Vor wenigen Tagen wurde ein Brief veröffentlicht, in dem sich aktive und ehemalige Pilotinnen und Piloten der Luftwaffe gegen den Krieg in Gaza ausgesprochen haben. Schon vorher hatte ich von meinem ehemaligen Nachbarn und Schulkameraden aus Israel gehört, dass er mit einigen anderen jungen Soldaten den Flugdienst verweigern würde. Seine Nachricht hatte mich überrascht, denn dass Soldatinnen und Soldaten den Dienst an der Waffe, in der Luft oder auf See verweigern, ist angesichts der Rolle des Militärs mitten in der Gesellschaft und der krassen Propaganda, die vom Staat betrieben wird, eher eine Seltenheit.
Rolle der Armee
In Israel nimmt die Armee einen besonderen Stellenwert ein. Sie ist die staatliche Institution, der die jüdischen Israelis am meisten vertrauen. Durch den Wehrdienst, den sowohl Männer als auch Frauen ab 18 Jahren leisten, ist in der Regel jeder jüdische Israeli Teil der Armee oder eben gewesen. Es ist absurd, aber in Israel ist das Militär so präsent wie der Kaffee am Morgen. In der eigenen Familie hat ein Großteil, wenn nicht gar alle, Wehrdienst geleistet, auf den Straßen und im Stadtzentrum patrouillieren Soldatinnen und Soldaten und Jets über dem Kopf sind auch gängig. Schon in der Grundschule schreiben Kinder Briefe an Soldatinnen und Soldaten und danken ihnen für den Schutz des Landes und der eigenen Familie. In den darauffolgenden Jahren kommen junge Soldaten in die Klassen, um die Jugendlichen für den Wehrdienst und das Militär zu begeistern. Außerdem lernt man im Geschichtsunterricht, dass das Militär unverzichtbar war und ist, um die Sicherheit und damit die Existenz des Landes zu wahren, da ansonsten die äußeren Feinde – angeführt durch den Iran – Israel vernichten würden. In einwöchigen Camps (Gadna) wird den Jugendlichen unter 18 Jahren dieses Narrativ verkauft. Woher die Bedrohungen kommen und wem sie eigentlich nützen, wird selbstverständlich nicht angesprochen. So wird in diesen Camps nicht davon gesprochen, dass mit der Gründung Israels Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben worden sind und dass die Kriege, die im Nahen Osten seit Jahren stattfinden und nun mit den Kriegsverbrechen in Gaza und dem Sturz des Assad-Regimes lichterloh entbrannt sind, für alle Völker in der Region Tod und Zerstörung bringen. So wird nicht davon gesprochen, dass die Armee genutzt wird, um das eigene Staatsgebiet zu erweitern – davon zeugen z.B. die Golanhöhen, das Westjordanland und der Gazastreifen. Unter Befehl Netanjahus und seines Apparats – allen Voran dem Verteidigungsminister Katz – wurden sowohl Boden- als auch Luftoffensiven auf den Gazastreifen gestartet. Offiziell geht es um die Befreiung der Geiseln und die Abwehr von Bedrohungen auf Israel, die Wahrheit ist aber: Auch innerhalb der Bevölkerung und des Militärs macht sich Widerstand bemerkbar, denn dieser Krieg wird geführt, um sich die Kontrolle des Gazastreifens eigen zu machen, damit Israel mit seinem mächtigsten Verbündeten, den USA, seine Einflussgebiete und die Kontrolle über die Ressourcen und den Markt sichern kann. Was geplant ist, zeigt das verstörende Video von “Trump Gaza”.
Widerstand innerhalb des Militärs
Oben hatte ich ja bereits anhand der Verweigerung des Flugdienstes meines ehemaligen Schulkameraden und ein paar anderen Soldaten erwähnt, dass sich schon vor dem Brief der Luftwaffe (Pilotenbrief) Widerstand regte. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass die Luftwaffe vorangeht: Im Sommer 2023 – vor dem Überfall der Hamas auf Israel und dem verheerenden Gegenschlag mitsamt seiner zahlreichen Kriegsverbrechen mit über 50.000 ermordeten Palästinenserinnen und Palästinensern – hatten Pilotinnen und Piloten den Dienst verweigert. Grund war die Justizreform, die in Israel zu Massenprotesten gegen die Regierung geführt hatte. Mit dem Krieg und dem Einschwören des gesamten Landes auf Rache ist der Protest eingefroren. Stattdessen hieß es: Ganz Israel befindet sich im Krieg. Seit Kriegsbeginn richtete man sich mit der massiven Propaganda an Reservisten, da es notwendig war, sie wieder in den aktiven Dienst zu bekommen, um die Armee ausreichend mit Menschen auszustatten. Bis zum 40. Lebensjahr ist in Israel ein Reservistendienst vorgeschrieben. Und die Propaganda wirkte! Tausende Reservisten meldeten sich freiwillig. Sie meldeten sich, um die Geiseln zurückzuholen. Sie meldeten sich aber auch, weil sie seit Anbeginn ihres Lebens erzählt bekommen, dass es an ihnen liege, die “Achse des Bösen” zu brechen. Sie meldeten sich, weil sie der Überzeugung sind, dass sie das Richtige tun, gegen ihre Feinde in den Krieg zu ziehen, denn das ist das, was ihnen ein Leben lang eingetrichtert wird: Die umliegenden Staaten wollen die Vernichtung deines Landes und auch innerhalb deines Landes gibt es “böse Palästinenserinnen und Palästinenser”, die dir und deiner Familie den Tod wünschen. Trotz dieser starken ideologischen Einflussnahme kommt es hin und wieder auch bei jungen Menschen zu einer Verweigerung des Wehrdienstes. Doch der Staat weiß mit starken Repressionen umzugehen: Wer verweigert, kommt zuerst in Arrest und dann vor ein Militärgericht. Danach wird man für einige Wochen im Militärgefängnis inhaftiert. Danach beginnt der Prozess von Neuem: Der Rekrut soll seinen Dienst antreten – wenn er verweigert, wird er wieder zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Damit werden junge Menschen im Alter von 18 Jahren für ihre antimilitaristische und regierungskritische Haltung kriminalisiert und unter enormen Druck gesetzt. Entweder du dienst oder du gehst ins Gefängnis. Damit werden junge Menschen auf Regierungskurs gebracht.
Was hat sich geändert?
Die Frage ist: Warum haben die Pilotinnen und Piloten jetzt verweigert? Wer in Gaza war und ist, wird schnell desillusioniert und mit harten Fakten konfrontiert.
Wenn man zu Beginn noch überzeugt war, das Richtige zu tun, kann man den Genozid am palästinensischen Volk in Gaza nicht leugnen. Man bekommt Befehle, Krankenhäuser anzugreifen, unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten zu töten und sein eigenes Leben zu riskieren. Früher oder später fällt die Maske und man fragt sich: Wofür ziehe ich in diesen Krieg? Von der Regierung heißt es, man wolle die Geiseln retten, aber die Wahrheit des Krieges spricht andere Worte: Man zerstört und tötet wahllos. Und um die Geiseln geht es schon lange nicht mehr. Und genau hier setzt der Brief der Luftwaffe an.
Der Pilotenbrief
In dem Brief, der von circa 1000 Reservistinnen und Reservisten der Luftwaffe unterzeichnet worden ist, heißt es: Zur Zeit dient der Krieg hauptsächlich politischen und persönlichen Interessen, nicht Sicherheitsinteressen. Die Fortsetzung des Krieges trägt zu keinem der erklärten Ziele bei und wird zum Tod von Geiseln, IDF-Soldaten und unschuldigen Zivilisten sowie zur Abnutzung der Reservekräfte führen. Wir fordern die Rückkehr aller Entführten, selbst wenn dies die Einstellung der Kampfhandlungen zur Folge hätte. Wir rufen alle Bürger Israels auf, aktiv zu werden und überall und mit allen Mitteln zu fordern: Stoppt den Krieg und bringt alle Geiseln zurück – jetzt!
Guy Poran, Initiator des Briefes, äußert sich wie folgt: Es ist völlig unlogisch und unverantwortlich von den israelischen Politikern, (…) das Leben der Geiseln, das Leben weiterer Soldaten und das Leben vieler, vieler weiterer unschuldiger Palästinenser zu riskieren.
Bereits vor Veröffentlichung versuchten hochrangige Offiziere der Luftwaffe zu verhindern, dass der Brief publik gemacht wird. Ohne Erfolg. Doch der Druck hörte auch nach der Veröffentlichung nicht auf. Ranghohe Offiziere riefen die Unterzeichner direkt an und haben damit bewirkt, dass einige ihre Unterschrift zurückgezogen haben. Doch der Brief hat Wellen geschlagen und an der Unzufriedenheit angeknüpft. Bereits im Februar sprachen sich 70 Prozent der Israelis in einer Umfrage für „eine vollständige Einstellung der Kämpfe, den Rückzug aus dem Gazastreifen und die Freilassung palästinensischer Gefangener im Austausch gegen die Freilassung aller Geiseln“ aus.
Laut der israelischen Arbeitsagentur gaben 48 Prozent der Reservisten kürzlich an, seit dem 7. Oktober einen erheblichen Einkommensverlust erlitten zu haben. 41 Prozent sagten, sie seien entlassen worden oder gezwungen gewesen, ihre Arbeit wegen des Reservedienstes aufzugeben. Dazu kommen schwere psychische und soziale Belastungen für die Familien. All dies führte trotz angekündigten Drohungen seitens der Regierung Netanjahus dazu, dass mehr als 100.000 Israelis inzwischen dem Aufruf in den Reservedienst nicht mehr folgen. Die Anwesenheitsquote liegt in den letzten Wochen nur noch bei 60 Prozent, berichtete der nationale Rundfunksender Kan. Außerdem kamen seit dem Pilotenbrief Briefe von Reservisten von Kampftruppen hinzu, aus dem Panzerkorps und der Marine. Dann aus dem Militärgeheimdienst. Dann ehemalige Mossad-Mitarbeiter. Immer mehr mit dem Militär verbundene Israelis unterzeichnen in diesen Tagen Briefe, in denen sie ihre Kritik gegen die Politik der Regierung zum Ausdruck bringen und ein Ende des Gazakriegs fordern. Jeden Tag kommen ein bis zwei neue Protestbriefe hinzu. Zuletzt Mitte April von etwa 200 aktiven und ehemaligen Kampfschwimmern, aber auch Lehrer und Ärzte schließen sich den Briefen an. Und auch die Überlebenden und die Familien der verbliebenen Geiseln unterzeichneten Briefe.
Reaktionen des Staates
Ohne Soldatinnen und Soldaten kann Netanjahu keinen Krieg führen, um die Kontrolle über Gaza zu erlangen. Vor diesem Hintergrund fällt die Reaktion aus. In seiner Stellungnahme zu dem Brief der Luftwaffe heißt es: Ablehnung ist Verweigerung – auch wenn sie implizit und in undeutlicher Sprache ausgedrückt wird. Aussagen, die die IDF schwächen und unsere Feinde in Kriegszeiten stärken, sind nicht zu entschuldigen. Dabei handelt es sich um eine extremistische Randgruppe, die erneut versucht, die israelische Gesellschaft von innen heraus zu brechen. Und ihr Ziel ist eins: die Regierung zu stürzen. Sie haben dies bereits vor dem 7. Oktober versucht und die Hamas interpretiert den Brief als Schwäche. Eyal Zamir, der neue Armeechef, gab die Anweisung, Politik aus der IDF so weit wie möglich herauszuhalten. Doch das ist genau die Stärke des Briefs, nämlich zu erkennen, dass die Politik Netanjahus nicht im Interesse der Geiseln und nicht im Interesse des israelischen und palästinensischen Volkes handelt, sondern das Ziel verfolgt, den Gazastreifen zu kontrollieren und mit den USA ein “Trump Gaza” aufzubauen. Darüber freuen sich dann die Bau-Unternehmen und Konzerne, die sich dort einen freien Markt abgreifen.
Hoch die internationale Solidarität
Die Verweigerung von Soldaten in Israel kann ein Hoffnungsschimmer sein – denn der Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung wird nicht für die Sicherheit Israels oder seiner Bürger geführt. Das haben die letzten Monate deutlicher als je zuvor gezeigt. Dass auch in Israel Menschen den Krieg und die Unterdrückung Palästinas in Frage stellen und sich nicht länger beteiligen wollen ist auch für den Kampf um die Befreiung Palästinas entscheidend – umso wichtiger, dass jetzt Druck aufgebaut wird, der für die Netanyahu-Regierung tatsächlich zum Problem werden kann!
Wir verurteilen die einseitige Aufkündigung des Waffenstillstands durch Israel und die damit einhergehende Bombardierung des Gazastreifen und die Blockade von jeglichen Hilfslieferungen nach Gaza. Wir fordern einen sofortigen Stopp deutscher Waffenlieferungen an Israel, die den Krieg befeuern! Wir fordern einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand! Hoch die internationale Solidarität!
Artikel:
https://www.haaretz.co.il/news/politics/2025-04-10/ty-article/00000196-1de8-dacd-a396-1dee55c50000
https://www.inn.co.il/news/666171
https://www.kan.org.il/content/kan-news/defense/880814/