Ist der Marxismus geschlechtsblind?

Gerade stand der weltweite Frauenkampftag an. In vielen Städten in Deutschland riefen breite Bündnisse auf, am 8. März zum „feministischen Kampftag“ auf die Straßen zu gehen. Feminismus ist heute ein sehr gängiger Sammelbegriff für alle, die für die Befreiung der Frau einstehen wollen – gleichzeitig gibt es einige Probleme mit feministischen Vorstellung, die dem Marxismus teils explizit gegenüberstehen. Dies zeigt sich auch in Diskussionen innerhalb der Bewegung, in denen häufig die Annahme vorherrscht, der Marxismus würde keine ausreichende Antwort auf die Frauenfrage bieten. Aber was ist dran an dem Vorwurf, der Marxismus sei geschlechtsblind?

Das Herausbilden der feministischen Bewegung wie wir sie heute kennen geht vor allem auf die 1970er Jahre zurück. Zu dieser Zeit bildete sich eine Strömung heraus, die die Frauenfrage nicht als ein Thema innerhalb der großen sozialen Frage begreifen wollte, wie es bisher im Marxismus üblich war. Die angebliche “Geschlechtsblindheit” des Marxismus sollte überwunden werden und der Frauenfrage mehr Eigenständigkeit eingeräumt werden. In der gleichen Zeit, in welcher auch der Wiederaufbau des Kapitalismus in der UdSSR an Fahrt aufnahm und die Arbeiterbewegungen aller Länder vom Revisionismus geprägt waren und an Stärke verloren, begann auch eine Kritik am Marxismus und der Arbeiterbewegung innerhalb der Frauenbewegung. Dabei wurden verschiedene Ansätze entwickelt, der größere Teil wendete sich vollständig vom Marxismus ab, während ein kleiner Teil den Anspruch verfolgte, den Marxismus und den Feminismus zusammenzubringen. Innerhalb dieser zweiten Welle der Frauenbewegung fand eine umfassende Debatte statt, inwiefern der Marxismus geeignet sei, ergänzt oder verworfen werden müsse, um die Unterdrückung der Frau zu erklären.

In expliziter Abwendung zum Marxismus entwickelten sich in dieser Zeit die radikalen feministischen Bewegungen, die das Patriarchat als ein eigenständiges Unterdrückungssystem betrachteten, das unabhängig, als eigene Struktur neben dem Kapitalismus und der Klassengesellschaft existiert. Die wichtigsten Merkmale dieser Strömungen sind, dass sie das Patriarchat als eigenständiges Herrschafts-/Unterdrückungssystem der Männer über die Frauen formulieren. Klassenverhältnisse werden dabei entweder als zweites Ausbeutungssystem neben Patriarchat oder auch häufiger als nur ein Differenzmerkmal unter vielen verstanden. Der Ansatz des Marxismus, Klasse als primär zu setzen, wird als ökonomistisch und reduktionistisch abgewiesen. Der radikale Feminismus behauptet, dass Männer ein objektives Interesse an der Unterdrückung der Frau hätten, da sie von ihrer reproduktiven Tätigkeit profitieren würden und betrachtet das Verhältnis von Mann und Frau unabhängig von Zeit und Gesellschaftsform. Männer werden dabei zum Bezugspunkt und zum Hauptgegner von Frauen. Dabei ignoriert er die ökonomischen Grundlagen der Unterdrückung und stützt sich auf ein metaphysisches Patriarchatskonzept.

Die Debatte in den 1970er Jahren spiegelt sich auch in der jetzigen wider, denn bis heute sehen sich Marxisten dem Vorwurf ausgesetzt, die Frauenfrage nur als „Nebenwiderspruch“ zu betrachten. Als Reaktion auf diesen Vorwurf versuchen viele, Marxismus und Feminismus zusammenzubringen und der „marxistische Feminismus“ (wie er von Theoretikerinnen wie Silvia Federici oder Nancy Fraser entwickelt wurde) scheint eine gute Möglichkeit, den Vorwurf zu umgehen, ohne den Marxismus zu verwerfen. Doch der marxistisch Feminismus bringt zahlreiche Probleme mit sich: Da er sich weigert, der Klassengesellschaft die entscheidende Rolle zuzuschreiben, aus der heraus sich das Patriarchat erklären lässt, bestehen Kapitalismus und Patriarchat in ihm als zwei nebeneinander bestehende Systeme. Er betrachtet die unbezahlte Hausarbeit, der Marx zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätte, als entscheidend für die Unterdrückung der Frau und konzentriert sich auf diesen Bereich. Daher kommen auch Vorstellungen und Ideen wie der Reproduktionsstreik, in dem Frauen die Reproduktionsarbeit verweigern – Ziel ihres Widerstands sind dabei Kapitalisten und Männer. Die Gegensätze zwischen Arbeiterfrau und Kapitalist und zwischen Frau und Mann bestehen in dieser Vorstellung nebeneinander, ohne zu betrachten, inwiefern sowohl Produktion als auch Reproduktion in der Klassengesellschaft der Klassenherrschaft unterworfen sind. Doch der marxistische Feminismus verstrickt sich nicht nur in zahlreiche Widersprüche, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, sondern die Begründung seiner Notwendigkeit, die angebliche Geschlechtsblindheit des Marxismus, muss grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Die Entstehung der Idee, dass der Marxismus geschlechtsblind sei, lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Ein wichtiger Aspekt ist der fehlende Zugang der feministischen sowie sozialistischen Bewegung vor allem der USA zu den Erfahrungen der proletarischen Frauenbewegung sowie der Sowjetunion in der Frauenfrage. Die proletarische Frauenbewegung war ein Bestandteil der Arbeiterbewegung und betrachtete die Unterdrückung der Frau nicht neben der sozialen und damit der Klassenfrage, sondern als Teil dieser. Sie stützte sich in ihrem Kampf nicht nur auf die organisatorische Stärke der Arbeiterbewegung, sondern vor allem auch auf den Marxismus als die Theorie, die die Stellung der Arbeiterfrauen erklären und somit den Weg zu ihrer Veränderung aufzeigen konnte. Schon Engels beschrieb, wie erst mit der Entstehung des Privateigentums und der Klassengesellschaft die Frau dem Mann untergeordnet wurde und die Trennung zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit überhaupt ihren Ursprung fand. Diese geschlechtliche Arbeitsteilung und die Unterordnung der Frau unter den Mann ziehen sich durch alle Klassengesellschaften. Mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, welche die Subsistenzwirtschaft und die häusliche Produktion zurückdrängten, wurden werktätige Frauen in großer Zahl in den öffentlichen Produktionsprozess geworfen. Durch die Proletarisierung der Frauen wurde die Grundlage für eine Frauenbewegung geschaffen. Clara Zetkin schrieb: „Die Frauenemanzipationsfrage ist ein Kind der Neuzeit, und die Maschine hat dieselbe geboren.“ Denn mit dem Beginn der Erwerbsarbeit der Frauen im Kapitalismus wurde die untergeordnete Stellung der Frau sowie fehlende politische Rechte immer schwieriger zu rechtfertigen. Auch die Notwendigkeit der Ehe und Vererbung hat sich für das Proletariat im Kapitalismus aufgehoben. Damit schafft der Kapitalismus die Grundlage für die Frauenbewegung, die vollständige Aufhebung der Frauenunterdrückung ist aber erst im Sozialismus möglich. Denn das Kapital profitiert vom Patriarchat und macht sich die geschlechtliche Arbeitsteilung und bestehende Ungleichheiten zunutze. Das Kapital ist darauf angewiesen, möglichst günstig und flexibel auf Arbeitskraft zuzugreifen. Indem die notwendige Arbeit zur Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft unbezahlt (von Frauen) gemacht wird, ist der Preis der Ware Arbeitskraft geringer. Dies ermöglicht es für das Kapital, weniger Lohn auszuzahlen und so mehr Profit zu machen. Denn die Reproduktionsarbeit ist im marxistischen Sinne selbst nicht produktiv, da sie keinen Mehrwert schafft. So ist diese für den Kapitalisten nur zusätzliche Kosten, die es zu reduzieren gilt. Die Unterdrückung und Doppelbelastung der Frau im Kapitalismus nützen in erster Linie dem Kapital in der Ausbeutung von Arbeitskraft. Doch die proletarische Frauenbewegung erkannte auch bereits, dass die Frauen ihre Perspektive gegen diese Verhältnisse im Kampf gegen das Ausbeutungssystem als Ganzes gefunden hatten. Sie betonten die Rolle der Frauen als Arbeiterinnen, die durch den Kapitalismus unweigerlich immer weiter in den Produktionsprozess hineingezogen werden, die auch nur als Arbeiterinnen durch den Streik gegen das Kapital das System angreifen können, das sie unterdrückt. In der jungen Sowjetunion, dem ersten sozialistischen Staat der Menschheitsgeschichte, wurden unter Lenin und Stalin enorme Schritte in der Zurückdrängung der Unterdrückung der Frau getan, die kein westliches Land in dieser Zeit erreichte. So wurde Sorgearbeit in hohem Maße vergesellschaftet, der Bildungsgrad von Frauen extrem erhöht, sowie das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Abtreibung eingeführt. Noch heute bleiben viele kapitalistische Staaten hinter dem Stand der Sowjetunion Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Dennoch ignorierte und ignoriert die feministische Bewegung diese Errungenschaften.

 

Ein wesentlicher Irrtum des Feminismus besteht darin, dass dieser die Analyse und Lösung der Unterdrückung der Frauen im 20. und 21. Jahrhundert immer wieder in den Werken von Marx und Engels aus dem 19. Jahrhundert sucht und sich darauf beschränkt, statt den Marxismus als Theorie und Leitfaden für die Praxis zu begreifen, heißt den historischen Materialismus auf die aktuelle Situation der Frau anzuwenden und dadurch diese zu verstehen. In der Beschäftigung mit dem Marxismus wird klar, dass es gerade der Blick auf Klasse und damit die Produktionsverhältnisse ist, der uns ein Verständnis von Geschlechterverhältnissen und -unterdrückung ermöglicht. Der Marxismus muss nicht um den Feminismus ergänzt werden. Ganz im Gegenteil: Der Marxismus ist das einzige Werkzeug, mit dem die Frauenunterdrückung wirklich erklärbar ist, ohne Geschlecht und Rollenbilder zu naturalisieren. Der Klassenkampf ist der einzige Hebel, um die Frauenunterdrückung aufzuheben. Der 8. März sollte für uns ein Anlass sein, die Erfahrungen der Arbeiterbewegung im Kampf um die Befreiung der Frau und den historischen Materialismus zu studieren, um auch heute zu sinnvollen Losungen und Kampfformen zu kommen. Der Marxismus ist nicht geschlechtsblind, im Gegenteil – es wird höchste Zeit, dass die feministische Bewegung aufhört, blind gegenüber dem Marxismus zu sein.