Warum sollten Studierende sich mit dem Marxismus beschäftigen – egal ob sie Naturwissenschaften oder Soziologie studieren? Eine Antwort darauf formuliert J.D.Bernal in dem Text „Marx and Sience“ von 1952.
Von den Vorlesungen im Fachbereich Geschichte bis zu denen in der Physik wird uns häufig erzählt, Wissenschaft müsse neutral bleiben und habe mit politischen Fragen erstmal nichts zu tun. Doch diese Vorstellung kommt an ihre Grenzen, sobald die Geschichte des Faschismus genutzt wird, um daraus heute politische Schlussfolgerungen für das Staatsverhältnis von Deutschland und Israel zu ziehen oder wenn in der Physik Erkenntnisse gemacht werden, mit denen Bomben gebaut werden können, die große Teile Welt in einem Fingerschnipsen auslöschen würden. Und auch im alltäglichen Leben beeinflusst der Stand der Wissenschaft und der Technologie uns jeden Tag, spätestens wenn Jobs in der Industrie aufgrund der „Digitalisierung“ auf dem Spiel stehen. Wie ausschlaggebend Technik für die Gesellschaft ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass mit der Industrialisierung, maßgeblich befeuert von der Dampfmaschine, die kapitalistische Gesellschaft, in der wir heute leben erst aus der Taufe gehoben werden konnte.
Es war das Verdienst von Marx, dass er „das erste Mal den grundlegenden sozialen Charakter der Wissenschaft“ gezeigt hat. In seinem Text zeichnet Bernal nach, wie „Marx ein Marxist wurde“: Wie er die Philosophie studierte, den dialektischen und historischen Materialismus als Grundlage der marxistischen Weltanschauung entwickelte und wie er in Abgrenzung zur Religion sein wissenschaftliches Denken entwickelte. Anhand von Marx‘ Lebenswerk betrachtet Bernal die Wichtigkeit der Wissenschaften (von Mathematik über Ökonomie bis zur Biologie) für Marx‘ Überlegungen. Anhand von Marx‘ Lebenswerk selbst zeigt er, warum der Marxismus keine Weltanschauung ist, die nur die gesellschaftlichen Kämpfe berührt, sondern im Gegenteil alle Bereiche des Lebens und der Wissenschaft, indem sie die Rolle der Wissenschaften in der Gesellschaft einordnet und die jeweilige Wissenschaft damit erst auf realen Boden stellt. Dabei kommt bei Bernal nicht zu kurz, welche Rolle Marx‘ journalistische und vor allem politische Tätigkeit spielte, die die Entwicklung seiner Theorien mit dem Klassenkampf verband. Er zitiert Marx selbst: „Wie die Ökonomen die wissenschaftlichen Vertreter der Bourgeoisklasse sind, so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats.“ Solange sich der Kapitalismus noch nicht ausreichend entwickelt hatte, um die Perspektive des Sozialismus aus ihm heraus zu entwickeln, mussten die Sozialisten und Kommunisten „Utopisten“ bleiben, die sich neue Systeme einfach ausdenken. „Aber in dem Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. (…) Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.“ Bernal wird in seinem Text der Tatsache gerecht, dass der Marxismus nicht nur zufällig sowohl das politische Leben als auch den Bereich der Wissenschaft in sich verbindet, sondern es in der marxistischen Weltanschauung gerade philosophisch und erkenntnistheoretisch angelegt ist, die ganze Welt zu begreifen und zu verstehen, um sie im Umkehrschluss zu verändern, wie es schon in der elften Feuerbach-These formuliert ist: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Für uns Studierende heute heißt das, dass unsere Beschäftigung mit dem Marxismus uns von den Protesten auf der Straße bis in die Bibliotheken und Hörsäle begleiten muss, dass wir ihn studieren müssen, um nicht nur die Gesellschaft und unseren politischen Kampf besser zu verstehen, sondern auch unsere wissenschaftliche Tätigkeit. Denn die Wissenschaft steht nicht im Gegensatz zum politischen Kampf, wie es gerne behauptet wird („Die jungen Leute sind ja alle revolutionär, aber wenn die einmal ein Ökonomie-Lehrbuch aufschlagen, dann vergeht das schnell“), sondern erst durch die Perspektive, dass jeder Bereich des Lebens gebraucht wird, um unseren Kampf für eine neue Gesellschaft zu führen, können wir uns auch wirklich mit ausreichender Perspektive dem Studium der Ökonomie, der Naturwissenschaften, der Geschichte oder der Pädagogik widmen. Um die neue Welt zu bauen, brauchen wir nicht nur politische Einsicht, sondern müssen in jedem noch so kleinen Detail verstehen, wie diese Welt funktioniert: Wie man die Häuser baut, wie die Maschinen funktionieren, warum es regnet oder schneit, wie man Kinder erzieht und wie man Krankheiten heilt. Uns all dieses Wissen schon heute mit einer Perspektive anzueignen, die die neue Welt am Horizont hat, lässt uns unsere wissenschaftliche Tätigkeit als das begreifen, was sie ist: Eine gesellschaftliche Tätigkeit.