In Stuttgart stehen eine 72jährige Rentnerin und ihre knapp 50jährige Bekannte vor Gericht. Sie haben einem gegen sie ergangenen Strafbefehl widersprochen, so dass die Angelegenheit nun vor Gericht verhandelt wird.
Der Strafbefehl wirft der 72jährigen Frau vor, Polizisten beleidigt und einem Polizisten bei der Vornahme einer „Diensthandlung“ mit Gewalt oder durch die Drohung mit Gewalt Widerstand geleistet oder ihn dabei tätlich angegriffen zu haben. Dafür soll sie 2250 Euro (45 Tagessätze zu 50 Euro) Strafe zahlen! Der anderen Frau wird laut Strafbefehl (3500 Euro; 70 Tagessätze zu 50 Euro!!) zusätzlich noch vorgeworfen, einen Polizisten bei seiner „Amtshandlung“ körperlich misshandelt und gesundheitlich geschädigt zu haben. Beide Vergehen seien so schwer, dass unbedingt von staatlicher Seite vorgegangen werden müsse. Man fragt sich unwillkürlich: Handelt es sich hier um eine gewaltbereite Gruppe älterer Mitbürgerinnen, oder was war geschehen?
Der Vorfall hat sich am 23. Juli 2010, spät abends vor einer Stuttgarter Polizeiwache zugetragen. Die beiden Frauen waren nach einer Veranstaltung gegen 23:30 Uhr auf dem Heimweg an dem Polizeirevier vorbeigekommen, es soll leicht geregnet haben. Sie hatten Regenschirme dabei, die jüngere hatte ihren aufgespannt. Vorm Polizeirevier trafen sie auf eine Gruppe von Polizisten, die einige Jugendliche zur Wache führten. Vorne führten zwei Polizisten dem Bericht der Rentnerin zufolge einen schwarzen Jugendlichen mit sich. Er war an Händen und Füßen gefesselt. Seine Füße waren mit Kabelbinder gefesselt, so dass er gar nicht gehen konnte, ständig stolperte und umsackte. Deshalb rissen die Polizisten ihn immer wieder hoch und riefen: „Lauf Junge!“ So schleiften sie ihn praktisch zwischen sich über das Pflaster.
Wegen dieser unwürdigen Behandlung des Jungen habe die heute 72jährige die Polizisten sinngemäß gefragt, wieso sie den Jungen, der doch gar nicht gehen könnte, so behandelten. Die Antwort sei gewesen, „Mischen Sie sich da nicht ein. Das geht sie gar nichts an. Sie wissen gar nicht, was vorgefallen ist.“ Die Rentnerin habe aber darauf bestanden, dass man so nicht mit dem Jungen umgehen dürfte.
Während die Jugendlichen in die Wache gebracht wurden, sei die Situation dann eskaliert: Ein Polizist habe die Rentnerin barsch aufgefordert, sich auszuweisen, wozu die Frau nicht bereit gewesen sei, weil sie nicht eingesehen habe, warum das wegen einer kritischen Nachfrage nötig sei.
Daraufhin sei sie mit aller Polizeigewalt mit Handschellen gefesselt, zu Boden geworfen und dort „fixiert“ worden, sprich, ein großer, kräftiger Polizist habe sich auf sie draufgesetzt. Ihre Begleiterin habe entsetzt die Polizisten auf das Alter der Rentnerin aufmerksam gemacht und gebeten, sie sofort loszulassen. Daraufhin unterzogen ebenfalls muskelbepackte Polizisten die schmächtige Frau der gleichen rabiaten „Behandlung“. Sie soll reflexhaft ihren Regenschirm vor sich gehalten haben, woraus die Anklage nun macht, sie habe den Regenschirm wie eine Waffe gezielt gegen den Kopf eines Polizisten gezückt. Den Polizisten, der sie gewaltsam niedergedrückt hatte, soll sie angeblich kurz in das Handgelenk gebissen haben („gesundheitliche Schädigung und Körperverletzung!“).
Auch der Rentnerin wird vorgeworfen, ihren Regenschirm gegen die Staatsgewalt erhoben zu haben. Sie selbst sagt, dass sie ihren Schirm überhaupt nicht aufgespannt, sondern bei der Festnahme verloren habe. Aus diesem angeblichen Gebrauch der Schirme macht die Anklage nun offenbar den „Widerstand mit Gewalt oder durch die Drohung mit Gewalt“ bzw. einen „tätlichen Angriff“.
Man sollte wissen, dass die ältere Frau leicht gehbehindert, die jüngere Frau dagegen klein und körperlich eher von zarter Gestalt ist.
Dann wurden beide Frauen gefesselt in die Wache gebracht und dort getrennt verhört. Hier seien dann angeblich noch Beleidigungen gegen die Polizisten ausgestoßen worden.
Am 19. 12 2011 fand unter starker öffentlicher Anteilnahme eine erste Verhandlung vor dem Stuttgarter Amtsgericht statt. Rund 50 Zuschauer und mehrere Pressevertreter waren zur Verhandlung gekommen. Obwohl schon ein größerer Saal genommen wurde als zunächst geplant, fanden gar nicht alle einen Sitzplatz. Das nahm die Richterin Burkhard gleich zu Beginn zum Anlass für einen Versuch, alle, die stehen mussten, des Saales zu verweisen. Dieses wurde ruhig, aber bestimmt, und erfolgreich von den Zuschauern zurückgewiesen. Es herrschte eine gegenüber den beiden Angeklagten solidarische Atmosphäre. Beide Angeklagte machten zunächst von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und ließen ihre gut vorbereiteten Anwälte sprechen.
Richterin und Staatsanwältin dagegen machten den Eindruck, dass sie sich bereits einig seien.
Es wurden an diesem Tag lediglich drei Polizeizeugen gehört, die sich zum Teil erheblich widersprachen, obwohl unwidersprochen draußen vor dem Verhandlungssaal Absprachen stattfanden. Die Verteidigung musste diese Tatsache zu Protokoll nehmen lassen, weil die Richterin es eigenständig nicht tat. Die Polizisten erschienen bewaffnet, während der Aussage des dritten Zeugen nahm eine Polizistin an der Saaltür Aufstellung, was die Richterin anscheinend nicht störte.
Auf einem Foto, das die angeblichen Verletzungen des einen Polizisten beweisen sollten, war nichts zu erkennen. Deshalb wies extra ein schwarzer Pfeil auf einen kleinen rosa Streifen hin.
Nachdem die Zeugen ihre divergierenden Darstellungen beendet hatten, wollte die Richterin offensichtlich zur Verurteilung schreiten, denn sie begann leutselig über den zu hoch angesetzten Tagessatz im Strafbefehl für die jüngere Frau zu sprechen. Die Verteidigung unterbrach dieses Vorgehen, indem sie darauf beharrte, dass die Beweisaufnahme noch gar nicht beendet sei, was bei Richterin und Staatsanwältin sichtbaren Ärger hervorrief.
In Beweisanträgen forderten die beiden Anwälte, dass die Aufnahmen der beiden Video-Kameras, die den Eingangsbereich der Wache beobachten, im Gericht vorgespielt würden. Die Frage war während der Zeugenvernehmung der Polizisten schon kurz angesprochen worden. Tatsächlich wurde da von Polizeiseite gesagt, dass die Kameras seit den Vorfällen ausgetauscht, dass die Videos gar nicht mehr existierten oder gelöscht seien etc. Dann müsse aber doch der Wachhabende die Vorfälle im Monitor beobachtet habe, so die Verteidigung gegenüber Polizeizeugen. Ausweichende Antworten.
Deshalb nun der Beweisantrag. Aber anstatt die Staatsanwältin als Ermittlerin streng zu befragen, wo denn diese Beweise seien, rief die Richterin der Verteidigung entgegen, die Videos seien doch nicht mehr da!!! Ihre Aufgabe wäre es gewesen, alle Beweismittel einzufordern, auch eventuell(!) entlastende.
Außerdem beantragte die Verteidigung, zwei aussagebereite Zeugen zu befragen, die die Vorfälle beobachtet hatten. Auch hier gab es zunächst Auseinandersetzungen, statt faires Verhalten der Richterin. Der eine Zeuge sei doch gar nicht unter seiner Adresse angetroffen worden. Die Verteidigung antwortet, einem der Anwälte sei es in zehn Minuten Telefon gelungen, die korrekte Anschrift zu finden.
Schließlich zog sich die Richterin zu einer Beratung zurück. Danach entschied sie, zunächst die Zeugen zu laden. Über den anderen Antrag werde später entschieden.
Die Verhandlung war auf eineinhalb Stunden angesetzt und dauerte deutlich länger. Am 5. Januar 2012 muss sie nun fortgesetzt werden.
Allein dies muss bei den Stuttgarter Justizbräuchen (böser Schmäh in Anwaltskreisen: „Der Staatsanwalt spricht, der Richter gehorcht“) als ein Achtungserfolg gewertet werden.
Ein Zuhörer verließ die Verhandlung empört mit der Bemerkung: „Wenn die chinesische Polizei den Ai Wei Wei mit gefesselten Füßen so abgeschleppt hätte wie den schwarzen Jugendlichen, und wenn dann ein Beobachter, der sich so wie die beiden Frauen eingemischt hätte und ebenso festgenommen worden wäre – was hätte das für einen Aufschrei gegeben?! Menschenrechtsverletzungen! Diktatorisches Regime etc. etc….“
ft