Wie verschwand der Imperialismus aus Syrien?

Arif Kosar, 11. Dezember 2024, Evrensel (Türkei)

Als die USA 2003 in den Irak einmarschierten, waren selbst die liberalen Teile der Linken gegen eine Invasion. Der Begriff „Imperialismus“ wurde nicht in diesem Ausmaß aus den politischen Analysen ausgeklammert wie aktuell. Aber auch in jenen Jahren gab es diejenigen, die die Besetzung des Irak nicht mit dem US-Imperialismus, sondern mit der von Präsident Bush vertretenen „republikanischen Rechten“ erklärten. Andere behaupteten hingegen, „Antiimperialismus istschüchterner Nationalismus“ und ließen die AKP eine „demokratische Revolution“ anführen. Aber der Imperialismus blieb immer noch in ihrem Hinterkopf.

Mit Begriffen wie „Globalisierung“, „Imperium“, „Niedergang der Nationalstaaten“, „Verschwinden der Grenzen“ wurde der Imperialismus entweder beschönigt oder “aufgelöst“. Ein Vierteljahrhundert der liberalen Erosion und des intellektuellen Wirbelsturms hat revolutionäre Demokraten und im weitesten Sinne linke Intellektuelle erweichen und bröckeln lassen.

Schließlich mischen in Syrien die USA, Israel, Russland, Iran, Katar und die Türkei direkt oder indirekt vor Ort mit, dennoch wird über alles gesprochen, außer über Imperialismus. Es gibt regionale Mächte, lokale Mächte, sogar globale Mächte, aber keinen Imperialismus.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Es ist unmöglich insbesondere in strategischen Regionen wie dem Nahen Osten die Rivalität und den Kampf zwischen den imperialistischen Mächten nicht zu sehen. Es ist unvermeidlich, dass sich die imperialistische Blockbildung unter der Führung Chinas und Russlands auf der einen Seite und die imperialistische Blockbildung unter der Führung der USA und des Westens, insbesondere gegen den chinesischen Aufstieg und die „russische Aggression“ auf der anderen Seite, in jedem regionalen Konflikt zeigen wird. Genau aus diesem Grund war es unvermeidlich, dass diese beiden noch nicht vollständig geformten Blöcke sich in der Ukraine, in Taiwan, Venezuela, Georgien, Armenien, im Irak und natürlich in Syrien gegenüberstehen. Denn den Imperialismus macht neben der inneren Funktionsweise der Weltwirtschaft auch eine politische Weltordnung aus. Jedes imperialistische Land kämpft um seine politische Souveränität, um diese ebenso zu sichern wie die wirtschaftliche Souveränität auf den Weltmärkten. Periodische Veränderungen, Rückzüge, Machtlosigkeit und interne politische Spannungen können unterschiedliches politisches Handeln erzwingen, aber der monopolkapitalistische Mechanismus bedingt diese ständig und fordert damit die Konkurrenz und Konflikte heraus.

Ein Blick auf den Vormarsch der HTS in Syrien seit dem 27. November genügt, um diese imperialistischen Umstände jenseits der „lokalen“ Kräfte zu erkennen.

Zunächst einmal dürfte es kein Zufall sein, dass der Vormarsch der HTS von Aleppo nach Damaskus im Anschluss daran begann, dass Israel zwei Führer der libanesischen Hisbollah tötete, sie damit fast handlungsunfähig machte und die Hisbollah ihre Truppen aus Syrien in den Libanon zurückzog.

Ebenfalls ist klar, dass  Russlands -bisher noch aus unbekannten Gründen- Zurückhaltung in der Unterstützung für Syrien, vielleicht als Ergebnis einiger Gewinne in der Ukraine oder vielleicht als Ergebnis einer Vereinbarung zum Schutz von Stützpunkten in Syrien, ein Faktor ist, der den Vormarsch von HTS erleichterte.

Die Tatsache, dass der Versuch der pro-iranischen Hashd al-Shaabi-Miliz aus dem Irak, zur Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien, einzumarschieren, von den USA mit Bomben verhindert wurde, war für die HTS ein willkommener Vorteil gewesen.

Der Sturz des Assad-Regimes, Israels größtem Feind nach dem Iran, war in den Worten des rechtsextremen, zionistischen Ministerpräsidenten Netanyahu, ein „historischer Tag“, den Israel nicht nur über die Bildschirme verfolgen wollte. Heutzutage wäre es eine reine Verschwörungsidee, zu behaupten, dass er vor der Operation keine Kenntnis und die HTS nicht seine Zustimmung hatte.

Der Sturz eines pro-russischen und indirekt pro-chinesischen Regimes in der polarisierten Welt war natürlich ein Bestandteil der mittelfristigen Strategien der US-amerikanischen und europäischen imperialistischen Staaten. Jede Analyse, die all dies außer Acht lässt und den Platz und die Bedeutung des Ergebnisses in der imperialistischen Polarisierung nicht berücksichtigt, wird zwangsläufig unvollständig und ungenau sein.

Von Idlib nach Großsyrien

Natürlich bedeutet all dies nicht, dass die HTS nur ein einfacher Handlanger des US-Imperialismus ist. Die HTS versucht, sich das Hemd der gemäßigten Islamisten anzuziehen, indem sie im Einklang mit der Strategie der USA und Israels handelt und hat sicherlich ihre eigenen Berechnungen und Interessen. Schon morgen könnte sie sich gegen die USA und Israel stellen, sich Russland annähern und neue Bündnisse mit regionalen Mächten suchen. Es scheint, dass der Anführer der HTS, Abu Mohammad Dscholani, nicht nur ein Dschihadist, sondern auch ein rationaler Pragmatiker ist, der die bestehenden Machtverhältnisse berechnet. Dennoch werden all diese Bestrebungen in irgendeiner Weise im Kontext der Kämpfe und Konflikte zwischen den Imperialisten stattfinden. Daher ist die HTS keine ausreichend verlässliche und stabile Kraft für die Imperialisten.

Auch wenn die HTS versucht, sich als Teil der Muslimbruderschaft darzustellen, ist der salafistische Dschihadismus der Kern ihrer Motivation und Ideologie. Ihre Gründung und ihre Herrschaft in Idlib zeigen es deutlich. Seit dem 2011 begonnenen Aufstand wurde Syrien schnell zu einem Zentrum für die Rekrutierung internationaler Dschihadisten. Der sich rasch ausbreitende syrische Ableger der ISIS bekannte sich zunächst zu Al-Qaida, huldigte anschließend Jabhat al-Nusra, bevor er zusammen mit anderen Gruppen eine neue salafistische dschihadistische Organisation, Hayat Tahrir al-Sham (HTS), gründete.

Nach 2020 begann die HTS in Idlib, eine relativ stabile Scharia-Herrschaft zu errichten. In einer von Dschihadisten beherrschten Region wird von der Bevölkerung erwartet, dass sie sich an die Scharia hält und diejenigen bestraft, die dies nicht tun. „Demokratie“, auch im Sinne der Selbstdarstellung unterschiedlicher Identitäten und Überzeugungen, war natürlich ausgeschlossen. Die Praktiken in den Gefängnissen unterschieden sich nicht von denen in den Assad-Gefängnissen. Unterdrückung und Mord an verschiedenen Religionsgemeinschaften und Konfessionen waren an der Tagesordnung. Frauen hatten nicht einmal das Recht, ihre Kleidung selbst zu wählen; Verschleierung war Pflicht. Anti-HTS-Demonstrationen wurden gewaltsam unterdrückt. Die Erziehung der Kinder unterlag dem Scharia-Gesetz.

Die HTS hat ein Scharia-Regime der politischen Unterdrückung errichtet, das nichts mit Demokratie zu tun hat. Sie hat ihr Netzwerk von sogenannten Mekatib-ul De’ava, „Einladungsbüros“, als Vereine zur Verbreitung der Religion in ganz Idlib ausgebaut. Unter der Kontrolle der zentralen Institution „Haus der heiligen Offenbarung“ wurde ein intensiver Ausbildungsprozess in Korankursen und Schulen zur Ausbildung von religiösen Geistlichen („Medrese“) eingeführt, um den Geist des Dschihad in der „Umma“ (Gemeinde) zu verbreiten und entsprechend militärisch-politische Kader auszubilden. Kleine Kinder wurden verpflichtet, an dem Programm „Mein Gebet, mein Leben“ teilzunehmen. Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser wurden gebaut. Kostenlose Lebensmittel und verschiedene Konsumgüter wurden verteilt und viele Familien erhielten Bargeldunterstützung. Es wurden Investitionen in die Infrastruktur und den Überbau getätigt. Unter der allgemeinen Verwaltung der humanitären Dienste wurden in Städten und Dörfern Familiensiedlungen und Scharia-Zentren eingerichtet. Auf diese Weise wurde zusammen mit Repressionen Schritt für Schritt die Zustimmung und die „Unterstützung“ der Bevölkerung, sowie die „Stabilität“, die das Scharia-Regime benötigte, aufgebaut.

Woher kamen also die wirtschaftlichen Ressourcen, die diese Mini-Staatsverwaltung benötigte? In einer zusammengebrochenen Wirtschaft erhob die HTS-Steuern, wenn auch in begrenztem Umfang, aber die Hauptquelle waren die Petrodollars, die vor allem aus Katar flossen. Neben der militärischen Unterstützung, finanzierte die Türkei die Verwaltung in Idlib ebenfalls. Lange Zeit war die türkische Lira de facto die offizielle Währung in der Region. Später, mit der steigenden Inflation in der Türkei, setzte sich der Dollar durch. Es wird zudem oft behauptet, dass britische und ukrainische Militärs an der Ausbildung der HTS beteiligt waren.

Mit dieser Unterstützung wurden nicht nur Dschihadisten genährt, sondern auch ein politisches Regime errichtet, das auf pragmatische Weise Dschihadismus und Muslimbruderschaft miteinander verband und durch Bildung, Ausbau des Gesundheitswesens und Versorgung durch Lebensmittel bis zur Infrastruktur Zustimmung herstellte und sogar Geld an die Bevölkerung verteilte. Mit dieser Unterstützung entwickelte sich der militärische Flügel der HTS von einer Ansammlung von Milizen zu einer Armee mit schweren Waffen und Drohnen. Auch die USA und Israel unterstützten diesen Prozess direkt oder indirekt in dem Maße, wie es ihren eigenen Strategien entsprach.

Daher machen die Tatsachen, dass der Vormarsch der HTS, die von Katar und der Türkei offen wirtschaftlich, militärisch und politisch unterstützt wird, die in völligem Einklang mit der Anti-Russland-Strategie der USA steht, die zumindest von Israel geschickt gelenkt wird und ein gewisses Maß der an Zustimmung in der Bevölkerung genießt, den Sturz von Assad und die Machtübernahme nicht zu einer Volksrevolution.

Unter Bedingungen, in denen die wirtschaftlichen Ressourcen durch äußere Unterstützung abgeschnitten werden, wird die Fähigkeit des rückständigen, schariaorientierten Staatsverständnisses der HTS, Zustimmung zu erzeugen, schnell verschwinden. Übrig bleibt ein Höllenregime für Frauen, Kinder, Laizisten, Oppositionelle, Alawiten und Christen.

Die Macht der salafistischen Dschihadisten, die durch die Zusammenarbeit und Kompromisse des Imperialismus und der regionalen Mächte in Idlib gestützt und nach Damaskus geschickt wurden, als Befreiung der syrischen Völker zu definieren und zu feiern, kann nur in einer Denkweise geschehen, in der der „Imperialismus“ ignoriert wird. Tatsächlich waren es jene Imperialisten, die die ersten Gratulationsbotschaften sendeten. In einem von konfessionellen und nationalen Konflikten, die vom Imperialismus genährt werden, zerrissenen Syrien wird die Machtübernahme der HTS weder Demokratie noch Stabilität bringen.