Die 12.000 Jahre alte Fundstätte Göbekli Tepe: War die Religion die Triebkraft der Geschichte?

Relief auf der raumzugewandten Seite von Pfeiler 2 mit mehreren Tieren (Stier, Fuchs, Reiher?), Autor Teomancimit, CC-Lizenz

Ende 1994 entdeckte der 2014 verstorbene deutsche Archäologe Dr. Klaus Schmidt in der Nähe der kurdischen Stadt Urfa auf dem Göbekli Tepe („gebauchter Berg“) Überreste einer Steinzeitkultur. Es wurde mit Grabungen begonnen und eine Sensation entdeckt:
Man fand Überreste von enormen Bauten, offensichtlich Versammlungsstätten, die fast 12.000 Jahre alt sind. Vergleichbare Bauten waren bisher erst ca. 6.000 Jahre später mit der Gründung der ersten bekannten Städte im Zweistromland und Palästina und noch später in Ägypten, Malta, Kreta usw. bekannt. Insofern stürzen die Funde vom Göbekli Tepe die gesamte bisherige Geschichtsschreibung um. Hatte man doch bisher gedacht, dass Hochkulturen erst mit der Entwicklung sesshafter, bäuerlicher Kulturen, dem Anbau von Getreide und der Tierzucht möglich wurden. Man nahm an, dass erst dann die Gesellschaften die Fähigkeiten und Möglichkeiten hatten, solch komplizierte und aufwändige Werke zu vollbringen.
Und nun entdeckt man mit Göbekli Tepe, dass es schon lange zuvor eine Hochkultur gab, die Grandioses leistete, wenn wir bisher auch nur einen Bruchteil darüber wissen. Denn bis jetzt sind laut Wikipedia erst 1,5% des Geländes ausgegraben. Andere Quellen gehen von bis zu 5% aus. Das bedeutet, dass mit dem Fortschreiten der Ausgrabungen weitere Überraschungen, aber auch Erklärungen für die Funde folgen können.
Gesamtansicht des Grabungsfelds mit den Anlagen A–D, Zustand 2011, Autor Teomancimit, CC-Lizenz

Doch von Anfang an wurde heftig über die Bedeutung dieser Funde spekuliert. Tatsächlich muss durch sie die Geschichte der Menschheit in Teilen umgeschrieben werden. Bisherige Annahmen (oder sollte man besser Spekulationen sagen) sind gefallen. Archäologisches Material reizt immer zu Spekulationen. Man kann nämlich immer nur das wissen, was man entdeckt hat. Das, was unentdeckt unter der Erde liegt oder gar durch Verfall bzw. Zerstörung oder Weiterverwendung verloren gegangen ist, kann man eben nicht wissen. Von daher können unsere Annahmen über die Geschichte der Menschheit jederzeit durch neue Entdeckungen über den Haufen geworfen werden und müssen dann dem immer vorläufigen Wissen entsprechend abgeändert werden.
Dazu muss berücksichtigt werden, dass immer nur dort etwas gefunden wird, wo man sucht und gräbt. Archäologie ist daher oftmals sehr einseitig aus westlicher, eurozentristischer Sichtweise betrieben worden und hat auch entsprechende Ergebnisse erbracht. In weiten Teilen Asiens und Amerikas ist niemals systematische Forschungsarbeit gemacht worden. Hier gibt es noch viel Unentdecktes. Es wird also wohl noch eine Weile dauern, bis man sich ernsthaft an eine – dann immer noch lückenhafte – Geschichte der Menschheit heran machen kann.
Dr. Klaus Schmidt, der sich mit der Entdeckung und dem Beginn der Ausgrabungen von Göbekli Tepe große Verdienste erworben hat, hat jedoch bei der Interpretation dieser Funde äußerst gewagte Hypothesen aufgestellt. Hatte man selbst in der bürgerlichen Geschichtsschreibung bisher angenommen, dass die Bildung von Hochkulturen durch Veränderungen in der Produktion ermöglicht wurde, erklärte Schmidt, dass bei der Erschaffung von Göbekli Tepe die Religion der Antrieb gewesen sein müsse und nicht die besseren Produktivkräfte. Denn es habe ja keine Veränderung stattgefunden. Es habe ja zu dieser Zeit immer noch eine Gesellschaft der Jäger und Sammler mit nomadischem Charakter bestanden. Die Versammlungsstätten von Göbekli Tepe hätten religiösen Charakter, also habe die Religion den Antrieb gegeben sich zu versammeln und etwas derartiges zu erbauen. Erst damit seien dann gesellschaftliche Veränderungen wie die Entwicklung einer bäuerlichen Kultur möglich geworden. (siehe N24: https://www.welt.de/geschichte/article130440052/Entdecker-des-aeltesten-Tempels-ertrinkt-vor-Usedom.html) Das ist kühn und würde bei konsequenter Weiterführung das Ergebnis haben, dass nicht etwa die ökonomische Entwicklung der Hauptgrund der Entwicklung ist, sondern die Ideen, insbesondere religiöse.
Nun, so einfach ist es dann doch nicht!
Erstens: Es sind erst 1,5 bis 5% der Fläche ausgegraben. Daraus so weitgehende Schlussfolgerungen zu ziehen, ist reine Spekulation.
Auf dem Pfeiler sieht man plastisch heraus gearbeitet ein Raubtier (Fuchs oder Wolf?). Foto 2008, lizenzfrei, Wikipedia

Zweitens: Die Bauten von Göbekli Tepe erforderten eine ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte, ohne die diese gar nicht hätten erstellt werden können. Für das Herauslösen riesiger T-Kopf-Pfeiler von bis zu 7 Metern Höhe aus einem Steinbruch, deren Bearbeitung, Transport und Aufstellen benötigte man viel Wissen und Können, also eine Entwicklung der Produktivkräfte. Auch die Freistellung und Ernährung von tausenden Arbeitskräften, die für die Errichtung der Bauten nötig waren, erforderten eine Entwicklung der Produktivkräfte, die es ermöglichte, über die Erwirtschaftung des zum täglichen Überleben Notwendigen, ein Mehrprodukt zu erzielen, Vorräte anzulegen, zu konservieren. Darüber hinaus war eine gesellschaftliche Organisierung weit über die Grenzen eines kleinen Clans nötig, die gemeinschaftliches Arbeiten und Wirtschaften ermöglichte.
Man konnte die Möglichkeiten einer solchen Wirtschaftsweise am Ende des Stadiums der Sammler und Jäger bei vielen Indianerstämmen Nordamerikas, aber auch in anderen Teilen der Welt studieren. Viele Indianerstämme trafen sich regelmäßig zu Versammlungen, wo tausende zusammenkamen. Diese Versammlungen dienten dem wirtschaftlichen und geistigen Austausch. Hier wurde gehandelt, Verbindungen geknüpft. Hier wurden Informationen über Tiere, Bedrohungen durch andere Stämme weitergegeben Es wurde Wissen, neue Techniken und Erfindungen weitergegeben. Man lernte voneinander. Häuptlinge trafen sich, um miteinander zu verhandeln. Es wurde gemeinsam Gericht abgehalten und Streitigkeiten geregelt. Medizinmänner und Weise heilten mit ihrem Wissen und Können Krankheiten. Es wurden auch gemeinsame religiöse Handlungen vorgenommen. Das gehörte zur Lebenswelt dieser Menschen dazu. Es war ein Teil, aber nicht die Haupttriebkraft für das Zusammenkommen. Dieses Zusammenkommen stellte eine ungeheuren Vorteil für das Überleben aller und die Weiterentwicklung dar. Eine kleine Gruppe, völlig auf sich gestellt, hätte vielleicht überleben können. Aber im Verbund ging es eben besser. Das war der entscheidende Vorteil!
Göbekli Tepe könnte daher gerade ein solcher Versammlungsort einer bereits hoch entwickelten Gesellschaft von Sammlern und Jägern am Übergang zu einer bäuerlich-sesshaften Wirtschaftsweise gewesen sein. Das ist zumindest vielfach wahrscheinlicher, als dass es ausschließlich ein Ort für religiöse Handlungen gewesen ist.
Diese Mischung hat sich übrigens fortgesetzt. Im römischen Reich waren Tempel oft direkt umgeben von Geschäften. Priester und Heiler waren dort, um Kranke zu heilen. Und die Orte für religiöse Handlungen, Geschäfte, Volksversammlungen, Gerichtsverhandlungen usw. waren architektonisch sehr ähnlich (eben für Versammlungen), oftmals gemischt genutzt oder auf einem Gelände eng miteinander verbunden. Warum sollte das in Göbekli Tepe anders gewesen sein? Warum sollte es allein ein Ort der Anbetung der Götter gewesen sein?
Drittens:In der Nähe von Göbekli Tepe gibt es frühe steinzeitliche Siedlungen wie beispielsweise Nevalı Çori, das  kurz nach den ersten Bauten in Göbekli Tepe entstand. Es gab also rasch erste feste Ansiedlungen von Menschen in dieser Region. Und wahrscheinlich gab es sie auch schon davor, ohne dass sie erhalten oder bis jetzt gefunden worden sind. Das heißt, diese Menschen müssen bereits so gewirtschaftet haben, das zumindest für einen Teil von ihnen ein sesshaftes Leben möglich war. Es wäre möglich, dass es bereits erste primitive Landwirtschaft gab oder dass bereits so ein Mehrprodukt erzielt wurde, dass eine erste Form der Arbeitsteilung möglich wurde, wo Handwerker in festen Siedlungen wohnten. Vieles ist noch nicht erforscht, und es gibt daher einen breiten Raum für Spekulationen. Aber es ist klar, dass es bereits ökonomische Entwicklungen gab, die eine höhere Wirtschaftsweise und damit ein anderes Leben ermöglichten.
Das ermöglichte übrigens auch eine bessere Beobachtung der Natur, des Himmels und damit eine Ansammlung von Wissen, was wiederum die Entwicklung beschleunigte und die Gesellschaft veränderte. In Verbindung damit entwickelten sich auch immer stärker besonders herausgehobene Funktionen wie Schamane, Priester, Stammesführer und damit schrittweise Ansätze für eine zukünftige herrschende Klasse.
Viertens: Mit Glauben kann man keine Berge versetzen und auch keine 50 Tonnen schwere Pfeiler transportieren. Dazu benötigte man Arbeitskraft, Wissen und Können. Glaube ist aber kein Wissen, sondern Glaube. Man kann an vieles glauben und die Menschen haben im Verlauf ihrer Geschichte an vieles geglaubt. Glaube ist das Gegenteil von Wissen. Da, wo das Wissen nicht reicht, wird geglaubt, manchmal sogar gegen das Wissen. So glauben in Deutschland die Menschen, das viel mehr Moslems hier leben als real vorhanden sind. Wenn man auch mit dem Glauben keine 50 Tonnen bewegen kann, kann er sehr wohl Einfluss auf die Entwicklung von Gesellschaften haben. Das sieht man an PEGIDA und Co., das sieht man auch an Glaubenskriegen und Glaubenskriegern, die allerdings für sehr menschliche und ökonomische Interessen ausgenutzt werden.
In einem Brief an Joseph Bloch hat Friedrich Engels am 21.9.1890 dargestellt wie komplex eine materialistische Auffassung der Geschichte die unterschiedlichen Aspekte der Entwicklung erfassen muss und dabei kein Platz für Einseitigkeiten ist:
Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökono­mische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die un­endliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leich­ter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades.“ (MEW, Band 37, S. 463)
Göbekli Tepe ist ein Beweis für die Richtigkeit dieser Methode, Geschichte zu analysieren. Die Sensation von Göbekli Tepe wird noch viele Jahrzehnte Wissenschaftler beschäftigen und zu heftigen Spekulationen und Diskussionen führen. Diese Diskussionen sind wichtig für das Verständnis der Geschichte der Menschheit, für das Verstehen der Entwicklung von Klassengesellschaften. Es ist klar, dass beim Übergang zur Sklavenhaltergesellschaft auch die Religion eine wichtige Rolle gespielt hat. Allerdings keine gute! Denn sie musste die Vernichtung der bis dahin Freien und ihre Versklavung mit göttlichem Willen und Segen rechtfertigen. Wie gesagt: Die Religion hatte dabei eine wichtige Rolle, aber die Haupttriebkraft waren Veränderungen in der Ökonomie, die die Herausbildung einer komplexeren Gesellschaft und einer herrschenden Ausbeuterklasse ermöglichten. Göbekli Tepe war ein erster Schritt auf diesem Weg.
dm

Neu: Mit einer Twitter-Stellungnahme des Archäologen Jens Notroff. Eine Antwort folgt.

Twitter-Meldung von Jens Nortroff, Archäologe in Göbekli Tepe