Ich riskierte es einfach, als ich von der für den nächsten Tag in Köln geplanten Demonstration gegen Erdogan erfuhr: ich ging gegen 10 Uhr zum Zentrum des Alevitischen Vereins Recklinghausen, wo vor einem Jahr aus ähnlichem Anlaß – dem Protest gegen die gewaltsame Niederschlagung der Gezi-Protestbewegung – der Bus abgefahren war. Und siehe da, ich hatte richtig vermutet, der Bus war gerade angekommen. Viele der anwesenden Türken und Kurden, Frauen, Männer und Kinder, erkannten mich wieder und begrüßten mich herzlich. Ich war damals der einzige deutschstämmige Teilnehmer gewesen und war es diesmal leider auch…
Schon vor zwei Jahren hatte es in Bochum Proteste von mehr als 10.000 Menschen gegeben, als Erdogan der Steiger-Award-Preis für seine angeblichen Verdienste verliehen werden sollte. Obwohl es damals zu mehreren getrennten Demonstrationen kam, weil die protestierenden Organisationen sich nicht einige konnten, konnte die Preisverleihung erfolgreich verhindert werden. Im vergangenen Jahr und auch in diesem Jahr haben dann gewissermaßen als neutrale Organisatoren die Aleviten die Planung übernommen mit dem Ergebnis, dass alle Organisationen gemeinsam demonstrierten und Meinungsverschiedenheiten keine Rolle spielten.
Nach Medienberichten gelang es Erdogan bei seinem Auftritt in der Lanxess-Arena, etwa 17.000 Anhänger anzulocken – seine Gegner waren da weitaus erfolgreicher: nach offiziellen Angaben kamen 45.000 Menschen zur Protestdemonstration und –kundgebung aus mehreren Ländern Europas zusammen, also etwa die dreifache Menge. Und die offiziellen Angaben werden da erfahrungsgemäß eher nach unten abgerundet…
Dafür bekam Erdogan zumindest in einigen Zeitungen mehr Platz als die Opposition, sie lobten sein Auftreten und sein Geschick, und das, obwohl er die angeblich einseitige Berichterstattung eben dieser Medien über das Bergwerks-„Unglück“ in Soma kritisierte. Die Demonstration der Erdogan-Gegner war diesen Medien – abgesehen von der Teilnehmerzahl – nur die Bemerkung wert, dass sie friedlich verlief, über den Inhalt kein Wort…
Mir fiel auf, dass während der mehrstündigen Demonstration durch die Kölner Innenstadt kaum Polizei zu sehen war. Von Demonstrationen z.B. gegen Nazi-Aufmärsche bin ich da etwas ganz anderes gewohnt. Man könnte direkt auf den Gedanken kommen, zwischen dem friedlichen Verlauf und dem kaum in Erscheinung-treten der Polizei bestünde ein Zusammenhang…
Gefreut hat mich, dass sehr viele auf der Demonstration mitgetragene Transparente und Schilder in deutscher Sprache waren, ebenso die gerufenen Parolen und Forderungen. Leider gab es jedoch keine (oder nur wenige ?) Flugblätter auf Deutsch. Da der Demonstrationszug durch die Innenstadt, durch belebte Straßen ging und viele Passanten dem Zug zuschauten, wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, sie durch deutsche Flugblätter ausführlicher über den Demonstrationsanlass zu informieren als durch kurze Parolen. In Zukunft – leider wird es ja noch oft die Notwendigkeit für solche Aktionen geben – sollte das besser gemacht werden.
Unter den Demonstrationsteilnehmern gab es eine ganze Reihe, die sich zum Zeichen des Protestes, der Trauer und der Solidarität mit den Opfern von Soma Bergarbeiterhelme aufgesetzt hatten. Immer wieder wurde der sofortige Rücktritt des Erdogan-Regimes gefordert. Zahlreiche türkische und kurdische Organisationen beteiligten sich solidarisch an der Demonstration und Kundgebung. Aus Syrien waren Aleviten angereist mit bluttriefenden Assad-Portraits. „Deutschstämmige“ Teilnehmer waren nicht sehr viele gekommen, aber ich hatte den Eindruck, es waren doch schon mehr als im vergangenen Jahr. An Organisationen sah ich die MLPD und die DKP, außerdem eine Solidaritäts-Organisation.
Bei der Abschlusskundgebung traten dann unter anderem Redner der im Bundestag vertretenen NRW-Parteien auf mit unterschiedlich dezenter bzw. scharfer Kritik am Erdogan-Regime. Aus einem der übrigen Redebeiträge greife ich als Abschluss die folgende Forderung auf:
„Erdogan, scher dich zum Teufel – da kennst du dich aus!“
(M aus Recklinghausen)