Wir fordern unsere Leserinnen und Leser zunächst auf: Nennt möglichst viele Tierarten, die bis vor etwa 300 Jahren durch Zutun der Menschen ausgestorben sind bzw. ausgerottet wurden. Wir sind sicher: Euch werden nicht viele einfallen. Das Mammut (genaugenommen mehrere Arten) vielleicht, die Stellersche Seekuh, der Riesenvogel Dronte, das Ur… und vielleicht noch die eine oder andere Art.
Doch dann, vor etwa 300 Jahren, hat sich offenbar etwas geändert – heute erfährt man aus den Medien immer wieder vom großen „Artensterben“ – das derzeitige soll das sechste in der Geschichte der Erde sein. Schon durch diesen Hinweis wird angedeutet, dass es nichts Ungewöhnliches sei und es das früher, vor der Existenz des Menschen, auch schon gegeben hat. Und damit wird unterstellt, es sei natürlich und nicht „anthropogen“ (vom Menschen gemacht), – dazu weiter unten.
Zunächst einmal etwas zur Klarstellung: nicht alle Pflanzen- oder Tierarten, die es heute nicht mehr gibt, sind ausgestorben. Viele von ihnen gibt es deswegen nicht mehr, weil sie sich im Laufe der Evolution in eine oder mehrere andere, neue Arten entwickelt haben. Das konnten sie nur, wenn der Genpool (Gesamtbestand der Erbanlagen einer Population) so reichhaltig war, dass zumindest einige Individuen die für eine veränderte Umwelt notwendigen Erbanlagen besaßen – war das nicht der Fall, war der Genpool also klein bzw. arm, so starb diese Art aus.
Der Reichtum eines Genpools entsteht durch Mutationen, also Änderungen der Erbanlagen, Veränderungen im Bau der Erbsubstanz DNS. Dass – abgesehen von den eineiigen Geschwistern – alle heute lebenden Menschen sich durch den „genetischen Fingerabdruck“, also den Bau der DNS, voneinander unterscheiden, ist heute allgemein bekannt. Den heutigen Menschen, den Homo sapiens, gibt es seit etwa 50.000 Jahren – seit seinem ersten Auftreten sollen bis heute insgeamt etwa 200 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt haben – und sie alle hatten bzw. haben ein unterschiedliches Erbgut, Ausnahme s.o.
So einen „genetischen Fingerabdruck“ gibt es natürlich nicht nur beim Menschen, sondern bei allen anderen Pflanzen- und Tierarten auch. Hieraus ergibt sich bei der Fortpflanzung eine nahezu unendliche Anzahl von Kombinationsmöglichkeit des Erbguts. Wir hoffen, die/der Leser(in) erträgt es, wenn wir das am Beispiel Mensch kurz (!) zu erläutern versuchen: die Erbanlagen (Gene) des Menschen befinden sich auf 23 verschiedenen Chromosomen. Sie sind jeweils zweimal in jeder Zelle vorhanden, einmal von der Mutter, einmal vom Vater. Bei der Bildung der Keimzellen (Ei- bzw. Samenzelle) werden die Pärchenteile einzeln verteilt auf zwei durch Teilung entstandene neue Zellen. Allein hierbei gibt es 223 (das sind mehr als 8,3 Millionen) verschiedene Kombinationsmöglichkeiten für die Chromosomenverteilung; hinzu kommt, dass die Gene auf den Chromosomen sich durch Mutationen voneinander unterscheiden, was z.B. die Haarfarbe betrifft; weiter kommt hinzu, dass die beiden Chromosomen eines „Pärchens“ vor dem Verteiltwerden durch „Crossing Over“ Erbmaterial miteinander austauschen. So entstehen dann (beim Menschen) Hunderttausende erblich verschiedene Eizellen bzw. Abermilliarden verschiedene Samenzellen. Doch damit ist es noch nicht zu Ende: welche dieser Eizellen trifft bei der Befruchtung auf welche Samenzelle? Welche unvorstellbare genetische Vielfalt sich aus dem Geschilderten ergibt, ist wohl klar – sie wird auch durch die große Vielfalt der heute lebenden Menschen bestätigt, die trotz ihrer Unterschiede alle zur selben Art gehören und durch diese Vielfalt (hoffentlich !) den Fortbestand unserer Art gewährleisten…
Noch etwas zu Mutationen, also den Änderungen im Bau der DNS: es hat sich herausgestellt, dass die meisten von ihnen schädlich sind. Das könnte zu der Annahme führen, es sei doch besser, wenn es sie nicht gäbe – doch das wäre eine falsche Schlußfolgerung. Gäbe es keine Mutationen, wäre der Mensch, wäre jede andere Tier- und Pflanzenart ausgestorben.
Die Lebensbedingungen auf der Erde ändern sich dauernd, wir nennen nur die Kontinentalverschiebungen. Der Mensch kann sie heute in etwa vorausberechnen, doch Pflanzen- und Tierarten können das nicht. Für ihr Überleben als Art ist es günstig, genetisch auf möglichst viele Möglichkeiten vorbereitet zu sein, also einen reichen Genpool zu haben. Wir nehmen, um das zu verdeutlichen, den Kreis mit seinen 360 Winkelgraden als Bespiel. In welche Richtung (Grad) sich die Lebensbedingungen verändern werden, weiß keine Art (der Mensch in etwa). Ist sie in ihrem Genpool nur auf 10 Grad vorbereitet, so wären – sollte der Grad der Veränderung dadurch abgedeckt sein – nur die anderen 9 Grad negativ; betrifft die Veränderung aber einen der anderen 350 Grade, so würde die Art aussterben, weil ihr Genpool zu klein. Für das Überleben der Art ist es also vorteilhaft, alle 360 Grad abzudecken, auch wenn dann 359 +/- negativ sind.
Das liest sich erst einmal nicht gut – doch erfreulicherweise ist es so, dass diese Mutationen normalerweise rezessiv sind, d.h. sie wirken sich in der nächsten Generation nicht aus, da von der anderen Keimzelle ein unverändertes dominantes Gen bei der Befruchtung dazu kommt und sich durchsetzt. Nur dann, wenn zwei rezessive Gene zusammenkommen (das kann frühestens in der „F2“, der Enkelgeneration, sein) werden die mutierten Erbanlagen verwirklicht. Die jetzt noch negativen Mutationen werden also gewissermaßen in Reserve mischerbig über zahlreiche Generationen in Reserve gehalten und weitervererbt, bis sie – bei jetzt veränderten Umweltbedingungen – sich als positiv erweisen.
Zurück zum Artensterben. Wir hoffen, die/der Leser(in) erinnert sich noch, wie wenige Arten ihr/ihm eingefallen sind, als es darum ging, die zu benennen, zu deren Aussterben „der Mensch“ bis vor etwa 300 Jahren beigetragen hat. An den zumindest angeblich fünf früheren „Artensterben“ war „der Mensch“ nachweislich nicht beteiligt, da es ihn noch nicht gab. Und zum heutigen „Artensterben“ hat er auch fast 50.000 Jahre lang nicht oder kaum beigetragen. Aber dann… folgte eine neu entstandene Menschengruppe ihrem „natürlichen“ Profitstreben. Sie bevorzugte in der Landwirtschaft und Viehzucht die Pflanzensorten bzw. Tierrassen, mit denen der Maximalprofit zu erreichen war, und vernachlässigte die nicht so profitablen Sorten und Rassen, was zur „genetischen Erosion“ führte, der Verarmung des Genpools mit katastrophalen Folgen. Wir nennen hier nur zwei Beispiele:
Irland war im 19. Jahrhundert eine Kolonie Englands mit etwa 3 Millionen Einwohnern. Die in England herrschende Klasse benutzte unter Cromwell Irland als Produktionsstätte für Schafwolle, um die eigenen Truppen in aller Welt einzukleiden. Die meisten landwirtschaftlich nutzbaren Flächen wurden in Weideland verwandelt; für die irische Bevölkerung, der man ja auch etwas zu Fressen geben musste, wurden Kartoffeln angebaut, und zwar ausschließlich die billigste Sorte – mit eigentlich absehbaren Folgen. Es trat die Kartoffelfäule auf und vernichtete die gesamte Ernte, übrigens auch in anderen Ländern Europas; wären verschiedene Sorten angebaut worden, so wäre ein Teil der Ernte gerettet worden. Doch so verhungerten in Irland etwa eine Millionen Menschen und eine weitere Million wanderte aus. Doch auf dem Altar des Profits ist kein Opfer zu groß, vor allem dann nicht, wenn andere geopfert werden…
Sri Lanka (Ceylon) ist heute bekannt für seinen Tee – früher war es bekannt für seinen Kaffee. Den hatten die Kolonialherren aus Südamerika eingeführt, natürlich die ertragreichste Sorte, und die gedieh auf Ceylon prächtig. Es gab (zunächst !) nur ein Problem: für die etwa 3-4 Monate dauernde Ernte der Bohnen gab es auf Ceylon keine Arbeitskräfte, denn die dort lebenden Singhalesen und Tamilen hatten eigene Felder, die sie bewirtschafteten. Also importierten die Kolonialherren Erntehelfer aus dem südindischen Staat Tamil, die sie nach der Ernte wieder abschoben. So weit, so (nicht ganz) gut… Es trat, wie zu erwarten, eine Pflanzenkrankheit auf, der Kaffee-Rost, und vernichtete den Bestand sämtlicher Kaffeeplantagen so nachhaltig, dass bis heute ein Kaffee-Anbau auf Ceylon aus diesem Grund nicht möglich ist. Das ficht einen Kolonialherren nicht groß an, man stieg auf Tee um. Doch damit ergab sich ein neues Problem: Teeblätter werden das ganze Jahr über geerntet, die nach wie vor aus Südindien importierten Tamilen konnten nicht mehr nach 3 Monaten zurückgeschickt werden, sie blieben das ganze Jahr über, also „für immer“. So ein(e) Teepflücker(in) braucht keine großartige Ausbildung, nur Bücken, Pflücken und Korbfüllen. Also bekamen sie auch keine normale Schulausbildung und lebten unter schlechten Bedingungen oft nahe der Teeplantagen, was natürlich zu erheblichen sozialen Spannungen führte, auch noch im unabhängigen Sri Lanka.
Die Zahl solcher Beispiele lässt sich leider noch lange fortführen. Es werden nur die ertragreichsten Sorten/Rassen gezüchtet: Ihr Anbau bzw. ihre Haltung wird in den unterentwickelten Ländern den dortigen Bauern, die noch nicht durch Großkonzerne enteignet sind, aufgeschwatzt; oft ist das verbunden mit scheinbaren oder zeitlich begrenzten materiellen Anreizen. Wir wollen hier nicht ausführlich darauf eingehen, es gibt genügend informative Artikel, Filme und andere Veröffentlichungen zahlreicher fortschrittlicher Organisationen hierzu. Nur noch soviel zu dem eben Begonnenen: die Bauern, die freiwillig, überredet oder gezwungen die neuen „Wundersorten“ anbauten, warfen ihr bisheriges „minderwertiges“ Saatgut nicht weg, sondern verwendeten es als Nahrung. Das Ergebnis ist dasselbe: das Erbgut dieser Sorten ist unwiederbringlich verloren. Bei einer der wenigen heute noch angebauten Tomatensorten trat vor einigen Jahren eine Krankheit auf; die Tomatenzüchter erinnerten sich an eine Wildform der Tomate, die von den Bauern in Äthiopien angebaut wurde und die gegen diese Krankheit resistent war; also machten sie sich auf den Weg nach Äthiopien – und fanden dort zwar die Zuchtsorte, aber die Wildform war in den Mägen der Menschen gelandet.
Hieraus haben die Kapitalisten immerhin die richtige Schlussfolgerung gezogen, das Erbmaterial unterschiedlicher Pflanzensorten in Genbanken zu sammeln. Doch der Anbau und die Zucht erfolgt nach wie vor weitgehend monotypisch und monopolistisch mit den nicht nur für die lokale Landwirtschaft katastrophalen Folgen…
Fordern wir unsere Leserinnen und Leser jetzt abschließend auf, Pflanzen- bzw. Tierarten zu benennen, die in den letzten etwa 300 Jahren durch „den Menschen“ ausgerottet wurden, so wird die Liste sehr viel länger werden. Vor etwa 300 Jahren wurde die gesellschaftliche Produktion (die Arbeitsteilung in einem Produktionszweig) eingeführt, ein – wir geben es zu – großes und großer Verdienst der Bourgeoisie, der Kapitalisten. Doch dass die damit notwendig verbundene gesellschaftliche Aneignung bis heute unter Opferung von in die Milliarden gehenden Menschenleben verhindert wird, war und ist ein Verbrechen.