„Die Reform unseres berühmten Sozialsystems ist ein Tabu, das zu brechen sicherlich einer der größten Herausforderungen sein wird. Hoffen wir, dass es uns gelingt, bevor es wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.“ Nicolas Sarkozy (Bekenntnisse, C. Bertelsmann 2007, S.126)
Korrespondenz: Am 27. Oktober hat die französische Rentenreform die letzte parlamentarische Hürde genommen. Zuvor hat eine breite Protestbewegung versucht, die Verabschiedung des Gesetzes durch die Nationalversammlung zu verhindern. Trotz der Verabschiedung in der Nationalversammlung wird eine Weiterführung der Streiks und Proteste erwartet.
Durch Bankenrettungs- und Konjunkturpakete, die unter staatlicher Regie der jeweiligen Regierungen durchgeführt wurden, konnten in Europa die von der Krise betroffenen Länder vor dem wirtschaftlichen Bankrott erst einmal gerettet werden. Doch die Krise ist keineswegs beendet, noch ist das kapitalistische System gerettet. Die angeschlagenen Banken und Konzerne sollen zu Lasten der Völker möglichst schnell wieder in die Gewinnzone geführt werden. Eine weitere Erhöhung des Renteneintrittalters war in einigen kapitalistisch-imperialistischen Ländern schon vor der Wirtschaftskrise als ein Teil der Umverteilungspolitik eingeplant worden. Nun wurde der Zeitpunkt für das Kapital und ihrer Regierungen als günstig angesehen, einen Rentenklau möglichst rasch unter Dach und Fach zu bringen. In Frankreich wurde vor einigen Monaten die Erhöhung des Renteneintrittalters von 60 auf 62 Jahre angesichts der Krise als unumgänglich bezeichnet, alles andere sei wegen des hohen Haushaltsdefizits und der allgemeinen Wirtschaftskrise angeblich nicht mehr finanzierbar. In Wahrheit ist dieses Vorhaben schon jahrelang angedacht und geplant gewesen. Auch andere EU-Länder fingen zuletzt an, Frankreichs Rentenreformpläne zu unterstützen. Besonders Deutschland fing an, sich Sorgen um die Kreditwürdigkeit des Landes zu machen und drängte die französische Regierung zum Handeln, ansonsten, so der Tenor, ist die Stabilität ganz Europas in Gefahr. Die Regierungspartei UMP, die das deutsche Sparpaket zunächst in der Öffentlichkeit als übertrieben kritisierte, ließ sich in Sachen der geplanten Rentenreform trotz der schnell einsetzenden Massenproteste nicht umstimmen. Obwohl sich hundert Tausende Menschen mehrmals organisiert zu Demonstrationen und Streiks zusammenfanden, wurde in manchen bürgerlichen Medien der Protest bereits am Anfang als gescheitert erklärt. Zudem war die Regierungspartei UMP in den letzten Monaten bemüht von ihren Sozialsystemabbau-Vorhaben abzulenken. Nicht die Erhöhung des Renteneintrittalters sollte im Mittelpunkt der Medienberichte stehen, sondern die angeblichen Gefahren für die französische Nation durch Überfremdung und Kriminalität. Mit verschiedenen rechten Kampagnen gegen Muslime, die begleitet wurden von harten Polizei-Abschiebeeinsätzen gegen Roma, sollte eine Mentalität der Stärke demonstriert werden. Einige Zeit ist es der UMP gelungen mit ihren Angriffen gegen Muslime und Roma, die Fremdenfeindlichkeit und Antiziganismus bediente, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen und eine breite Diskussion anzufachen, die gar über die Landesgrenzen hinaus ging und auch in anderen europäischen Ländern zum Gesprächsthema wurde. Doch die Rechnung ist nicht aufgegangen. Die Proteste gegen die Rentenreform, die nie ganz verstummt sind, haben innerhalb weniger Tage eine neue Qualität erreicht. Die Protestbewegung ist zu einer breiten Widerstandsfront mit viel berechtigter Wut angewachsen, an der sich immer mehr Bevölkerungsteile mit den unterschiedlichsten Mitteln mit ein brachten und an der sich laut den Gewerkschaften im Oktober tagelang durchschnittlich drei Millionen Menschen aktiv beteiligten. Die Proteste und Aktionen haben sich im weiteren Verlauf nochmals verschärft und an Wirksamkeit zugenommen. Arbeiter, Angestellte, Schüler und Studenten gingen gemeinsam oder getrennt auf die Straßen und führten Streik- und Blockadeaktionen durch. Züge im Fern- und Nahverkehr fielen aus, der Flugverkehr wurde eingeschränkt, etliche Postämter, Schulen und Universitäten wurden immer wieder geschlossen. Im öffentlichen Sektor boten Krankenhäuser, Kindergärten ihre Dienste nur eingeschränkt an. Lastwagen blockierten auf Autobahnen in allen Landesteilen Autobahnzubringer, Ein- und Ausfahrten. Privatunternehmen klagten über Umsatzeinbußen im dreistelligen Millionenbereich. Zudem wurden alle zwölf Raffinerien des Landes blockiert und standen still. Als das Benzin rasch knapp wurde, immer mehr Tankstellen ihren Betrieb einstellten und die Presse vermeldete, dass Diesel in dieser Situation begehrter als Champagner ist, drohte der französische Präsident Nicolas Sarkozy unverhohlen die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen zu lassen. Denn zudem haben zeitgleich Jugendliche mit spontanen, militanten Aktionen, die sich unabhängig und außerhalb der Gewerkschaftsbewegung entwickelten, den Polizeiapparat auf den Plan gerufen. Die Gewerkschaften jedenfalls verkündeten, dass sie keinerlei Garantien mehr geben könnten, wenn die Jugend rebelliere, weil sie diese nicht unter ihrer Kontrolle hätten. Der Regierung und ihrer Behörden schienen diese gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht ganz ungelegen zu kommen. Jedenfalls versuchte die konservative Regierung, mit Hilfe der bürgerlichen Medien, mit Gewaltszenen, mit den Bildern von brennenden Autos und geplünderten Geschäften einen Meinungsumschwung in der Bevölkerung einzuleiten. Am Mittwoch dem 27. Oktober, dem Tag als das konservative Regierungsbündnis das Gesetz in der Nationalversammlung verabschiedete, flauten die Proteste vorerst ab. Aber die Mehrheit der Bevölkerung steht laut verschiedener Meinungsumfragen immer noch hinter der Protestbewegung und in Deutschland war innerhalb der Bevölkerung wieder viel Bewunderung für die „französische Streikkultur“ zu vernehmen Die Gewerkschaften haben gleich nach der Verabschiedung des Gesetzes neue Proteste angekündigt. rab