Zum Fortgang der Ereignisse in der Türkei

Die Unruhen vom Taksim-Platz überraschten die politische und soziale Szene in diesem Land, das von einer Partei geführt wird, die unablässig als verantwortliche und gemäßigte islamistische Partei gepriesen wurde. Sie bringen mehrere soziale und politische Forderungen zum Ausdruck, in denen sich weite Teile der Bevölkerung wiederfinden und die auf internationaler Ebene große Sympathie erzeugt haben. Wir veröffentlichen große Auszüge eines Textes der Arbeitspartei (Emep Partisi), welche die Gründe für diese vielversprechende Bewegung analysiert.

 

Wie kann man die zahlreichen Massenkundgebungen beurteilen, die derzeit stattfinden und die vor kurzem begonnen haben? Ist das ein „türkischer Frühling“? Ein Volksaufstand? Oder der Versuch eines Staatsstreichs durch die Nationalisten?

Um die Sache richtig zu interpretieren, muss man die letzten politischen Vorfälle in der Türkei in Betracht ziehen. Letztendlich brauchte es nur ein Streichholz, um das Feuer zu entfachen.

 

Die AKP-Regierung, der loyalste Verbündete des amerikanischen und des westlichen Imperialismus im Nahen Osten, ist ein wichtiger Akteur für die „Initiative für einen Großen Nahen Osten“ und er ist auch der willfährigste Befehlsempfänger der neoliberalen Politik; ihre Politik rief übrigens seit Jahren zahlreiche Proteste aller Art hervor.

Die Politik, die darin besteht, Staatseigentum an multinationale Institutionen und an lokale Magnaten zu verschleudern, Massenentlassungen durchzuführen und das Leben der Arbeiter zu ihrem Nachteil zu reorganisieren, Ausgliederungen, gewerkschaftsfeindliche Maßnahmen, Einschränkungen der sozialen Rechte, Lohn- und Gehaltskürzungen, Steigerung der Ausbeutung der Arbeitskraft, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, das sind die Maßnahmen, die täglich Aufruhr in den Betrieben und Institutionen hervorgerufen haben.

Außerdem hatten die Missachtung und die Assimilationspolitik gegenüber dem kurdischen Volk und die zahlreichen Verhaftungen ebenfalls furchtbare Rückwirkungen.

Die städtischen Bevölkerungskreise waren zutiefst beunruhigt über die Praktiken, sich auf die Religion zu stützen und über die Erklärungen der AKP über obligatorischen Religionsunterricht an den Hauptschulen, über die Umgestaltung des Erziehungssystems in Anlehnung an religiöse Erfordernisse, die Erhöhung der Zahl der religiösen Schulen, der Einrichtung eines Ministeriums für religiöse Angelegenheiten, das eine Menge von Angehörigen des Klerus mit Entscheidungsbefugnis beschäftigt, Einschränkungen beim Verkauf von alkoholischen Getränken und Tabak, Ersetzung der bürokratischen Führungsschicht durch eine religiöse Riege von Parteigängern der AKP, usw.

Durch niedrige Zinsen und den billigen Verkauf des Staatsbesitzes an ausländisches Kapital hat die AKP einen riesigen Zufluss von frischem Geld gestattet und versucht, Aktienkapital anzulocken und es davon abzubringen, im Nahen Osten oder bei den westlichen Banken und Gesellschaften zu investieren. Das Ergebnis war, dass die AKP-Regierung bis heute mehr Erfolg bei der Abmilderung der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise hatte als Europa und die USA.

Aber in neuester Zeit hat sich der Zustrom frischen Kapitals aus dem Ausland verringert. Die AKP-Regierung hat versucht, diese schlechte wirtschaftliche Entwicklung zu vermeiden, indem sie eine Neubaukampagne mit der Bezeichnung „Stadtveränderung“ ins Leben rief. Die besten Stadtviertel der Großstädte wurden enteignet, auf öffentlichem Grund wurden mehrstöckige Gebäude errichtet und zu extremen Preisen verkauft. Das wachsende Verkehrsproblem, die Zerstörung der Grünzonen und die schädlichen Maßnahmen, dank derer die Parteigänger der AKP sich die Taschen füllten, führten zu einer breiten Unzufriedenheit.

Die Syrienpolitik der AKP-Regierung hat ebenfalls zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt. Die Finanzhilfe, die dazu ausersehen war, die radikal-islamistischen Gruppen zu unterstützen und sie an der syrischen Grenze aufmarschieren zu lassen, hat eine Menge Probleme erzeugt. Die radikalen Islamisten sind für die alevitische Mehrheit, die an der Grenze lebt, zu einer Bedrohung geworden und der Umstand, die radikalen Islamist beherbergen zu müssen, haben dem Handel und der Wirtschaft dieser Region sehr geschadet.

Die Pleiten und die Arbeitslosigkeit haben zugenommen: Zudem haben sich die negativen Auswirkungen der Fünf-Milionen-Dollar-Hilfe für die Gegner des syrischen Präsidenten Assad zu zeigen begonnen.

Unter diesen Umständen hat der Premierminister Erdogan angekündigt, dass auf dem Taksim-Platz ein großes Einkaufszentrum errichtet werden soll. Das Einkaufszentrum soll nach dem Modell einer Kaserne gebaut werden.

Die Artilleriekasernen waren während der bürgerlichen Revolution von 1908 als Hauptquartier der reaktionären Kräfte und Zentrum des Aufstands bekannt. Indem sie die Kasernen wieder errichtet, verteidigt die AKP das Gedenken an den reaktionären Aufstand vom 31. März 1908 und rächt sich an der bürgerlichen Revolution von 1908. *)

Hinsichtlich der Umwelt wird die Umgebung des Taksim-Platzes ebenfalls grundlegend betroffen, weil praktisch kein grüner Fleck mehr in dem Einkaufszentrum übrig bleibt. Die Absicht Erdogans, die Stadtlandschaft ohne Einverständnis der Mehrheit zu verändern, hat den Weg für eine Erhebung gegen seine diktatorische Politik geöffnet.

Der Widerstand begann im Park Taksim-Gezi. Die Erdbaumaschinen der Firmen, die gerade begannen, den Park zu verwüsten, haben Tausende von Menschen in den Park gelockt. Spät in der Nacht, nachdem der Großteil der Menge den Park verlassen hatte, haben die Polizeikräfte eine kleine Gruppe von Menschen angegriffen, die in Zelten schliefen. Die Zelte wurden von der Polizei angezündet, die Aktivisten wild verprügelt und mit Pfefferspray besprüht.

Vor einem Monat bei der 1.Mai-Kundgebung auf dem Taksim-Platz hatte die AKP-Regierung alles, was weniger als 30 km vom Eingang entfernt war, zur verbotenen Zone erklärt und den Massenverkehr dorthin unterbunden. So hat sie während des ganzen Tages den Zugang zu den europäischen und asiatischen Teilen der Stadt abgeschnitten. Währenddessen wurden die Massen das Ziel unausgesetzter Angriffe und mussten Strahlen von Tränengas und Wasserwerfern über sich ergehen lassen. Die von der AKP-Regierung ergriffenen Vorkehrungsmaßnahmen wurden von der Bevölkerung Istanbuls wie von den Touristen heftig missbilligt.

Heute greift man einmal mehr auf die gleiche Methode zurück in dem Versuch, der Aktion im Gezi-Park ein Ende zu setzen. Der neueste Angriff hat die breite Masse besonders erbittert und Zehntausende liefen zum Taksim-Platz. Zum Ende der Arbeitszeit erreichte die Zahl der am Taksim versammelten Menge 100.000. Bei ihren Angriffen setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein. Trotz der von den bürgerlichen Medien ausgeübten Zensur, erlaubten es die sozialen Medien und einige revolutionäre und demokratische Organe, die Öffentlichkeit über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Die Aktivitäten breiteten sich nach Ankara und Izmir aus. Die Menschen verliessen die Straßen nicht vor dem Morgengrauen. In Izmir, Ankara und Istanbul waren die Zusammenstöße zwischen Polizei und Aktivisten sehr hart. Es wurden Barrikaden errichtet. Während dieser Zusammenstöße starben Jugendliche in Ankara, Istanbul und Hatay. Zehntausende Personen wurden verletzt und eingesperrt. Auch der Leiter der Jugendabteilung unserer Partei wurde verletzt und arretiert.

Die Mehrzahl der Protestierenden waren Jugendliche und Frauen. Auch die Fußballfans nahmen an den Kundgebungen teil und ließen ihre gewohnten Rivalitäten beiseite. Die während der Aktionen am meisten gebrauchten Slogans waren: „Rücktritt der Regierung“ und “Tayyip, tritt zurück!“ Sehr oft waren die Teilnehmer an den Manifestationen unorganisiert.

Unsere Partei wie alle revolutionären und demokratischen Parteien, die Umweltschützer, die Ärztekammer, die Ingenieurs- und Architektenkammer, die Gewerkschaft der Arbeiter des öffentlichen Dienstes, die Aleviten, die Intellektuellen, die Künstler, die Juristen und Rechtsanwälte, nationalistische Gruppen, alle Gruppen der laizistischen Kräfte sind sich einig in der Feststellung, dass die AKP-Regierung dabei ist, Stück für Stück ein religiöses Rechtssystem zu etablieren.

Unsere Partei, die sich mit allen ihren Mitgliedern und Organisationen an den Manifestationen beteiligt hat, hat versucht, die Werktätigen, Proletarier und Gewerkschaften in die Aktion hineinzuziehen, Organisationsformen aufzubauen, die die Stärkung der Aktionen und die Präzisierung ihrer Ziele erlauben.

Sie hat eine eine demokratische und volksnahe Lösung für das Kurdenproblem gefordert, die Aufhebung der Einschränkung der Pressefreiheit, der Meinungsfreiheit und der Organisationsfreiheit, der Rechte der Aleviten. Sie verlangte die Wiederherstellung der vorenthaltenen Rechte der Arbeiter und Bauern, die Aufhebung des Mindestquorums bei den Wahlen, die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für die Massaker von Robolski und Reyhanli, das Verbot der Anwendung von Gas gegen die Demonstranten durch die Polizei, das Verbot der Blockade von Städten, das Verbot der Zerstörung von Grünflächen für Bauzwecke oder zur Ausbeute von Holz. Sie hat ebenso zum Generalstreik und zum Widerstand aufgerufen.

Sie hat an das Volk appelliert, sich zu organisieren und zu kämpfen. Zur Zeit bereiten die Gewerkschaft der Arbeiter in öffentlichen Dienst (KESK) und die revolutionäre Vereinigung der Arbeiter (DISK) einen Generalstreik vor. Die Ereignisse dieser Woche in der Türkei lassen Aspekte erkennen, die gleichzeitig gleich und verschieden von dem sind, was in Tunesien, in Ägypten und anderen arabischen Ländern abgelaufen ist. Unter den Ähnlichkeiten findet man: die breiten Massen, die „Wir haben genug!“ sagen und die auf die Straße strömen, von der gleichen Entschlossenheit zu kämpfen beseelt. Zu den Verschiedenheiten zählt das Niveau der Organisiertheit der Massen und die Forderungen. In den letzten 5 Jahren fanden ähnliche Aktionen statt, nicht nur in den arabischen Ländern und der Türkei, sondern auch in europäischen Ländern wie Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Frankreich und England sowie in einigen lateinamerikanischen Ländern. Ein gemeinsamer Punkt bei allen ist die Massenrebellion gegen die Unterdrückung und gegen die Ausbeutung durch den Kapitalismus.

Es ist klar, dass die Menschen, die gegen die herrschende Klasse für ihre Rechte und ihre Freiheit rebellieren, dank der internationalen Solidarität und ihrer Einigkeit noch stärker werden.

 

Arbeiterpartei (EMEP) der Türkei

4. Juni 2013

 

*) im Frühjahr 1908 gewannen die europäisch ausgerichteten „Jungtürken“ die Parlamentswahlen. Das war das nationale und konstitutionelle Bürgertum, das in der „Fortschrittspartei“ organisiert war.

Die Gegner dieser Partei erhoben sich am 31. März 1908. diese reaktionären Kräfte wollten einen islamischen Staat, der die Scharia anwendet. Der Anführer dieser Revolte befand sich in der Artilleriekaserne des Taksim. Dieser Aufstand wurde von der europäisch orientierten Armee, wovon einer der Führer Atatürk war, niedergeschlagen. Diese Artilleriekaserne am Taksim wurde 1940 abgerissen. Tayyip Erdogan und seine Partei AKP wollen diese Kaserne am gleichen Platz (heute Gezi-Park) als Revanche gegen die Republik und den Westen wiedererrichten.

 

Übersetzung aus „La Forge“, Zeitung der PCOF, Juni 2013