79. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Was heißt „Nie wieder“?

Der 79. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz steht an und das Gedenken rund um die Verbrechen des Faschismus ist so umkämpft wie nie. Die Parole „Nie wieder“, die berechtigterweise in Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenken steht, muss für alles Mögliche herhalten. Zuletzt wurde von Politik und Medien immer wieder ein Zusammenhang zwischen dem Holocaust-Gedenken und der bedingungslosen Solidarität mit Israels Vorgehen im Gazastreifen hergestellt.

Die Nutzung der Parole „Nie wieder“ in der deutschen Politik hat eine lange und zuletzt wenig glorreiche Vergangenheit. Ein bekanntes Beispiel ist Joschka Fischer, der Grünen-Politiker, der den Eintritt Deutschlands in den Kosovo-Krieg im Jahr 1999 mit der Losung begründete: „Nie wieder Auschwitz“ und somit die serbische Aggression gegen die Kosovo-Albaner mit dem Holocaust verglich. Der folgende Kriegseinsatz forderte 12.000 bis 15.000 Tote und war der erste deutsche Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch in den letzten Wochen sehen wir, dass die Losung „Nie wieder!“ nicht nur genutzt wird, um gegen Antisemitismus in Deutschland zu demonstrieren, sondern auch, um die israelische Kriegsführung im Gazastreifen zu rechtfertigen und „bedingungslose Solidarität mit Israel“ zu fordern. Hier wird der 7. Oktober schnell in Verbindung gebracht mit dem Massenmord der deutschen Faschisten an den europäischen Juden und die israelische Aggression somit ein Kampf gegen Antisemitismus, den Deutschland aus seiner historischen Schuld heraus bedingungslos mit Waffen und Geld unterstützen muss.
Die deutsche Politik bedient sich immer wieder des Gedenkens an die Opfer des Holocausts, wobei der Inhalt und die Konsequenzen des Gedenkens jedoch den aktuelllen geopolitischen Motiven angepasst werden. Diese Versuche der Regierung, die Bevölkerung mit dem Argument der historischen Verantwortung hinter ihrer Politik zu sammeln, waren zuletzt recht erfolglos – siehe die geringen Teilnehmerzahlen an den Regierungskundgebungen unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt!“. Dieses Spielen mit historischen Losungen wird jedoch weder dem Schutz von Jüdinnen und Juden sowie anderer Minderheiten in Deutschland noch den Lehren von Auschwitz gerecht – es ist viel eher eine Instrumentalisierung, die nur dann möglich wird, wenn man „Nie wieder!“ jedes tatsächlichen Inhalts beraubt.

Teilweise ist die Hemmung, sich dem Gedenken an den Holocaust zu nähern und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, besonders in Deutschland nachvollziehbar. Wenn wir vor dem Ausmaß des Verbrechens eines systematischen Massenmordes gegen eine ganze Bevölkerungsgruppe stehen, dann ist verständlich, dass einige Stimmen sich dagegenstellen, überhaupt zu versuchen, den Holocaust zu erklären. So sagt zum Beispiel der Überlebende Elie Wiesel, dieser liege „außerhalb, wenn nicht jenseits der Geschichte“. Der Versuch, eine Erklärung für dieses Menschheitsverbrechen zu finden, wird auch häufig aus der Befürchtung abgelehnt, dass man damit die Bedeutung und Einmaligkeit des Grauens relativieren würde, weil sich solch ein Ereignis eben nicht erklären ließe. Auch wenn diese Reaktion erst einmal verständlich wirkt, verhindert sie auch, Lehren aus diesem Ereignis zu ziehen und aus dem Gedenken einen politischen Kampf zu entwickeln. Wenn man dabei stehen bleibt, den Holocaust als einen Ausdruck des menschlichen Abgrundes oder des Bösen zu betrachten, dann kann aus diesem Erbe alles gemacht und gefolgert werden.
Doch die Geschichte des deutschen Faschismus, von der der Holocaust ein Teil ist, kann nicht nur erklärt und verstanden werden, sondern muss es auch. Der Faschismus war und ist die politische Formation, die sowohl den Holocaust als auch den opferreichsten Krieg der Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat. Doch selbst diese Formation hat Bedingungen, unter denen sie entsteht. Selbst solch unvorstellbare Verbrechen haben Profiteure. Und auch die deutsche Geschichte liefert sehr viel Lehrreiches darüber, wie der Faschismus entstand, als der Kapitalismus an seine Grenzen stieß. Wie er aufgebaut wurde, um ein System am Laufen zu halten, was bereits davor und auch danach für Leid und Kriege auf der ganzen Welt verantwortlich war. Der Faschismus ist die brutalste und aggressivste Form dieses Systems, aber es ist dasselbe System, das für die Verbrechen der Kolonialzeit, Kriege und Plünderungen überall auf der Welt, für Hungersnöte und Krisen und Verarmung und Elend bis heute verantwortlich ist. Dieses ist mit den Ende des Faschismus nicht besiegt worden. Viel mehr wurden die Verbrechen des Faschismus lange unter den Teppich gekehrt und seine Profiteure und Köpfe in den wenigsten Fällen wirklich bekämpft. Der Schwur, den die Überlebenden bei der Befreiung von Buchenwald leisteten, ist bis heute ein konkreter Auftrag: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“. Wenn wir heute an den Faschismus und seine Opfer gedenken, dann ist dieses Gedenken verbunden mit dem Kampf gegen Ausbeutung und Krieg im hier und jetzt. Die Losung „Nie wieder“ mit Inhalt zu füllen bedeutet auch, den Finger in die Wunde zu legen und im hier und jetzt nicht nur den Faschismus dort zu bekämpfen, wo er erstarkt, sondern auch seine Wurzeln und das System, das ihn immer wieder hervorbringt.

Umso zynischer wird es, wenn heute diejenigen, die sich für einen Waffenstillstand in Gaza und gegen Waffenlieferungen aussprechen, die sich gegen die Spaltung von Migranten und Juden einsetzen und die rassistische Politik der Regierung, die ihren realen Ausdruck in Abschiebungen und rassistischer Gewalt findet, bekämpfen und sich gegen Demonstrationsverbote und die Einschränkung der Meinungsfreiheit einsetzen, mit der Parole „Nie wieder ist jetzt“ mundtot gemacht werden. Diejenigen, die uns heute die Parole „Nie wieder ist jetzt“ entgegenbringen, standen in all diesen Fragen nie auf unserer Seite. Die Kampagne „Nie wieder ist jetzt“ in Nordrheinwestfalen wird unter anderem vom Bayer-Konzern unterstützt, dem Nachfolger der IG Farben, die ein eigenes Konzentrationslager in Auschwitz errichteten, um die Häftlinge arbeiten zu lassen, bis sie tot waren. Die Hetze gegen einen angeblichen importierten Antisemitismus wird vor allem getragen von Parteien wie der CDU, in der nach dem Zweiten Weltkrieg hochrangige Nazis wie Hans Globke, Hans Filbinger oder sogar Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger eine steile Karriere machten.
Heute werden fortschrittliche Kräfte kriminalisiert, weil sie angeblich diejenigen seien, die Antisemitismus schüren und die Gesellschaft spalten würden. Dabei sind es wir, die in der Tradition des Antifaschismus und des Friedens stehen. Unsere Vorgänger, die Kommunisten der Weimarer Republik, waren die ersten, die in den Konzentrationslagern der Nazis gefangen und ermordet wurden. Diejenigen, auf die wir uns berufen und deren Kampf wir weitertragen, waren von Anfang an die erbittertsten Gegner des Faschismus und diejenigen, die ihn in Form der Sowjetunion letztendlich unter Verlust von 27 Millionen Menschen in die Knie zwangen. Diejenigen, denen wir jedes Jahr gedenken, waren Gegner des Ersten Weltkrieges, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, und des Zweiten Weltkrieges, wie Ernst Thälmann, der schließlich in Buchenwald erschossen wurde. Konzerne und Parteien, die in direkter Kontinuität zum Faschismus stehen und von seinen Verbrechen profitierten rechtfertigen heute ihre Politik ausgerechnet mit dem Gedenken an diese. Umso wichtiger wird es, dass wir das Gedenken und die Lehren aus dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg hochhalten und mit Inhalt und Lehren füllen.