Woche für Woche demonstrieren jeden Montag in Stuttgart rund 2-4000 Menschen gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21. Auch das Ergebnis des undemokratischen und mit vielen Millionen manipulierten Volksentscheides sowie das Einschwenken der Grünen-SPD-Landesregierung schreckt die Menschen nicht ab. Der Widerstand lebt und hat trotz aller Niederlagen eine erstaunliche Breite.
Die Medien – die treue Stimme ihrer Herren!
Die Medien berichten überregional fast gar nicht mehr. Die lokalen Medien bringen Kleinstbeiträge. Nur wenn es etwas zu berichten gilt, was die Gegner von Stuttgart 21 in Misskredit bringen kann, dann gibt es riesige Schlagzeilen. Die Wahrheit spielt dabei keine Rolle. Als z.B. Kabelbrände Stuttgarter S-Bahn-Strecken lahmlegten, spekulierte die Presse in großer Aufmachung, ob dahinter „militante“ Stuttgart 21 Gegner stecken würden. Als dann herauskam, dass dies nicht stimmte, gab es zwar Richtigstellungen, die waren aber so klein, dass man sie fast mit der Lupe suchen musste.
Für viele Menschen ist es das erste Mal, dass sie hautnah miterleben, wie Medien wahre Nachrichten bringen, diese aber so darstellen, zusammen stoppeln, Teile der Wahrheit weglassen und mit Worten hinbiegen, sodass das glatte Gegenteil herauskommt. Das hat zu massiven Abbestellungen bei der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten geführt, die beide demselben Konzern gehören und in Stuttgart das Meinungsmonopol haben.
Die Bewegung hat sich in zäher Kleinarbeit alternative Medien geschaffen wie die Internetvideoportale Flügel-TV und Cams21 oder die Zeitung einundzwanzig, die eine hohe Auflage hat. Diese neuen Medien haben Einfluss. Sie schaffen eine Gegenöffentlichkeit. Jede Schweinerei beim Immobilienspekulationsprojekt Stuttgart 21 wird oftmals innerhalb weniger Stunden bekannt und weit verbreitet. Ein kleines Beispiel: Die Bahn reißt derzeit die kulturhistorisch wertvolle „Alte Bahndirektion“ am Hauptbahnhof ab. Das hat nichts mit Stuttgart 21 zu tun. Hier soll weiterer Platz für Neubauten und Immobilienspekulation geschaffen werden. Wegen des „Denkmalschutzes“ muss die Bahn die Fassade stehen lassen. Natürlich hat die Bahn einen Naturschutzbeauftragten, der angeblich das ganze Projekt überwacht, damit nicht gegen geltende Naturschutzgesetze und -bestimmungen verstoßen wird. Nur durch engagierte Reporter von Cams 21 und Fotografen wurde jedoch bekannt und dokumentiert, dass äußerst seltene und unter strengem Artenschutz stehende Turmfalken in dem Gebäude nisten. Der Naturschutzbeauftragte der Bahn hatte sich darum nicht gekümmert. Erst nach Bekanntwerden trat er in Aktion und die Bahn musste den Abriss stoppen. Nun soll vorerst nur ein Teilabriss erfolgen. Ohne die alternativen Medien wäre dieser Verstoß gegen geltende Gesetze niemals bekannt geworden. Aber auch in deutlich schwerer wiegenden Fällen konnte so der Filz, die Interessen des Kapitals an dem Projekt aufgedeckt werden.
Eine lebendige Schule
Ob der Kampf gegen Stuttgart 21 Erfolg haben wird? Das wissen wir nicht! Sonst wären wir Hellseher. Wir werden aber nach unseren Kräften daran mitwirken, dass dieser Kampf doch noch zu einem Erfolg führt. Unabhängig davon jedoch ist der Kampf bereits ein Erfolg. Denn er ist eine Schule in Kapitalismus, Demokratie, Herrschaft für zigtausende Menschen geworden.
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 hat viel in den Köpfen der Menschen, aber auch an den politischen Verhältnissen in Stuttgart geändert. Über viele Fragen kann wieder offen und öffentlich diskutiert werden. Ob wir in einer Herrschaft des Kapitals leben? Da hätten vor 2 Jahren noch viele gelacht. Heute ist es tausenden klar, dass das Kapital wirklich herrscht. Ob diese Demokratie real ist? Viele hatten große Hoffnungen in die Landtagswahlen. Es wurde eine riesige Mapp-Schieds-Party gefeiert, als Mappus nach der Landtagswahl vor einem Jahr Abschied nehmen musste. Alle Hoffnungen richteten sich auf die Grünen und Kretschmann. Inzwischen ist Ernüchterung und Bitterkeit eingekehrt. Die Menschen haben lernen müssen, dass in diesem System das Kapital unabhängig davon, welche Parteien gerade die Regierung stellen, die Macht hat. Der Höhenflug der Grünen ist schon kurz, nachdem er begonnen hat, wieder beendet. Dementsprechend richten sich die Proteste der tausenden Demonstranten mittlerweile offen gegen die Grünen und gegen Kretschmann. Auch die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 war von vielen Illusionen und Hoffnungen begleitet. Aber die Menschen mussten sehen, wie Staatsgelder in Millionenhöhe, Großspenden der Industrie, die konzertierte Aktion aller Mächtigen in diesem Lande zu einer riesigen Propagandaschlacht gegen den Widerstand gemacht wurden. Es wurde gelogen. Die Wahrheit wurde mit Füßen getreten. So sicherte die Bahn vor der Volksabstimmung zu, es gebe keine Kostensteigerungen. Schon wenige Tage nach der Wahl meldete sie Kostensteigerungen an. Der eigentliche Baubeginn, der Aushub der Baugrube, musste um ein Jahr verschoben werden, nicht wegen des Widerstandes, sondern weil die Bahn bis heute für ihr hochriskantes „Grundwassermanagement“ (das Abpumpen von zig Milliarden Litern Grundwasser aus dem Talkessel für die Baugrube) keine genehmigungsfähigen Unterlagen beibringen kann – das „bestgeplante Projekt in Deutschland“. Mittlerweile muss das Bauende sogar um mindestens zwei Jahre nach hinten auf 2021 oder 2022 verschoben werden. Demokratie ist im Kapitalismus immer die Herrschaft der Mächtigen, der Reichen, des Kapitals – egal ob bei Wahlen, Volksabstimmungen und was auch immer.
Oder nehmen wir die Phrase aus dem Grundgesetz: Alle Gewalt geht vom Volke aus. Bei den Polizeieinsätzen wurde klar, wie die Realität aussieht. Alle Gewalt des Staatsapparates ist gegen das Volk gerichtet.
Schwächen?
Natürlich hat die Bewegung Schwächen. Bei so einer großen Bewegung ist das nicht zu vermeiden. Wie schon oben dargestellt, gab und gibt es Illusionen, Vertrauen in Institutionen, Hoffnungen, mit Wahlen etwas verändern zu können. Das alles ist nicht entscheidend. Eine solche große Bewegung lebt gerade davon, dass es in ihr verschiedene Anschauungen gibt, dass sie nicht eng und begrenzt ist. Die Diskussion und die verschiedenen Standpunkte beleben den Widerstand, geben ihm Kraft und helfen mit, ihn in weiten Teilen der Bevölkerung zu verankern.
Die einzige Schwäche, die dem Widerstand schadet, ist die immer wieder aufkommende Diskussion um Spaltung und Trennung. Vor allem von außen, von Seiten der Herrschenden, wird Druck ausgeübt, man solle gefälligst zwischen „gewalttätigem“ und friedlichem Widerstand, zwischen „Radikalen“ und „Gemäßigten“ eine Grenzlinie ziehen. Dabei werden Baustellenbesetzungen als schwerste Kriminalität dargestellt und gehetzt. Ein berühmtes Beispiel sind die „Pflastersteine“, die bei dem brutalen Polizeieinsatz im Schlossgarten gegen die Polizei geschleudert worden sein sollen. Wortreich forderten der damalige Ministerpräsident Mappus und Innenminister Rech eine Distanzierung von solchen „Radikalen“ und „lobten“ die „friedlichen“ Demonstranten, die sie gerade von ihrer Polizei hatten verprügeln lassen. Am Ende stellte sich heraus, dass die „Pflastersteine“ Kastanien waren, die die Polizei selbst mit den Wasserwerfern von den Bäumen geschossen und damit ihre eigenen Kräfte bombardiert hatte. Allerdings wirken solche Angriffe immer auf die Bewegung und in ihr. Doch sie haben noch nie zu einer großen Spaltung geführt. Die einzigen, die eine Spaltung und Schwächung geschafft haben, sind die Grünen, indem sie nach der Volksabstimmung den Widerstand beerdigen wollten. Das hatte durchaus Auswirkungen und führte zu einer Schwächung und zu Resignation. Beerdigen konnten die Grünen und Kretschmann den Widerstand jedoch nicht. Dazu ist durch den jahrelangen Kampf, durch die gesammelten Erfahrungen das Bewusstsein in weiten Teilen der Bevölkerung zu stark verändert worden.
Einheit notwendig!
Das Wichtigste ist und bleibt, die Einheit aller, die gegen das Wahnsinnsprojekt kämpfen wollen, zu wahren – und zwar egal, ob sie Christen, Kommunisten, Pazifisten, Anarchisten, Umweltschützer und was auch immer sind. Darauf wirken wir als Teil der Bewegung immer wieder hin. Zugleich beteiligen wir uns aktiv an der Diskussion und am Kampf sowie an dem gemeinsamen Lernprozess. Wichtig ist auch, dass sich die Bewegung zunehmend nicht nur auf den Kampf gegen Stuttgart 21 beschränkt, sondern sich mit der gesamten Entwicklung der Stadt, Fragen wie Schulen, Kindergärten, Verkehrspolitik, menschenwürdigem Leben, Gesundheitswesen, sozialen Fragen, Produktion und Ausbeutung sowie auch mit der gesamten Gesellschaft, mit dem Kapitalismus und den Alternativen dazu beschäftigt. Auch hier beteiligen wir uns, um den Blick auf die Zukunft, auf die Beseitigung der Wurzel des Übels, auf die Beseitigung des Kapitalismus zu lenken.
Wichtig ist auch, dass gegen den Widerstand der Gewerkschaftsführungen sowohl im DGB-Landesbezirk wie bei der IG Metall beschlossen wurde, sich an dem Widerstand zu beteiligen. Bis heute nehmen viele aktive, fortschrittliche Kolleg/innen an dem Kampf teil und stellen so eine Verbindung zu den Arbeitern und Angestellten her. Das hat die Basis der Bewegung verbreitert.
So sind wir zuversichtlich, dass dieser Widerstand noch mehr verändern kann und wird. Er wird den Zerstörungsprozess durch die Bahn im Interesse des Kapitals begleiten und alle Schweinereien, Betrügereien und Verbrechen aufdecken und anprangern. Dabei werden die Menschen weiter lernen. Dabei wird sich ihr Horizont und ihr politisches Bewusstsein erweitern. Und am Ende verliert das Kapital auf jeden Fall, auch wenn es mit aller Gewalt seine Interessen durchsetzen kann.
dm