Die Menschen erheben sich – Meine Eindrücke aus der Türkei

Über das Wochenende befand ich mich aus privaten Gründen in Istanbul und konnte mir zufällig live vor Ort ein Bild von den Protesten gegen die Verhaftungen und die Absetzungen vom Oberbürgermeister İmamoğlu machen. Mein Aufenthalt war im Stadtteil Şişli. Der Stadtteilbürgermeister von Şişli ist inzwischen auch inhaftiert und an seine Stelle wurde ein Zwangsverwalter eingesetzt. Auch vor dem Rathaus in Şişli gibt es Widerstand: Hunderte Menschen führen dort tagtäglich Kundgebungen durch, trotz Versammlungsverbot und hunderten Polizeikräften, die von gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern begleitet werden. Das Versammlungsverbot gilt für ganz Istanbul. In den zentralen Stadtteilen sieht man überall Polizeikräfte – teils schwer bewaffnet. Straßen sind abgesperrt, teils gibt es keinen öffentlichen Verkehr mehr und U-Bahn Haltestellen sind abgesperrt. Es müssen Tausende vielleicht Zehntausend Polizisten und Spezialeinheiten sein, sie übernachten in den Hotels und sind wahrscheinlich aus anderen Gebieten hergebracht worden. Es ist im ersten Moment beängstigend und ähnelt einem Kriegszustand. Anscheinend hat das Ein-Mann- Regime grosse Panik vor einem Brand oder einem Feuer welches sich ausweiten könnte.

Taksim von Polizeikräften besetzt

Mit İmamoğlus Verhaftung wurde auch der Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer von einem Gericht abgesetzt. Deswegen demonstrierten spontan hunderte Juristen trotz Verbot und Einschüchterung durch die Polizeieinheiten durch die Innenstadt am Taksim Platz bis zur Anwaltskammer. Vor Ort konnte ich eine bemerkenswerte kämpferische Stimmung wahrnehmen. Alle sprechen von den Protesten und den möglichen nächsten Reaktionen des Erdogan Regimes. Und in den Augen funkelt die Hoffnung auf Veränderung. Bei Gesprächen mit zwei Taxifahrern wird mir von einem berichtet, dass er zwar kein İmamoğlu Anhänger ist, sich aber auch wegen den zunehmend schlechter werdenden Lebensbedingungen an den Protesten beteiligt hat. „So kann es nicht mehr weitergehen“ sagt er zu mir. Ein anderer Taxifahrer erklärt, es müsse ja was dran sein an den Anschuldigungen gegen İmamoğlu. Die CHP und die Protestierenden würden einen Bürgerkrieg wollen. Wahrscheinlich stammen diese Aussagen aus einer der vielen Fernsehkanäle, die dem Regime treu ergeben sind.

Gemeinsam zum CHP-Wahllokal

Ich kontaktiere meinen Onkel, um ein kleines Wahllokal in einem kleinen Bezirk zu besuchen und mich zu solidarisieren. Die Partei CHP hat an einem Sonntag ihre Mitglieder aber auch Nichtmitglieder aus Solidarität aufgerufen, sich an der Vorwahl für die Präsidentschaftskandidatur von İmamoğlu zu beteiligen. Es wurde quasi eine Solidaritätsurne aufgestellt, an dem Wahllokal kommt es zu langen Warteschlangen. Die Beteiligung ist hoch, es gleicht einer Kundgebung trotz Versammlungsverbot. Bei einem längeren Gespräch erzählt mir mein Onkel, inzwischen Rentner, von den Demonstrationen an denen er sich auch seit Jahrzehnten beteiligt hat, es müsse irgendwann genug sein, diesen Kampf müssen wir jetzt gewinnen, wir wollen endlich demokratische Zustände und müssen uns von dem Ein-Mann Regime befreien. Er ist seit seiner Jugend gewerkschaftlich aktiv, wurde dann auch mit dem faschistischen Militärputsch 1980, wenn auch nur kurz, inhaftiert und seine Gewerkschaft wurde aufgelöst und zerschlagen. Er beteiligte sich auch an den Gezi Protesten 2013, jetzt ist er wieder mit dabei.

Widerstand in Saraçhane – Gezi 2.0!

Mein Onkel ist seit Anfang der Proteste dabei in Saraçhane, wo sich das Istanbuler Rathaus befindet. Er kennt sich dort sehr gut aus und weiß, über welche Wege man dahin kommt, da nicht alle Bahnen fahren und weil die Polizei alles abgesperrt hat. Wir laufen an etlichen Polizei- und Sondereinsatzkräften, zig Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen vorbei und es gibt regelmäßig Gasgranaten, die in die Menge geschossen werden. Aber vor Ort ist eine mutmachende kämpferische Stimmung. Auffällig viele Jugendliche, Studenten aber auch viele Rentner sind vor Ort. Auf den Platz kommen am späten Abend bis zu 1 Millionen Demonstranten, trotz Einschüchterung und Repressionen. Die Massen auf dem Platz sind fest der Überzeugung weiterzumachen, bis das undemokratische autoritäre Regime fällt. Neben der kemalistisch- sozialdemokratischen CHP sind auch andere sozialistische, kommunistische Parteien und Organisationen vor Ort aber auch anarchistische Gruppen, Fußballfans von Fenerbahçe und Galatasaray, Studenten der verschiedenen Unis, Arbeiter. Man sieht auch auf dem Platz die Gewerkschaftsfahnen der Gewerkschaftsdachverbände DISK und KESK. Bei einem Gespräch mit einem Aktivisten der EMEP (Partei der Arbeit) wird mir erzählt, dass man sich auf die Organisierung und Beteiligung der Arbeiter konzentrieren sollte, damit dann auch letztendlich der Widerstand durch einen Generalstreik nochmals gestärkt wird. Viele Jugendliche zeichnen Plakate auf dem Platz, es existiert eine fröhliche und hoffnungsvolle Stimmung. Es scheint, dass der Geist des Gezi-Aufstandes wiederbelebt ist.

Solidarität, jetzt erst recht!

Am nächsten Tag ist der Rückflug und die Gedanken bleiben in Istanbul. Gerne wäre ich geblieben und hätte mehr unterstützt. Das Gefühl, was ich habe, ist, als ob man die Menschen jetzt im Stich lässt, aber ich bin froh, diesen Protest gesehen zu haben. Es macht Hoffnung für einen Umbruch. Jetzt muss aber auch mehr in Deutschland passieren, man muss darüber aufklären, berichten und sich mit den Menschen solidarisieren, die Unterstützung des Ein- Mann Regimes welches durch Deutschland wirtschaftlich und auch militärisch eine starke Verbindung hat, muss umgehend gekappt werden. Jetzt muss man sich einsetzen für die Freilassung aller politischen Gefangenen und für den Aufbau einer unabhängigen demokratischen Republik. Solidarität ist das Gebot der Stunde!

Von Cayan Kartal