US-Präsident Biden spricht davon, dass der Haftbefehlsantrag des Chefanklägers vom Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joav Galant “empörend” sei. Hier in Deutschland äußert sich der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz in einem Interview wie folgt: „Schon die Beantragung des Haftbefehls zugleich gegen Premier Netanjahu und Hamas-Führer Sinwar ist eine absurde Täter-Opfer-Umkehr.”
Was ist geschehen?
Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, hat sowohl gegen drei Hamas-Führer (Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyeh) als auch gegen die beiden israelischen Amtsträger Netanjahu und Galant einen Haftbefehl beantragt. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist ein Gerichtshof mit Sitz in Den Haag. Seit 2003 hat er die Aufgabe, besonders schwere Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression (Angriffskrieg) zu verfolgen.
Khan bezieht sich in seiner Anklage auf die Verbrechen seit dem 7.Oktober. Im Vordergrund der Anklage gegen die drei Hamas-Führer steht der Vorwurf der Geiselnahme. Sinwar, Al-Masri und Haniyeh werden zudem weitere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Dazu gehören Ausrottung, Mord, Vergewaltigungen und weitere Sexualverbrechen, Folter sowie unmenschliche Behandlung. Der zentrale Vorwurf gegen Netanjahu und Galant bezieht sich hingegen auf das Aushungern der Zivilbevölkerung. Es geht um die humanitäre Katastrophe in Gaza, die unter anderem Produkt der systematischen Abschottung der palästinensischen Bevölkerung von lebenswichtigen Gütern wie Essen und Medizin durch Israel sei. Ob der IStGH den Anträgen folgt und die Haftbefehle erlässt, muss jetzt die sogenannte Vorverfahrenskammer, die aus drei Richterinnen besteht, entscheiden.
Ein Erfolg der internationalen Solidarität!
Dass es überhaupt zu dem Antrag auf Klageerhebung und zu dem Haftbefehlsantrag gekommen ist, ist vor allem auf die große internationale Solidarität mit dem palästinensischen Volk und den massiven Protesten gegen den brutalen Krieg des Staates Israel gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas zurückzuführen. Ohne diese Proteste hätte es einen solchen Schritt nicht gegeben.
Das humanitäre Völkerrecht – ein bloßer Spielball
Eine Anklage und Haftbefehl als Folge des Antrages ist angesichts dessen, dass der UN-Sicherheitsrat nach den Regeln des Gerichts eine Resolution verabschieden kann, die eine Untersuchung oder eine Strafverfolgung für ein Jahr aussetzt oder verschiebt, äußerst unwahrscheinlich. Der Internationale Strafgerichtshof soll zwar das humanitäre Völkerrecht auf internationaler Ebene durchsetzen, doch bleibt es ein selektives Mittel zum Zweck. Erst, wenn es der Stabilisierung globaler Machtordnungen und Machtinteressen dient, beruft man sich auf das Recht. So befürworteten die USA den 2023 erlassenen Haftbefehl gegen Wladimir Putin. Dieser war wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten Gebieten in der Ukraine nach Russland ergangen. Angesichts des imperialistischen Machtkampfes zwischen dem Westen mit den USA an der Spitze und China und Russland auf der anderen Seite, kommt der Haftbefehl den USA gelegen.
Das Völkerrecht ist demnach ein Spielball. Je nachdem, ob es dazu dient, die eigenen Interessen durchzusetzen, kommt es zum Einsatz. Um selbst aber nicht ans Völkerrecht gebunden zu sein, erkennen die USA neben Israel, China, Russland, Indien, beinahe alle arabischen Staaten sowie Iran den Internationalen Strafgerichtshof nicht an. So bleiben Verbrechen, die von den Großmächten oder ihren Verbündeten begangen werden, meist ungeahndet. Daher hatte die Untersuchung des IStGH 2015, ob die US-Armee Gefangene in Afghanistan misshandelt hat, keine rechtlichen Konsequenzen für US-Streitkräfte. Diese Doppelmoral untergräbt die Glaubwürdigkeit des IStGH und zeigt, dass die Verfolgung von Einzelpersonen nicht auf universellen Prinzipien der Gerechtigkeit basiert, sondern auf den geopolitischen Interessen der dominanten Mächte. Zur Festnahme und Auslieferung wären nur die Mitgliedsstaaten verpflichtet, sobald die jeweilige Person das entsprechende Staatsgebiet betreten würde. So müssen sowohl Wladimir Putin als auch Benjamin Netanjahu keine tatsächlichen Konsequenzen befürchten. Die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs haben Symbolcharakter. Sofern man sich in keine der Mitgliedstaaten begibt, hat man nichts zu befürchten. Das Symbol einer neutralen und gerechten internationalen Ordnung soll aufrechterhalten bleiben. Indem der Gerichtshof einzelne Staats- oder Regierungschefs zur Verantwortung zieht, vermittelt er den Eindruck, dass internationales Recht unabhängig von Machtverhältnissen durchgesetzt wird.
Individuelle Sündenböcke
Der IStGH verhandelt über Einzelpersonen. Er wird nur tätig, wenn eine Person im Verdacht steht, eines der vier Kernverbrechen verantwortet zu haben: Völkermord, schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder einen Angriffskrieg. Indem sich auf individuelle Verantwortlichkeiten konzentriert wird und einzelne Täter bestraft werden, verkennt das IStGH die systemischen Ursachen. Der Nahostkonflikt ist ein imperialistischer Konflikt. Israel steht unter der Schirmherrschaft der USA, die ihrerseits geopolitische und ökonomische Machtinteressen in der Region verfolgt und dementsprechend den israelischen Apartheidstaat unterstützt. Dabei befinden sich die USA in einem Widerspruch, es sich mit den arabischen Staaten als wichtige Handelspartner und Israel als geostrategische Stütze und Widersacher gegen den Iran nicht zu verscherzen. Auch Deutschland befindet sich in jenem Widerspruch. So unternahm Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zusammen mit einer Wirtschaftsdelegation im Januar diesen Jahres zur “Stärkung der Energie- und Wirtschaftsbeziehungen mit der Region” eine Reise nach Oman, Saudi-Arabien, Israel und ins Westjordanland. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 25.000 Menschen durch israelische Bombardements auf den Gazastreifen gestorben. Der Krieg im Nahen Osten folgt aus dem Wesen des Imperialismus und wird durch imperialistische Interessen getragen. Das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser wird durch keinen Haftbefehl einzelner Amtsträger gestoppt.
Mehr Schein als Sein
Der Antrag auf einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu und Joav Galant ist zwar ein politischer Erfolg der internationalen Solidarität, aber real mehr Schein als Sein. Damit soll die Illusion einer neutralen und gerechten Justizgemeinschaft aufrechterhalten werden. Eine solche existiert nicht. Die Illusion soll die internationalen Proteste gegen die Doppelmoral der Imperialisten und die pro-palästinensische Solidarität besänftigen und von der eigentlichen Verantwortung ablenken. Dem entgegen sollte dieser Anlass genutzt werden, um den Druck zu erhöhen und die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstopp nach Israel und einen sofortigen Waffenstillstand lauter werden zu lassen.