Zur Verfassungsdebatte

Verfassungsfragen sind Machtfragen! Verfassungen regeln nichts geringeres
als die Herrschaftsausübung der in der Gesellschaft Herrschenden.
Wer im Staate darf was ? Welche Rechte billigt die herrschende Klasse
den Beherrschten zu, welche nicht? Welche Lasten haben letztere zu tragen?
Wie ist der Staatsapparat organisiert?.
Verfassungsfragen gehen schon allein deswegen alle an! Auch wenn sie in
dieser Gesellschaft nicht die Macht haben.

Dem
gegenüber ist es erstaunlich, dass in der Öffentlichkeit relativ
unbemerkt “Der Spiegel” eine Debatte über das Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland begonnen hat. Der Titel der Geschichte:
“Die verstaubte Verfassung”
Wer diese Diskussion führt, daran besteht kein Zweifel. Unter anderen:
Hans Olaf Henkel, früherer Chef des Bundesverbands der Deutschen
Industrie, Jürgen Kluge, Chef der Unternehmensberatung McKinsey Deutschland
und der rechte Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi. Sie sorgen im “Spiegel”
für klaren Klassencharakter. Hier stellt die Bourgeoisie, die Klasse
der Kapitalbesitzer, stellen Vertreter der Herrschenden selbst die Fragen.

Man denkt also öffentlich darüber nach, ob man nicht angesichts
der offensichtlichen Krisenerscheinungen der kapitalistisch-imperialistischen
Gesellschaft Deutschlands Hand an die Verfassung legen sollte. Arbeitshypothese:
Die Krise kann mit der gegenwärtigen Verfassung nicht bewältigt
werden.
Machen wir uns nichts vor. “Der Spiegel” ist nicht irgendein
Blatt. Es ist eines der wichtigen Presseorgane der in diesem Lande Herrschenden,
in gewissem Sinne das Organ, das diese bürgerliche Republik geradezu
repräsentiert. Hier wird gesät, und man wird mit Sicherheit
die Früchte ernten wollen!

Aber interessanterweise wird die Verfassungsfrage gleich noch ein zweites
Mal gestellt. Denn gerade hat der Verfassungskonvent der EU unter dem
Vorsitz von Valerie Giscard d´Estaing den Entwurf zu einer “Europäischen
Verfassung” präsentiert. Die Staats- und Regierungschefs der
EU haben auf ihrem Gipfel in Thessaloniki (Porto Karras) im Juni 2003
diesem weitgehend zugestimmt.
Das Europa der Monopole nimmt Gestalt an. Man will einen hauptamtlichen
Ratspräsidenten. Damit wird eine der letzten Eingriffsmöglichkeiten
der kleineren EU-Staaten, nämlich die halbjährlich unter allen
Mitgliedsstaaten wechselnde Ratspräsidentschaft, beseitigt. Man will
einen EU-Außenminister und ein stark ausgeweitetes Mehrheitsprinzip
bei zwischenstaatlichen Abstimmungen. Hier wollen sich die größeren
Mächte, die stärksten Monopolverbände, gegen die schwächeren
durchsetzen., wollen sich neue Möglichkeiten schaffen, diese zu beherrschen.
Allerdings, da machen wir uns nach den Erfahrungen im Umfeld des Irak-Krieges
nichts vor: Da wird Herr Bush mit Sicherheit noch ein Wörtchen mitreden
und “seine neuen Freunde“ in Europa in Stellung bringen wollen.
Wir sind stets gegen diese europäische, monopolistische Großmacht
aufgetreten und werden dies weiter tun. Um so mehr, wenn man daran denkt,
wie hier ohne Befragen der Völker, also auch gegen sie, grundsätzliche
Staatsfragen berührt werden:

  • Wollen wir überhaupt eine EU bzw. einen Europastaat?
  • Was haben die Völker überhaupt zu sagen?
  • Was darf das Europaparlament? Gibt es eine europäische Regierung?
  • Was ist zukünftig die Bundesregierung, was eine Landesregierung,
    was der Bundestag, was der Bundesrat?

Wenn ein “vereintes Europa“ verfasst werden soll, steht die
Volkssouveränität in Deutschland – wie in den anderen Ländern
Europas – in Frage. Warum sind nicht wir, die Bürger/innen, einbezogen?
Warum wohl wurden nur in Berlin oder Straßburg (Europaparlament)
ausgekungelte Damen und Herren in den Verfassungskonvent entsandt? Unser
Standpunkt ist klar: Wir sind gegen ein imperialistisch vereintes Europa.
Es ist reaktionär!

Die Europaverfassung füllte in den letzten Wochen alle Medien. Verschließen
wir aber nicht die Augen vor der anderen Verfassungsdebatte. Der Zeitpunkt
kann kaum Zufall sein, wenn der Spiegel gerade jetzt auch deutsche Verfassungsfragen
aufwirft. Bestimmte Kreise der deutschen Bourgeoisie denken offensichtlich:
Wenn schon Verfassungsfragen auf der Tagesordnung, dann wird auch das
Grundgesetz gleich mit entrümpelt!

Die Interessen der Arbeiter/innenklasse sollten deshalb in dieser Debatte
vertreten sein. ARBEIT ZUKUNFT sollte sich dieser Aufgabe stellen.
Das Grundgesetz ist keine heilige Kuh! Sie ist die Verfassung eines kapitalistischen
und imperialistischen Staates. Die herrschende Klasse in Deutschland hat
selbst ihre Verfassung immer wieder in Frage gestellt, während sie
dies den Werktätigen und ihren Vertreter/innen stets untersagte.
Erinnert sei an die Berufsverbote der 70iger Jahre!

Heute wird das Grundgesetz als veraltet und damit grundsätzlich
in Frage gestellt. Die Bourgeoisie erkennt in den Bestimmungen der Verfassung
ein wesentliches Hindernis ihrer Reformprojekte. Kostensenkung, Modernisierung,
Effizienz, Begriffe, die heute alle Arbeiter/innen und Angestellten in
jedem x-beliebigen Betrieb kennen, sollen analog auch im Staatswesen Anwendung
finden. So wird zugleich auch der grundsätzliche Rang der gegenwärtigen
“Reformpolitik“ der Bundesregierung herausgestellt. Diese, vor
allem aber zukünftige Reformen sind so wichtig, dass dafür sogar
die Verfassung geändert werden könnte!

Schlüsselbegriffe der neuen Debatte machen das deutlich: Bundesländer
sollen in Wettbewerb treten, der “ausufernde Rechtsstaat“ (so
tatsächlich im Spiegel!! Hat man dort die Spiegelaffäre vergessen?!)
behindere die “Flexibilität” der Gesellschaft etc.
So wie jede Restrukturierung in Betrieben die Rechte und die Stellung
der Beschäftigten in Frage stellt und die Frage des organisierten
Widerstandes aufwirft, so auch diese Verfassungsdebatte!

Einen Schwerpunkt der Spiegel-Kampagne bildet ein ebenso schamloser wie
verlogener Angriff auf das Koalitionsrecht, also auf die Grundrechte der
Arbeitenden, ihrer Gewerkschaften, der gewerkschaftlichen Organisation!!
Er wird getarnt als Versuch, die Rechte der Kapitaleigner auf Koalition
genauso zu beschränken wie die der Arbeitnehmer. Im Spiegel heißt
es:
“Die Tarifautonomie von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden
kann nicht vorbehaltlos gewährleistet bleiben. Regierung oder Parlament
muss die Möglichkeit bekommen, gegen maßlose Abschlüsse
ein Veto einzulegen.”(Spiegel 22/2003, S. 66).
Dies muss man sich Wort für Wort auf der Zunge zergehen lassen. Das
ist die Logik des berühmten französischen Bonmots “Es ist
Armen und Reichen gleichermaßen verboten, unter den Brücken
von Paris zu schlafen!”, welches die Heuchelei geißelt, die
darin liegt, dass in Wirklichkeit allein die Rechte der Arbeitenden und
Machtlosen gemeint sind.

“Der Spiegel” stellt die Situation der Gewerkschaften geradezu
als übermächtig hin, während das arme Kapital schon im
Grundgesetz Beschränkungen hinnehmen müsse. Die Einschränkung
der Tarifautonomie durch den Staat berührt das Kapital aber gar nicht,
ja sie nützt ihm. Denn das Kapital hatte noch nie Probleme, in Regierung
und Parlament genügend Sachwalter seiner Interessen zu finden! Immerhin
aber träte der Klassencharakter des Staates sehr offen zu Tage. In
Wirklichkeit schlüge diese Maßnahme der Arbeiterklasse ein
wesentliches Recht aus der Hand. Nicht genug damit, dass es in der Verfassungswirklichkeit
bekanntlich nur ein auf Tarifrunden beschränktes Streikrecht gibt,
während die Aussperrung frei ist! Auch die Früchte dieses eingeschränkten
Rechtes sollen zukünftig unter Verfassungsvorbehalt stehen. Ist eine
erfolgreiche Tarifrunde zukünftig verfassungsfeindlich?
Auch sonst beweisen die Akteure, dass sie selbst zu reaktionärsten
Konsequenzen neigen! Vorschläge wie

  • Einschränkungen der Grundrechte,
  • Beschränkung der “Rechtsstaatsgarantien”

zeigen, dass sich die herrschende Klasse der Last der Volksansprüche
zu entledigen sucht. Das Bürgertum, die Bourgeoisie, historisch die
angebliche Führerin des demokratischen Volkes (in Deutschland war
sie es nie!)ist jetzt offen auf dem Weg zur legalen Unterdrückerin
des Volkes. Lenin bereits wies 1914 auf die Tendenz des Imperialismus
zur Reaktion hin, und hier wird diese in klassischer, grundsätzlicher,
auf die Verfassung bezogener Weise sichtbar!

Wenn das Kapital die Verfassung grundsätzlich in Frage stellt, ist
auch das berüchtigte Verfassungstreuegebot für die Massen der
arbeitenden Menschen und ihre bewussten Vertreter gegenstandslos! Die
Arbeiterklasse sollte also ihre eigenen Verfassungsforderungen offen zur
Debatte stellen und an die Gesellschaft richten!
Eine Partei der Arbeiterklasse in Deutschland, wie wir sie dringend brauchen,
sollte dies auch deshalb tun, weil sie zur Zeit nicht die Machtfrage im
Staate stellen kann. Kommunisten, bewusste Vertreter der Interessen der
Arbeiterklasse, haben zwar klare Vorstellungen für die revolutionäre,
grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft zu einer kommunistischen
Gesellschaft. Das darf aber nicht heißen, dass sie dann zu schweigen
hätten, wenn eine bürgerliche Verfassungsrevision losgetreten
wird. Auch für eine bürgerliche Verfassung hat die Partei der
Arbeiterklasse ihre Forderungen.

Verfassungen enthalten Fragen historischer Tragweite. Das Grundgesetz
der BRD von 1949 ist ein sogar im bürgerlichen Sinne oftmals reaktionäres
Konstrukt. Die neue Debatte sucht im scheinbaren Gegensatz dazu nach einem
Image von Modernität und Fortschritt. Aber es kommt noch reaktionärer
heraus! Um so mehr muss klar sein, dass der reaktionäre Charakter
des Grundgesetzes auch für die Partei der Arbeiterklasse strategisch
wichtig ist. Unsere Partei hat auch innerhalb des Kapitalismus Deutschlands
noch Aufgaben:

  • Einem Rückfall hinter bereits erreichte bürgerlichen Standards
    darf sie nicht tatenlos hinnehmen.
  • Solange der Kapitalismus herrscht, tritt sie auch in dessen Rahmen
    für alles ein, was den Klassenkampf offener und freier gestaltet,
    gegen alle reaktionären Beschränkungen, gegen alle Bestimmungen,
    hinter denen sich Reaktion verschanzen kann.
  • Wenn offensichtlich reaktionäre Positionen des Grundgesetzes,
    oder unter seinem Schutz stehende reaktionäre Zustände (z.B.
    Blockadestellung der Bundesländer, Berufsbeamtentum, Dreigliedrigkeit
    der Schule/Bildungshoheit der Länder, privilegierte Stellung der
    christlichen Kirchen im Staat und nicht zuletzt in der Schule, Blutrecht
    , Ausländerunterdrückung) schon im Kapitalismus fortgeschritteneren
    bürgerlichen Regelungen Platz machen würden, kann das nicht
    schaden. Es ist zwar in hohem Maße unwahrscheinlich, dass solche
    Forderungen unter den Bedingungen eines immer wilderen und sich zunehmend
    brutalisierenden Kapitalismus verwirklicht werden können. Trotzdem
    müssen sie erhoben werden. Sie dienen nicht zuletzt dazu, die Partei
    der Arbeiter/innen zu sammeln. Sind diese Forderungen wirklich fortschrittlich,
    dann enthalten sie schon mindestens keimhaft Grundzüge einer neuen,
    sozialistischen Gesellschaft.
    Wir stellen deshalb unbeschadet der weiterreichenden Ziele unseres kommunistischen
    Programms folgende Forderungen in der aktuellen Verfassungsdebatte zur
    Diskussion. Beginnen wir, unsere revolutionären Grundsätze
    auch in der kapitalistischen Realität zu verfolgen!
    Keineswegs ist dieser Katalog vollständig. Er wurde leicht untergliedert,
    um Schwerpunkte zur Diskussion stellen. Diese soll offen sein. Hier
    die Vorschläge:

1.Uneingeschränktes Streikrecht und Koalitionsrecht!
2.Unverzügliche Beseitigung des Beamtenrechts, normale Beschäftigungsverhältnisse
mit uneingeschränktem Streik- und Koalitionsrecht für die staatlichen/öffentlichen
Beschäftigten!
3.Recht auf einen Normalarbeitstag von 7 Stunden sowie auf einen für
die gesamte Gesellschaft gemeinsamen weitgehend freien Sonntag!

4.Gleiche Rechte für Zuwanderer! Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft!
5.Abschaffung des so genannten Blutrechts! Wer in Deutschland geboren
wird, hat die deutsche Staatsbürgerschaft.

6.Gleiches Recht auf Bildung für alle Jugendlichen!
7.Öffentliches, einheitliches, 10jähriges, kostenloses Schulwesen
für alle Jugendlichen. Danach freiwillige, kostenlose, frei zugängliche
gymnasiale Oberstufe!. Vollständige Beseitigung des dreigliedrigen
Schulwesens. Einbeziehung der Produktion und der modernsten Technologie
in den Unterricht.!
8.Beseitigung der Bildungshoheit der Länder, Bildungshoheit des Bundes!
9.Weltliche Schule, kein Religionsunterricht an Schulen!

10.Einheitliches, auf einer gemeinsamen Kasse beruhendes Sozialversicherungswesen
für Altersversorgung/Rente, Arbeitslosigkeit, Gesundheitsschutz!

11.Beitragspflicht für ausnahmslos alle Bürger/innen.

12.Schutz von Genomen, Verbot der Gen-Manipulation!
13.Verbot von Gen-Patenten, entschädigungslose Aufhebung bereits
vergebener Genpatente!

14.Uneingeschränktes Recht auf Volksinitiative, Volksbegehren und
Volksentscheid auf allen Ebenen!
15.Besoldung aller Abgeordneten nach mittleren Gehaltsgruppen eines anerkannten
Tarifvertrages, Besoldung der Minister in Höhe höherer Tarifgehälter.
Keine Ruhe- und Übergangsgehälter für Abgeordnete und Minister.
Öffentliche Steuererklärung aller Abgeordneten!
16.Weg mit der 5%-Klausel bei Wahlen!
17.Beseitigung jeglicher Förderung der Parteien aus Steuergeldern!
18.Beseitigung aller Fraktionsprivilegien im Bundestag. Gleichberechtigung
aller Abgeordneten!

19.Niederlassungspflicht und Körperschafts-/Gewinnsteuerpflicht
für jede in Deutschland tätige Kapitalgesellschaft!

20.Verbot nationalsozialistischer, rassistischer und faschistischer Propaganda
und aller entsprechenden politischen Parteien und Gruppierungen.

21.Konsequente Trennung von Kirche und Staat, Beseitigung des Kirchensteuerprivilegs
der evangelischen und katholischen Kirche! Keinerlei Bevorzugung irgendeiner
Religionsgemeinschaft.

22.Reine Verteidigungsarmee mit allgemeiner Wehrpflicht, Verbot von allen
Auslandseinsätzen

23.Eine Europaverfassung nur durch eine europaweit frei, unmittelbar
und geheim gewählte konstituierende Versammlung! Recht auf Volksabstimmung
über die EU-Mitgliedschaft

Führen wir die Diskussion. Schaffen wir die Voraussetzung für
die selbständige politische Aktion der Arbeiter/innenklasse und aller,
die diese Ziele unterstützen, in dieser Gesellschaft!

(Leserbriefe folgen in Kürze)