Deniz Uztopal *
Kurz nach den Pariser Anschlägen erklärten der Präsident Hollande und der Regierungschef Manuel Valls, dass „Frankreich im Krieg“ sei.
Nun versucht man zu verstehen, wie es zu diesen Anschlägen kommen konnte und was genau passiert war, obwohl doch in den letzten Jahren viele Antiterrorgesetze verabschiedet wurden. Demnach können Nachrichtendienste alles und jeden beobachten und ihnen stehen dafür unendlich viele technische Möglichkeiten zur Verfügung.
„Alle Bürger sollten verstehen, dass sich Frankreich nun in einem Krieg befindet“, mahnt Manuel Valls. Hollande brachte mit einer außerordentlichen Entscheidung den „Nationalen Kongress“ (Parlament und Senat treffen sich) zusammen, um die Gesetzte zur Sicherheit in Frankreich weiter zu verschärfen und Frankreichs militärisches Engagement in Syrien auf eine höhere Stufe zu bringen. Der „Nationale Kongress“ ist ein sehr selten tagendes Gremium, welches z.B. bei Grundgesetzänderungen oder Aufnahme eines Landes in die EU tagt. Insofern ist es wichtig, zu verstehen, warum dieses Gremium zusammenkommt und welche psychologische Atmosphäre in der Bevölkerung damit erreicht werden soll. Weiterhin wurde während des G20 Treffens in der Türkei eine Unterstützungszusage von Obama und anderen Staatschefs eingeholt.
Wer hat den Krieg begonnen?
„Frankreich ist im Krieg“. Im Januar 2015, am Folgetag der Anschläge auf „Charlie Hebdo“, sprach der Regierungschef: „Wir haben einen Krieg zu führen“. Gleich darauf stimmte der ehemalige Regierungschef und Chef der Opposition Nicolas Sarkozy ein: „Es wurde Frankreich und allen seinen Institutionen der Krieg erklärt.“ Man muss allerdings daran erinnern, dass nicht Frankreich der Krieg erklärt wurde. Frankreich hat seinerseits einen Krieg begonnen! Frankreich spielte und spielt immer noch eine aktive Rolle dabei, dass viele Regionen dieser Welt sich zur Zeit in blutigen Kämpfen befinden. Der Anlass hierfür war ganz sicher nicht der Anschlag auf Charlie Hebdo.
Frankreichs Kriege
Auch wenn wir alles vor der Jahrtausendwende mal außen vor lassen, befindet sich Frankreich, ebenso wie alle anderen imperialistischen Länder, in mehreren Kriegen. In einer Koalition, geführt durch die USA, hat Frankreich nach dem 11. September den Krieg „gegen den Terrorismus“ in Afghanistan unterstützt und aktiv teilgenommen. Al-Qaida, bis kurz davor noch Verbündeter, wurde nun der Krieg erklärt. Noch bevor die Wunden geheilt waren, begannen die USA Lügen über den Irak und Saddam zu verbreiten, um einen Grund zum Angriff zu haben. Im Falle des Iraks positionierte sich Frankreich im eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interesse gegen einen Angriff gegen den Irak. Die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich waren in der Zeit stark angespannt (Anm. d. Übers.: Stichwort „Altes Europa“). Dennoch kündigte Chirac damals an, dass er im Sicherheitsrat der UN von seinem Vetorecht Gebrauch machen würde, und die damalige Bush-Regierung verzichtete daraufhin auf die Unterstützung der UNO und griff den Irak im Alleingang an. Damit begann im Nahen Osten eine beispiellose Vernichtung der Gesellschaftsformationen und eine Phase der Neustrukturierung. Das war der Beginn eines Krieges gegen den „internationalen Terrorismus“.
Und was ist das Ergebnis? Viele Regionen im Nahen Osten und in Afrika befinden sich seit 14 Jahren ununterbrochen in einem Schlachtfeld. Nie zuvor gab es in diesen Regionen in einer ähnlich kurzen Zeitspanne ein so tiefgreifendes, schweres und historisches gesellschaftliches Leid. Es ist hier in diesem Zusammenhang nicht nötig, die Anzahl der getöteten Menschen zu nennen. Diese Zahlen zeigen nur einen Aspekt der Realität und sie steigen täglich um viele Hundert. Nur vielleicht um sich der Dimensionen klar zu werden: seit 2011 sind in Syrien über 250.000 Menschen umgebracht worden. Das heißt, täglich starben in Syrien durchschnittlich 150 Menschen. Und Frankreich trägt auch einen Teil der Verantwortung dafür, dass diese Tragödie in Syrien so ist.
Frankreichs Geschichte „im Kampf gegen den Terror“
Unstreitig ist, dass auch Frankreich seit 2001 einen Krieg „gegen den Terror“ führt. Dennoch zeigt die Zeit unter Jacques Chirac in der Außenpolitik und in vielen anderen Dingen, große Unterschiede zu den USA. Beispielsweise hatte Charles de Gaulle im Februar 1966 Frankreich aus der Leitung der NATO herausgenommen. Chirac war der Präsident, der diese Tradition weiter führte. Als Nicolas Sarkozy in 2007 Präsident wurde, war eine seiner Amtshandlungen, Frankreich wieder in die Leitung der NATO zu bringen. Der neue Präsident begann, die bereits laufenden Kriege zu verschärfen. Innen fuhr er eine konservative, außen eine höchst aggressive Linie.
Ab 2009 eine interventionistische Linie
Nach dem Wiedereinzug Frankreichs in die NATO-Leitung begann eine interventionistische Linie in der französischen Politik. Im damals schon laufenden Afghanistankrieg begann Frankreich, mehr militärische Verantwortung zu übernehmen. Auch in der ehemaligen Kolonie Elfenbeinküste aktivierte Frankreich seine militärischen Stützpunkte, als dort eine politische Krise begann. Als Hollande in 2012 gewählt wurde, führte er Sarkozys aggressive Außenpolitik weiter. Am 11. Januar 2013 mischte Frankreich Mali militärisch auf. Im selben Jahr im Dezember begann Frankreich eine militärische Maßnahme in der Zentralafrikanischen Republik. 2013 war Frankreich in den Startlöchern, um Syrien anzugreifen. Da aber Obama und Cameron sich zurückzogen, konnte Frankreich nicht eigenmächtig den Krieg gegen Assad beginnen. Als jedoch nur ein Jahr später die Instabilität in der Region, die Interessen der imperialistischen Länder zu bedrohen begann, fingen sie mit Frankreich gemeinsam an, den Irak zu bombardieren. Wenige Monate später entschied Frankreich, auch Syrien zu bombardieren.
Immer wegen Demokratie!
Ausnahmslos wurden diese militärischen Angriffe mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten begründet. Jedes Mal gab es einen „triftigen“ Grund, aber jeder Angriff trug dazu bei, dass die vorhandenen Probleme in den Regionen noch verstärkt wurden. Und in keinem der angegriffenen Länder wurden mehr Demokratie, Freiheit, Menschenrechte oder Frauenrechte erreicht. Jeder Angriff trug dazu bei, dass die staatlichen Strukturen der jeweiligen Länder und die nationale Zusammengehörigkeit geschwächt wurden. Denn die Interessen der imperialistischen Länder erfordern regelrecht eine nachhaltig instabile Situation in den betreffenden Ländern. Gleichzeitig fördert jedoch diese instabile Situation das Erstarken von terroristischen Organisationen. Diese terroristischen Organisationen sind in allen instabilen Ländern mittlerweile derart erstarkt, dass sie in europäischen Großstädten Anschläge verüben können.
Für die Konzerne läuft alles bestens
Nie zuvor gab es für die Waffenkonzerne so attraktive Bedingungen. Wenn wir uns nur auf die Umsätze von französischen Waffenkonzernen beschränken, sehen die Zahlen wie folgt aus:
2010: 5,1 Milliarden Euro
2011: 6,5 Milliarden Euro
2012: 4,8 Milliarden Euro
2013: 6,9 Milliarden Euro
2014: 8,2 Milliarden Euro
Das Jahr 2015 ist zwar noch nicht zu Ende, doch die Voraussagen für die diesjährigen französischen Waffenexporte belaufen sich auf einen Wert von 17 Milliarden Euro. 2015 hat Frankreich im Vergleich zu den Jahren davor historisch die meisten Waffen verkauft. Im internationalen Vergleich nimmt es nunmehr Platz zwei ein. Die Stammkunden sind hierbei Ägypten, Katar, Saudi Arabien und Indien. Auch wenn zweifelsohne die USA global immer noch der Aggressor und Waffenlieferant Nr. 1 sind, hat Frankreich in den letzten Jahren den Umsatz in Waffenverkäufen stark erhöht. In der Juli Ausgabe der Zeitschrift „Amerikan Defense“ werden in einer Rankingliste von 2014 die französischen Konzerne wie folgt aufgelistet:
Thales, Platz 12, 8,4 Milliarden Umsatz
Safran, Platz 20, 4,08 Milliarden Umsatz
DCNS, Platz 21, 4,07 Millarden Umsatz
Unter anderem diese Konzerne sind sehr zufrieden mit den Kriegen und instabilen Situationen in diversen Ländern. Es gilt nämlich: je mehr Kriege, desto mehr Umsatz. Folgerichtig sind diese Konzerne natürlich auch sehr zufrieden mit der Politik von Hollande.
Holland führt auch innenpolitisch Krieg
Wenn ein Land außenpolitisch Krieg führt, führt das unweigerlich auch zu bestimmten Notwendigkeiten innenpolitischer Art. Diese haben mindestens auf drei Ebenen Auswirkungen: wirtschaftlich, politisch und sozial. Die wirtschaftliche Seite stellt die Frage in den Raum, woher das Geld kommt, das im Krieg gebraucht wird. Jede abgeworfene Bombe, jede Munition hat einen finanziellen Wert. Dieser Wert wird aus dem staatlichen Haushalt ausgeglichen. In je mehr Kriege ein Land einbezogen ist, umso höher sind natürlich die militärischen Ausgaben. Um unter anderem diese Ausgaben bezahlen zu können, wurden umso mehr Sparmaßnahmen vorgenommen. Die staatlichen Ausgaben im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich wurden drastisch heruntergeschraubt. Das Budget der Kommunalhaushalte wurde für 2015/2016 ebenfalls stark reduziert. Die Prozentzahlen bei Armut, Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit sind auf ihrem Höhepunkt seit den letzten 30 Jahren. Das Budget des Verteidigungsministeriums wurde jedoch nicht angetastet. Auch die Steuerentlastungen für Konzerne wurden nicht angerührt.
Sämtliche sozialen Rechte werden zerstört
Ja, Frankreich ist draußen im Krieg. Es möchte nicht außen vor bleiben im Kampf der imperialistischen Länder. Dabei werden hunderttausende Menschen umgebracht, Millionen Menschen werden zur Flucht getrieben. Um dies alles stemmen zu können, wurde der Haushalt im Bereich der Bildung, Gesundheit, sozialen Systeme und Kultur auf ein Minimum reduziert. Das reicht bei weitem nicht. Deswegen wird das Alter für die Rente angehoben, flexible Arbeitszeiten und Zeitarbeit werden ausgedehnt. Arbeit am Sonntag wird immer mehr zur Regel. Arbeitsgesetze werden verändert, gewerkschaftliche Vertretungsmöglichkeiten werden immer mehr ausgehöhlt.
Der Krieg außen wird zum Argument im Klassenkampf
Ja, Hollande greift an und kämpft. Als Kämpfer seiner Klasse kämpft er außen gegen die unterdrückte Bevölkerung anderer Länder. Im eigenen Land hingegen kämpft er gegen die Arbeiterklasse. Der Kampf in anderen Ländern wird zum Argument im eigenen Land. Um in diesem Kampf erfolgreich zu sein, bedarf es der Schwächung der Arbeiterklasse im eigenen Land. Das beste Mittel hierbei ist es, sowohl innen als auch außen einen Feind zu schaffen. Der menschenfeindliche IS ist auch der Feind der Arbeiterklasse. Den IS zu vernichten und die Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich wegen religiöser Unterschiede nicht anfeinden, wäre zu Gunsten von allen Menschen der Arbeiterklasse. Der IS und andere religiöse Terrororganisationen haben die imperialistischen Länder selbst erschaffen. Es kann sein, dass Frankreich nicht unmittelbar dabei mitgewirkt hat. Jedoch ist Frankreich unmittelbar dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für das Entstehen der IS günstig waren. Auf der einen Seite gegen den IS zu sein, auf der anderen Seite Partner von Ländern wie Saudi Arabien, Türkei und Katar zu sein, mit ihnen wirtschaftliche und politische Vereinbarungen zu unterzeichnen und die Beziehungen zu ihnen zu stärken, trotz des Wissens, dass diese Länder den IS unterstützen, zeigt wie halbherzig der Kampf gegen den IS von Ländern wie Frankreich gemeint ist. Dies zeigt auch, dass die Existenz der IS die imperialistischen Länder im Grunde nicht wirklich stört. Aber wenn das Monster sich gegen die eigene Bevölkerung, gegen unschuldige Zivilisten wendet, dann, spätestens dann, müssten die Politiker doch Rechenschaft ablegen!
Auch im Inneren bedarf es eines Feindes
Auf der anderen Seite bedarf es auch im Inneren eines Feindes. Der ist auch schon identifiziert: Menschen mit muslimischem Glauben, Menschen anderer ethnischer Herkunft. Diese Menschengruppen, die mehrheitlich sowieso zu den am meisten diskriminierten und den ärmsten zählen, haben auch noch mit der Kolonialgeschichte Frankreichs ein Problem. Sie lehnen die Konsumgesellschaft ab, weil sie selbst mittellos sind. Sie machen Probleme in den Stadtteilen, weil sie keine bezahlte Beschäftigung haben. Weil sie keine Zukunftsperspektiven haben, verlassen sie die Schulen ohne Abschlüsse. Das sind jedoch alles Probleme, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung entstehen. Aber diese Menschen muss es geben, damit die Konzerne die Arbeiterklasse in Schach halten können. Deswegen werden auch die einfachsten Probleme nicht gelöst. Während beispielsweise die landesweite Arbeitslosigkeit bei 12% liegt, liegt sie in vielen Stadtteilen und Banlieues der oben genannten Minderheiten bei 45%.
Um wieder auf den Titel dieses Artikels zurückzukommen: Ja, Frankreich führt einen Krieg. Aber dieser Krieg ist nicht unser Krieg. Unser Ziel ist, dass die Menschheit in einer besseren Gesellschaft leben kann. Eine Gesellschaft, die nicht nach Religionen gespalten wird, eine Gesellschaft in der keine Feindschaften herrschen. Dafür muss der Imperialismus selbst gestürzt werden.
* Vorsitzender der DIDF-Frankreich, übersetzt von Serpil Dogahan