Was ist von der ökologischen Agenda der EU übriggeblieben?

Am Mittwoch, den 29. Mai, richteten zehn europäische Gelehrtengesellschaften und Netzwerke von Forschungseinrichtungen, in denen mehrere tausend Wissenschaftler zusammengeschlossen sind, einen offenen Brief an die europäischen Politiker.

In diesem Schreiben prangern sie an, dass die EU Umweltfragen aufgibt oder zurücknimmt, die „unsere gemeinsame Zukunft bedrohen“. Nach Ansicht dieser Wissenschaftler basieren die meisten Begründungen für diese Entscheidungen „auf Fehlinformationen“ und werden „stark von den Einzelinteressen von Wirtschaftsgruppen und Unternehmen beeinflusst, die sich in gewalttätigen oder undemokratischen Methoden ausdrücken“.

Gehen wir zurück zum Dezember 2019, als Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament den „Green Deal“ vorstellte, der den EU-Ländern das Ziel setzte, bis 2050 CO2-neutral zu werden und die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % im Vergleich zum Stand von 1990 zu senken. Der mit Milliarden Euro ausgestattete Plan sollte die europäische Wirtschaft ankurbeln, indem er sie in ökologische Großprojekte und Investitionen in die Erforschung technologischer Lösungen lenkte.

Doch weniger als zwei Jahre später, im September 2022, plädierte Thierry Breton, Kommissar für Binnenmarkt und Industrie, für eine Ruhepause bei der Umsetzung der in dem Plan enthaltenen Maßnahmen. Macron übernahm den Staffelstab und forderte im Mai 2023 ebenfalls eine Pause bei der Regulierung von Umweltstandards. Er will „Unternehmen schützen, die im Wettbewerb mit Ländern stehen, die in ökologischer Hinsicht schlechter dastehen“. Ihm folgte der belgische Premierminister, der nichts anderes forderte.

Im September 2023 legte Olaf Scholz ein Veto gegen die Überarbeitung der REACH-Verordnung1) ein, die das Flaggschiff der deutschen Chemieindustrie benachteiligen würde.

Im Oktober 2023 forderten der niederländische Konservative, der neue Klimakommissar aus der EVP, und der slowakische Populist, der als EU-Kommissar den Grünen Pakt überwachen soll, im Chor, einen Fuß auf die Bremse zu setzen.

 

Nicht vollständige Liste der in Frage gestellten Maßnahmen

Verzicht auf die Verordnung über den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden; Absenkung der Umweltstandards der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP); Verzicht auf den Entwurf einer Verordnung über nachhaltige Lebensmittelsysteme; Pläne, die Anforderungen der Nitrat-Richtlinie zu senken; Behinderung der Umsetzung des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur; Wiederzulassung von Glyphosat für ein Jahrzehnt; Abbruch der Gespräche über die Erhaltung alter Wälder; Aufrufe zur Aufhebung der Abholzungs-Vorschriften oder zur Senkung des Schutzniveaus für große Fleischfresser.

 

Wie lässt sich dieser Umschwung erklären?

Ab 2022 traten mehrere wichtige politische Ereignisse ein, die den Ökologieplan der EU durchkreuzten. Angefangen mit dem Krieg in der Ukraine, der die Energieversorgung der stark von russischem Gas abhängigen EU belastet, was sich auf die Energiepreise auswirkt. Er hat als direkte Folge eine Inflation, die sich in erster Linie auf das Budget der Haushalte, aber auch auf die Unternehmen auswirkt. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Industrieländern tobt und die EU wird durchgeschüttelt. Ein EU-Diplomat gesteht: „Die Wettbewerbsfähigkeit ist zur Hauptsorge der Staats- und Regierungschefs geworden. Wenn wir heute über den Green Deal diskutiert hätten, gäbe es keinen Green Deal“!

Die Aufhebung der Zölle auf ukrainische Agrarprodukte wird Reaktionen in der Landwirtschaft auslösen, und die Wut über Dieselpreise, Normen und Ähnliches wächst. Maßnahmen, die die Verwendung bestimmter Pflanzenschutzmittel einschränken, Freihandelsabkommen… führen in den ersten Monaten des Jahres 2024 zu bedeutenden Mobilisierungen in Frankreich, aber auch in Deutschland, Spanien, Belgien und anderen EU-Ländern. Bei diesen Mobilisierungen zeigte sich, dass die extreme Rechte mit EU-feindlichen Parolen stark vertreten ist. Die Europawahlen standen vor der Tür und die europäischen Staats- und Regierungschefs kamen nicht umhin, den Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in den verschiedenen Ländern zu beobachten, die aus dieser Wut Kapital geschlagen haben.

Dies diente der EU-Exekutive als Vorwand, um einen Stopp der Maßnahmen des Green Deal zu beschließen; denn es ist in erster Linie die Verteidigung der Interessen der mächtigsten europäischen Monopole, insbesondere der Chemie- und Agrarindustrie, die die Politik der Europäischen Kommission bestimmt.

 

1) – Mit der Überarbeitung der REACH-Verordnung sollte die Verwendung einer Vielzahl gefährlicher Chemikalien, die in vielen Produkten des täglichen Bedarfs enthalten sind, verboten oder massiv eingeschränkt werden.

 

(aus „La Forge“ 07/08-2024; Zeitung der PCOF)