Aus einem Interview mit Erhan Keleşoğlu, einem Politikwissenschaftler und Experten für Palästina und den Nahen Osten. Das Interview führte Elif Görgü in der EVRENSEL vom 07.10.24
ELIF: Können wir mit einem kurzen Rückblick auf die Situation im Nahen Osten und auf der internationalen Bühne vor dem 7. Oktober beginnen?
ERHAN: Vor dem 7. Oktober 2023 erlebte Israel im Sommer eine Phase massiver Proteste. Es ist wichtig, dies zu betonen. In der israelischen Politik fand ein kulturell-politischer Kampf zwischen den säkularen Parteien und der säkularen Gesellschaft auf der einen Seite und den religiös-nationalistischen Gruppen auf der anderen Seite statt. Diese Auseinandersetzung spiegelte sich auch im Justizsystem und in der israelischen Politik wider. Netanyahu und seine faschistische Koalition hatten die Absicht, gesetzliche Regelungen zur Intervention in die Justiz zu erlassen. Teile der israelischen Gesellschaft, die die Unabhängigkeit der Justiz als Garant ihrer Existenz betrachteten, gingen auf die Straße und beschäftigten sich mit der politischen Agenda Israels. Gleichzeitig führte die Netanyahu-Regierung internationale Verhandlungen mit Saudi-Arabien. Es wurde ein Fahrplan erstellt, der darauf abzielte, dass auch Saudi-Arabien Israel anerkennt, als Fortsetzung der Abraham-Abkommen. Natürlich wäre es ein kritischer Wendepunkt gewesen, wenn Saudi-Arabien Israel anerkannt hätte, ohne dass es Fortschritte in der Palästinenserfrage gegeben hätte. Denn Saudi-Arabien war 2002 auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut der Staat, der den Plan vorlegte, dass alle arabischen Staaten Israel anerkennen würden, wenn Israel sich von den besetzten Gebieten, also dem Westjordanland, dem Gazastreifen, Ost-Jerusalem und den Golanhöhen, zurückzieht. Saudi-Arabien war somit eine bedeutende regionale Macht.
Ein solches Verhalten Saudi-Arabiens in der Palästinenserfrage hätte eine ernsthafte Rückschritt für das palästinensische Volk bedeutet. Genau an diesem Punkt fand der Angriff am 7. Oktober statt. An diesem Tag durchbrachen die von Hamas geführten bewaffneten Kräfte die Mauern um Gaza und drangen in Israel ein, um militärische und zivile Ziele anzugreifen. In der Folge begann Israel eine Vernichtungsoperation, die darauf abzielte, die gesamte Bevölkerung Gazas kollektiv zu bestrafen.
Dies ist bereits eine gängige Praxis Israels: Die kollektive Bestrafung der Palästinenser als Reaktion auf Angriffe gegen Israel ist ein grundlegender Bestandteil ihrer Handlungsmuster. Nach dem 7. Oktober startete Israel zunächst eine intensive Luftbombardierung, gefolgt von einer Bodenoffensive.
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Hunderttausende Menschen haben ihre Häuser verloren und sind innerhalb Gazas zu Flüchtlingen geworden. Über 80 % der Bevölkerung Gazas sind Nachkommen derjenigen, die nach dem Krieg von 1948, bekannt als Nakba, dorthin vertrieben wurden. Sie sind erneut zu Flüchtlingen geworden und sind in Gaza gefangen, gezwungen, in bestimmten Gebieten Zuflucht zu suchen. Aktuell findet ein Prozess statt, der als Völkermord betrachtet wird.
Israel behauptet, es gehe darum, Hamas vollständig zu vernichten, aber in Wirklichkeit führt es Operationen durch, die darauf abzielen, eine gesamte Bevölkerung zu bestrafen, eine ethnische Säuberung durchzuführen und einen Völkermord zu begehen.
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ELIF: Befindet sich Israel heute immer noch im Einklang mit den Interessen der USA? Es wird nämlich sehr oft gesagt, die USA würden versuchen, Israel zu zügeln und zu kontrollieren…
ERHAN: Ich widerspreche diesem Narrativ. Das, was im Kongress passiert, zeigt uns das bereits. Das ist ein bewusst geschürtes Narrativ der Amerikaner, um sich aus der Situation zu retten und sich aus der Affäre zu ziehen. Sie haben Truppen in die Region verlegt und militärisch aufgerüstet. Sie haben Israel Hunderte von Tonnen, vielleicht sogar Tausende von Tonnen Waffen und Munition zur Verfügung gestellt. Sie haben Milliarden von Dollar an Hilfe bereitgestellt, damit Israel diesen Krieg fortsetzen kann. Daher stimme ich dem in keiner Weise zu. Wenn die USA der Netanyahu-Regierung gesagt hätten: ‚Du stoppst sofort den Krieg, sonst setze ich alle Hilfen aus und ziehe meine Truppen aus der Region ab‘, hätte Netanyahu so rücksichtslos und unverfroren handeln können? Nein. Sie sind mit amerikanischer Unterstützung bis hierhergekommen und machen immer noch weiter.
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ELIF: Israel führt intensive Angriffe auf den Libanon durch, und Bodentruppen sind bereits eingedrungen. Inzwischen hat die Hisbollah in den letzten Wochen, einschließlich ihres Führers, schwere Verluste in der Führungsebene erlitten. Jetzt stehen sie Israel gegenüber. Was wird dieser Prozess Ihrer Meinung nach für die Hisbollah und den Libanon insgesamt bedeuten? Gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede zu 2006?
ERHAN: Seit 2006 hat Israel seine Fähigkeit zu verdeckten Operationen erheblich verbessert. 2006 kannte Israel die Führungsebene der Hisbollah nicht so gut, hatte keine Informationen über die unteren und mittleren Kader, die Geheimdienste waren schwach, und die Hisbollah war ein viel strenger organisierter Verband.
Infolge der letzten Angriffe, insbesondere nach seiner Beteiligung am Syrienkrieg, wurde deutlich, dass die Hisbollah von israelischen und amerikanischen Geheimdiensten viel besser erkannt wurde und eine infiltrierbare, lockere organisatorische Struktur hat. Die Organisation wurde infiltriert und ihre Struktur entschlüsselt. Sowohl die Angriffe über Funkgeräte als auch die Bombardierung am nächsten Tag zeigten uns, wie weitreichend diese Infiltration war. Vor dem Attentat auf Nasrallah war fast die gesamte Führungsebene ausgeschaltet worden. Bei dem Angriff auf Nasrallah wurden etwa 85 Tonnen Bomben eingesetzt, ein Angriff, der vollständig auf Zerstörung abzielte. Und niemand fragt nach den Hunderten von Zivilisten, die bei diesem Angriff getötet wurden. Außerdem starb bei demselben Angriff der Befehlshaber der Quds-Truppe des Iran im Libanon.
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ELIF: Wie beurteilen Sie also die Position des Irans in diesem ganzen Prozess?
ERHAN: Iran ist ein Land mit begrenzten militärischen, wirtschaftlichen und politischen Fähigkeiten. Wir haben diese Grenzen am 14. April gesehen, als der Iran Vergeltung für die israelische Bombardierung seiner Botschaft in Damaskus übte. Die lange Zeit ausbleibende Reaktion auf die Ermordung von Ismail Haniyeh erzeugte großen Druck. Denn dies führte zu der Annahme, dass die Abschreckungskraft des Irans abnehme und das Regime seine Schwächen gegenüber den Imperialisten und Israel zeige. Das iranische Regime basiert zudem auf empfindlichen inneren Gleichgewichten. Es hat lange Zeit mit gesellschaftlichen Protesten zu kämpfen und sieht sich existenziellen Bedrohungen gegenüber, wobei die Legitimität des Regimes in Frage gestellt wird. Daher hat es, angesichts der Prognose, dass im Falle einer massiven Antwort auf Israel ein Krieg droht, an dem auch die USA beteiligt sein würden, und dass dies zur Gefährdung des Regimes führen könnte, beschlossen, sich mit einem begrenzten Angriff, der ausschließlich militärische Einrichtungen Israels ins Visier nimmt, zufriedenzugeben, wie es auch im April der Fall war. Anschließend erklärten iranische Beamte, dass sie nicht daran interessiert seien, den Konflikt auf eine höhere Ebene zu heben, solange Israel nicht antwortet. Sie ziehen es vor, den Kampf über ihre Stellvertreter in der Region fortzusetzen.
ELIF: Vor dem 7. Oktober schienen China und Russland in verschiedenen Beziehungen im Nahen Osten Fortschritte zu erzielen. Dieser Prozess scheint nun auch für sie unterbrochen worden zu sein. Was denken Sie, hat die jüngste Situation im Nahen Osten für diese beiden Mächte bewirkt?
ERHAN: Russland hat sich mit dem Ukraine-Krieg auf Osteuropa fokussiert. Es hat seine gesamte militärische, wirtschaftliche und politische Macht auf den Krieg in der Ukraine ausgerichtet. Im syrischen Bürgerkrieg haben sie das Assad-Regime unterstützt und Truppen entsandt, aber derzeit sehen wir, dass ein erheblicher Teil ihrer Kräfte in Syrien ebenfalls nach Ukraine umgeleitet wurde. Deshalb hat Russlands militärischer und politischer Einfluss in der Region abgenommen.
China wollte seine diplomatische und wirtschaftliche Macht nutzen, um in die Region einzudringen. Es ist jedoch zu bedenken, dass Chinas Einfluss in der Region unter den Bedingungen eines heißen Krieges schwach sein wird. China hat keine militärischen Kräfte, die es in die Region entsenden könnte. Daher müssen wir feststellen, dass im östlichen Mittelmeer und in Westasien die westlichen Imperialisten im Vergleich zu globalen Konkurrenten wie China und Russland dominant sind.
ELIF: Hat sich also die Behauptung, die USA würden sich aus dem Nahen Osten zurückziehen, als nicht richtig erwiesen?
ERHAN: Ja, die USA tendierten dazu, ihr Gewicht in Richtung Pazifik zu verlagern. Gleichzeitig sehen wir, dass die USA durch den Krieg Israels ihre militärische Präsenz in der Region wieder verstärkt, aber ich glaube nicht, dass diese Präsenz von Dauer sein wird, d.h. ich denke, dass die militärische Präsenz nach dem Krieg Israels wieder auf den Pazifik und Osteuropa ausgerichtet sein wird.
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ELIF: Wie könnte man diese Situation ändern? Was sollten [die fortschrittlichen, sozialistischen, demokratischen Kräfte] tun? Was fehlt noch?
ERHAN: Das Problem ist die Schwäche der Organisationen der Unterdrückten. Es fehlt an Handlungs- und Aktionsfähigkeit. Die Arbeiterorganisationen sind schwach, und auch sozialistische Organisationen sind aufgrund dessen geschwächt. Es ist auch möglich, dass die Aktionsfähigkeit und der Einfluss anderer unterdrückter Organisationen auf die Politik abgenommen haben. Das Ergebnis ist, dass diese Aggression, diese Kriegspolitik die Oberhand gewinnt und stärker wird.