Aus „La Forge“ 03/22, Zentralorgan der Kommunistischen Arbeiterpartei Frankreichs (PCOF)
Am Montag, den 21. Februar, hielt Putin eine Rede im russischen Fernsehen, um die Anerkennung der Republiken Donbass und Donezk durch Russland bekannt zu geben und die russische Bevölkerung auf die Invasion der Ukraine einzustimmen, die er drei Tage später beschließen wollte. In dieser Fernsehansprache … richtete er seine Angriffe gegen die bolschewistischen Revolutionäre mit Lenin und Stalin an der Spitze und beschuldigte sie, „die Ukraine geschaffen zu haben“ Hier sind einige bezeichnende Auszüge:
„(…) Die heutige Ukraine wurde komplett und vollständig von Russland geschaffen, genauer gesagt vom kommunistischen, bolschewistischen Russland. Dieser Prozess begann fast unmittelbar nach der Revolution von 1917, und Lenin und seine Genossen gingen wahrlich nicht zimperlich mit Russland um: Sie nahmen ihm einen Teil seines historischen Territoriums und rissen ihn weg. (…) Stalin, der 1922 sowohl Generalsekretär des Zentralkomitees als auch Volkskommissar für Nationalitäten war, schlug vor, ein Land nach den Prinzipien der Autonomisierung zu schaffen, d. h. den Republiken – den zukünftigen administrativen und territorialen Einheiten – weitreichende Befugnisse zu geben, während sie sich einem einheitlichen Staat anschlossen. Lenin kritisierte diesen Plan und schlug vor, den Nationalisten, den nezavisimtsi („Unabhängigkeitsbefürwortern“), wie er sie damals nannte, Zugeständnisse zu machen. (…)
Warum mussten all die nationalistischen Ambitionen, die an den Rändern des ehemaligen Reiches stetig wuchsen, als Großfürsten befriedigt werden? (…) Dafür gibt es eine Erklärung. Nach der Revolution war es das Hauptziel der Bolschewiken, um jeden Preis, absolut um jeden Preis, an der Macht zu bleiben. Deshalb akzeptierten sie alles: die demütigenden Bedingungen des Friedens von Brest-Litowsk [im März 1918], (…) aber auch alle Forderungen, alle Wünsche der Nationalisten innerhalb des Landes selbst. Aus der Perspektive des historischen Schicksals Russlands und seiner Völker waren die leninistischen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht nur ein Fehler; sie waren, wie man so schön sagt, viel schlimmer als ein Fehler. Und das wurde nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 vollends sichtbar.“
Diese Rede spiegelt den großrussischen Chauvinismus und den imperialistischen Revanchismus wider. Sie zeigt auch, und damit zusammenhängend, eine vollständige und explizite Absage an die russische Oktoberrevolution von 1917, an die UdSSR Lenins und Stalins und an die KPdSU. Wenn einige noch Verwirrung stiften und glauben machen wollen, dass es eine Kontinuität zwischen der Sowjetunion von gestern und dem heutigen Russland gibt, dann ist mit einer solchen Rede die Debatte beendet! Wir werden nicht auf die Machtübernahme durch die Bolschewiki im Oktober 17 eingehen, die er als „Putsch“ und „Staatsstreich“ bezeichnete, noch auf den Gegensatz zwischen Lenin und Stalin in Bezug auf die Nationalitätenpolitik, den er anführt, sondern wir wollen auf den Inhalt eingehen, d. h. auf die Politik der UdSSR gegenüber den ehemaligen zaristischen Besitzungen und den verschiedenen Nationalitäten, die das Reich bildeten. Wir erinnern uns: Diese Gebiete waren echte Kolonien, ausgeplündert und unterdrückt, Opfer des großrussischen Chauvinismus; Stalin bezeichnete das Reich zu Recht als „Völkergefängnis“.
Kurzer historischer Rückblick
Eines stimmt: Jahrhundertelang gehörte die Ukraine zu verschiedenen Staaten: dem Königreich Polen, dem Russischen Reich, der Habsburger Monarchie….. Die Grenzen der Ukraine waren lange Zeit fließend, da das Gebiet von den verschiedenen europäischen Mächten beansprucht wurde.
Es war die Februarrevolution von 1917, die das Zarenreich stürzte und in der Ukraine eine bürgerlich-nationalistische Regierung an die Macht brachte, die ihre Unabhängigkeit proklamierte, die Rada. Doch die Oktoberrevolution, die die Bourgeoisie vertrieb und die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei an die Macht brachte, sollte sehr schnell die gesamte Reaktion gegen sich entfesseln. Die ukrainische Rada rief Deutschland (das sich noch im Krieg befand) zu Hilfe, um gegen die am 19. März 1918 im Osten der Ukraine gegründete Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik vorzugehen. Deutschland besetzte den westlichen Teil bis zu seiner Niederlage im November 1918. Danach organisierten sich die Weißen Armeen von Koltschak und Denikin (1), die vom westlichen Imperialismus, darunter Frankreich, unterstützt wurden, in der Ukraine und versuchten, die Sowjetmacht zu stürzen. Erst 1922, als die Weißen Armeen endgültig besiegt, der Bürgerkrieg beendet und die Sowjetmacht gefestigt war, unterzeichnete die Ukraine (wie Weißrussland und Transkaukasien) am 30. Dezember 1922 einen Vertrag, der sie mit der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) zur UdSSR, d. h. zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, vereinigte. Am 31. Januar 1924 wurde die Verfassung der UdSSR ratifiziert, die die jeweiligen Befugnisse der Republiken und der Union festlegte (2).
Die bolschewistische Nationalitätenpolitik
Die Bolschewiki hatten bereits vor ihrer Machtergreifung die Gleichheit und Souveränität der Völker, das Recht auf Selbstbestimmung, auf Föderation bis hin zur Sezession in ihr Programm aufgenommen. Die Sowjetmacht gewährte den Nationalitäten, insbesondere den ukrainischen Völkern, das Recht, sich in einer Republik mit sehr weitreichenden Befugnissen zu organisieren, die jedoch eng mit der Zentralmacht der Union verbunden war, weil sie die von ihnen vertretenen Ideen in die Praxis umsetzten.
Für Putin ist dies die Ursünde der Bolschewiki, die Ursache für den Zerfall der UdSSR und ihren Verlust an Größe. Und diese Ursünde, die er als „demütigende Zugeständnisse“ bezeichnet, erklärt er damit, dass die Bolschewiki „um jeden Preis an der Macht bleiben“ wollten. In diesem Punkt hat Putin völlig Recht: Ja, die Revolutionäre kämpften mit Hingabe, Heldenmut und unter unerhörten Opfern, um die Macht zu behalten, d.h. eine proletarische Macht zu errichten, die die Voraussetzung für die Errichtung eines sozialistischen Staates ohne Ausbeuter, für die Überwindung von Elend und Krieg war. Ja, sie akzeptierten dafür den “demütigenden“ Frieden von Brest-Litowsk. Aber nein, es waren keine demütigenden Zugeständnisse, die sie den Ukrainern und den anderen Völkern und Nationalitäten Russlands gemacht haben. Sie setzten ihr politisches Programm um, um eine feste Einheit zwischen den verschiedenen Völkern, die das Territorium Russlands bildeten, herzustellen. Nur die Sowjetmacht gab den ukrainischen Völkern eine so große, so umfassende Freiheit, indem sie es der Ukrainischen Republik im Rahmen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ermöglichte, ihre Sprache, Kultur und Wirtschaft wiederzufinden und weiterzuentwickeln… Wenn die Einheit zwischen den sozialistischen Sowjetrepubliken zerbrochen ist und in den 1990er Jahren zum Zerfall der UdSSR geführt hat, dann nicht wegen der sozialistischen Macht, sondern wegen der Degeneration der Sowjetunion, ihrer schleichenden Bürokratisierung und schließlich der Umwandlung des sozialistischen Charakters der Sowjetmacht in die Macht einer neuen Bourgeoisie mit der Übernahme der UdSSR durch N. Chruschtschow im Jahr 1960. Solange die UdSSR ihren sozialistischen Charakter behielt, hatten die Arbeiterklasse und die Völker der Sowjetunion einen festen Kitt der Einheit: Sie übten über den Unionssowjet und die Nationalitätensowjets die Macht aus, die eine Politik zur Befriedigung ihrer materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse entwickelte. Die Rückkehr zum staatsmonopolistischen Kapitalismus in der UdSSR und damit zur Ausbeutung und all ihren Begleiterscheinungen, einschließlich des großrussischen Chauvinismus, war der tiefere Grund für den Zerfall der Union.
1) Die so genannten „Weißen Armeen“ waren diejenigen, die gegen die Rote Armee und die Sowjetmacht kämpften. Sie vereinigten unter dem Banner der ehemaligen Generäle der zaristischen Armee diejenigen, die von der Revolution und den ersten Maßnahmen der Bolschewiki enttäuscht worden waren: Grundbesitzer, Kulaken und andere Bürgerliche.
2) Der vollständige Text dieser Verfassung russisch/deutsch: http://www.verfassungen.net/su/verf24-i.htm
(Übersetzung aus „La Forge“ Nr. 03/2021 – Zeitung der PCOF; Hinweis auf den Verfassungstext von A Z)