verhandlungen müssen her!

Der Vorstand hatte über die Verlagerungspläne gar nicht verhandeln wollen. Das ist für die Truppe um Erich Klemm und die IG Metall-Führung hart und ein Affront! In der Belegschaft kursiert der Vorwurf, Erich Klemm habe durch seine Mitgliedschaft im Aufsichtsrat bereits seit Monaten von den Vorstandsplänen gewusst, aber nicht mit Widerstand gerechnet. Nun heißt es Kämpfen, und Klemm kämpft. Er und Meinhard wollen jetzt Zetsche einen Ausgleich abringen, um sich Vorstand wie Belegschaft als ernstzunehmender Verhandlungspartner zu präsentieren. Problem für Erich Klemm: Die Kämpfe der Belegschaft braucht er dafür, hat sie aber gar nicht organisiert! Nun will der Betriebsrat die Führung wieder in die Hand bekommen.

Vielen in der Belegschaft wurde in den Aktionen klar, dass Betriebsrats- und Gewerkschaftsführung sie bremsen wollten. Die Betriebsversammlung am Montag, dem 7. Dezember 2009 wird zur Arena. In langen Reden der Betriebsräte wurden die kritischen Stimmen abgebügelt. Der Betriebsrat am Ruder, kämpft um Beruhigung. „Was tun?“:

„So wie Klemm die Ereignisse der letzten Woche dargestellt hat, konnte jeder merken, dass ihn ziemlich überrascht hat, wozu diese Belegschaft in der Lage ist. …Für uns ist klar, dass Vorstand und Betriebsratsspitze ein gemeinsames Ziel verfolgten : Weitere Aktionen, womöglich noch selbst organisiert, sollten unbedingt verhindert werden.“

Die Verlagerung C-Klasse-Produktion bleibt wie beschlossen. Aber Zetsche machte Versprechungen an die Kolleg/innen. Er hat Kreide gefressen, wirbt um die Belegschaft. Es tritt tatsächlich eine gewisse Beruhigung, ein Abwarten ein. Aber ohne die massiven Aktionen der Belegschaft wäre es gar nicht zu Verhandlungen gekommen.

Diese beginnen nun und führen nach drei Tagen, am 10. Dezember 2009 zu der bekannten Vereinbarung. Damit haben Klemm und die IG-Metall-Führung in Stuttgart mit Mühe, aber faktisch doch, die Führung wieder in der Hand.


Das Ergebnis

Drei Tage später, am 10 Dezember, wird das Ergebnis bekannt gegeben. Die IG Metall-Verlautbarung erweist zunächst den kämpfenden Kollegen die Referenz, bemüht sich aber, die Führungsfrage klar zu stellen: „ ‚Mit der Vereinbarung… ist es dem Betriebsrat, der IG Metall und der Belegschaft gelungen, die Arbeitsplätze bis 2020 zu sichern’, erklärt Uwe Meinhardt, Zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Stuttgart. ‚Wir haben uns als Arbeitnehmervertreter erfolgreich durchgesetzt… Ohne den Einsatz und den Druck der Belegschaft wäre dieses Verhandlungsergebnis nicht zustande gekommen’“ Erst der Betriebsrat, dann die Gewerkschaft, dann die Kollegen, auch wenn es ohne diese gar nicht gegangen wäre. Das sind die Machtverhältnisse in einem Großbetrieb wie bei Daimler.

Das Ergebnis – es hat sogar einen Namen: „Sindelfingen 2020“ – ist dann relativ normal und entspricht in gewisser Weise dem Standard solcher Kompromisse.

– Der Name zeigt, und das ist eine Niederlage(!), dass es gelang den Konflikt auf Sindelfingen zu begrenzen, trotz der riesigen Solidarität außerhalb Sindelfingens.

– Der Vereinbarung schließt für die rund 37.000 Beschäftigten am Standort betriebsbedingte Kündigungen bis 2020 aus.

– Sindelfingen bleibt Produktionsstandort der Mercedes-Benz Oberklasse.

– 2.700 neue Arbeitsplätze sollen durch neue Produkte und Aufgaben geschaffen werden: durch die Produktion von SL und Guard G-Klasse, zusätzliche Werkzeuge, durch die Eigenfertigung aller Sitze, durch ein Leichtbauzentrum (Karosserieteile),durch weiteres „Insourcing“, also Wegnahme von Arbeit bei Zulieferern, für das Unternehmen und Betriebsrat Vorschläge beraten sollen.

Hier können wir uns nur der Kritik der Betriebszeitung „Was tun?“ anschließen:

„Hier wird ein übles Spiel gespielt: Auf Kosten unserer Kollegen, die zur Zeit noch auf den ausgelagerten Plätzen arbeiten, werden uns 2.000 neue Arbeitsplätze versprochen.“ Arbeitsplätze bei Daimler, aber bei den Zulieferern, fliegen die Kollegen raus? Nein, die Forderungen, die „Was tun?“ erhebt, unterstützen wir:

Solidarität statt Konkurrenz! Gemeinsame Aktionen aller Belegschaften der Mercedes Benz Werke und der Zulieferbetriebe! Stoppt die Vernichtung von Arbeitsplätzen!

Doch in der Praxis des alltäglichen Klassenkampfes ist das noch keine Realität und muss erst erarbeitet werden.

Die Vereinbarung umfasst weitere Punkte:

– Bisher vereinbarte Ausbildungszahlen werden nicht unterschritten, Auszubildende werden auch künftig übernommen.

Da die 2700 versprochenen Arbeitsplätze offensichtlich die geplanten Verluste nicht aufwiegen werden, kommt unauffällig die Beseitigung der überzähligen Stellen daher:

– Großzügiger Umgang mit Altersteilzeitvereinbarungen

– Freiwillige Ausscheidensvereinbarungen nach heutigen Konditionen (gegen Abfindung!)sowie verbesserte Kontingente für Frühpensionierungen.

Also wird weiterhin das Ausscheiden in Rente und Arbeitslosigkeit auf „freiwilliger Basis“ gefördert, und wir können den Daimlerkollegen nur zustimmen, die illusionslos und nüchtern feststellen: „Mit Abfindungen werden uns als Belegschaft in regelmäßigen Abständen eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen abgekauft. Das ist und bleibt Arbeitsplatzvernichtung!“

Wir wünschen den Sindelfinger Kolleg/innen weiterhin Kampfentschlossenheit, um weiter gegen diese Politik zu mobilisieren!

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Quellenangabe für die Betriebszeitungszitate:
www.labournet.de/branchen/auto/dc/sindel/wastun.html

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