Jürgs legt in seinem Buch dar, dass die Gewinne im Menschenhandel nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und durch die offenen Grenzen innerhalb Europas ins Gigantische gestiegen sind. Er schätzt, dass auf dem Wachstumsmarkt „Mensch“ weltweit pro Jahr 30 Milliarden Dollar verdient werden. In Europa sind es nach seiner Schätzung 15 Milliarden Dollar jährlich, die von kriminellen Organisationen mit Frauen und Mädchen, die mit „paradiesischen“ Angeboten gelockt, grausam gefügig gemacht und an Bordelle geliefert werden oder als Haussklaven in den Villen der Reichen ein erbärmliches Leben führen. Kinder werden ihren Eltern abgekauft und an Pädosexuelle geliefert oder zum Betteln und Stehlen abgerichtet. Männer werden mit Arbeitsplätzen gelockt. Sie müssen sich für den Transport verschulden und landen in Schlachthöfen, Großbaustellen, als Erntehelfer oder mit Werkverträgen in der Industrie. Der versprochene Lohn ist sehr gering, davon werden exorbitante Summen für die Unterkunft in Abbruchhäusern abgezogen. Am Ende wird oft gar nicht mehr bezahlt. Die Opfer können sich wegen ihrem illegalen Aufenthalt nicht wehren und landen, wenn sie Glück haben, am Ende ärmer als zuvor, wieder da, wo sie herkamen. Die schlimmsten Fälle sind die, die für Organentnahmen herhalten müssen.
Jürgs hat den Menschenhandel und die moderne Sklaverei solide recherchiert. Er bringt viele Fakten, die erschreckend sind. Allerdings sieht er die Rolle von Europol, Scotland Yard, und vor allem von Frontex sehr verklärt.
So kommt es, dass er sich auf die „kriminellen Menschenhändler“ einschießt. Dabei geht unter, dass man als Flüchtling auf normalem Weg gar keine Chance mehr hat, in die Festung Europa herein zu kommen. Politisch Verfolgte, Kriegsflüchtlinge, Menschen, die wegen Hunger und Elend ihre Heimat verlassen – sie alle stehen vor einer Grenze, die immer höher und höher wird. Europa steht ihnen feindlich gegenüber, während es die Waffen liefert, mit denen ihre Heimatländer verwüstet werden oder mit denen ihre Diktatoren die Menschen foltern und unterdrücken. Flüchtlinge müssen sich daher an professionelle Fluchthelfer wenden. Doch Jürgs schert diese alle über einen Kamm und sieht sie als die Bösen, während er beispielsweise Frontex als die Guten sieht. Er vermischt auch wirkliche Kriminelle, die Frauenhandel für die Prostitution usw. betreiben und professionelle Fluchthelfer, die Armutsflüchtlinge oder politische Flüchtlinge illegal nach Europa bringen.
Nach dieser Logik waren auch die Menschen, die politisch Verfolgte oder jüdische Menschen in der NS-Zeit aus Deutschland schmuggelten und für die teure Beschaffung gefälschter Papiere oder den Transport Geld verlangten, „kriminelle Menschenhändler“. Denn merkwürdigerweise bekommt man gefälschte Papiere ja nicht beim Einwohnermeldeamt, sondern muss sie sich eben illegal besorgen. Natürlich gibt es in einer solchen Notsituation auch Geschäftemacher, die diese ausnutzen. Diese sind aber die Folgeerscheinung eines grausamen Abschreckungssystems. Hinzu kommt, dass viele Betriebe einen enormen Nutzen aus den zahllosen Billigstarbeitern ziehen. Da steigt der Profit. Es ist Bestandteil unseres Systems, Menschen als Ware Arbeitskraft möglichst billig einzukaufen und dieses System heißt Kapitalismus. Laut der Presseinformation des Bertelsmann-Verlages zieht Jürgs als Fazit: „Menschenhändler müssen bekämpft werden wie Terroristen. Mit allen Mitteln.“ Unser Fazit ist jedoch ein anderes: Der Kapitalismus muss bekämpft werden. Mit allen Mitteln.
Elias Bierdel hat schon vor einigen Jahren über den Flüchtlingsskandal an Europas Grenzen berichtet und ganz andere Erfahrungen machen müssen. Er erlebte, dass für die Frontex-Soldaten nicht die Schleuser, sondern die Flüchtlinge die Feinde waren. Bierdel wurde als Menschenhändler angeklagt und verurteilt, weil sein Schiff in Seenot geratene Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet hatte. Ebenso erging es armen tunesischen Fischern, die Ertrinkende aus dem Meer gefischt hatten. Sie wurden verhaftet, ihre Boote (ihre Lebensgrundlage) zerstört und sie hinter Gitter gebracht. Bierdel hatte das Glück, dass er durch eine internationale Solidaritätskampagne frei kam.
Michael Jürgs, Sklavenmarkt Europa, C.Bertelsmann Verlag, 2014, 352 Seiten, ISBN: 978-3-570-10187-2, 19,99 Euro
Bierdel, Elias: Ende einer Rettungsfahrt. Das Flüchtlingsdrama der Cap Anamur. Verl. Ralf Liebe, 2006, 232 Seiten,ISBN:978-3-935221-65-8, 19,80 Euro