Die Tarifrunde der IG Metall in der Metall- und Elektrobranche nimmt an Fahrt auf. In den ersten Septembertagen werden überall in Deutschland Aktionen zur Übergabe der Tarifforderungen an die Arbeitgeberverbände stattfinden, die als erste Gelegenheit zur Mobilisierung der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben genutzt werden können. An diesen Aktionen wird sich erstmals ablesen lassen, wie sehr die Beschäftigten tatsächlichen hinter der beschlossenen Entgeltforderung von 7% stehen. Denn die betriebliche und innergewerkschaftliche Debatte zur Forderungsfindung hatte offengelegt, dass mitunter sehr unterschiedliche Perspektiven und Erwartungen an die kommende Tarifrunde bestehen.
Startschuss Beschäftigtenbefragung
Von Ende April bis Ende Mai fand in den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie die bundesweite Beschäftigtenbefragung der IG Metall statt. Dieser Schritt markiert den Anfang einer jeden Tarifrunde und ist bereits ein wichtiger Moment, um die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben für die anstehende Tarifauseinandersetzung zu gewinnen. Denn indem die Kolleginnen und Kollegen in die inhaltliche Gestaltung der Tarifrunde miteingebunden werden, kann ein wichtiger Grundstein für ihre spätere Beteiligung an Tarifkaktionen und Warnstreiks gelegt werden. Und natürlich stärkt eine breitere Beteiligung an der Beschäftigtenbefragung auch den demokratischen Charakter der Forderung und bildet den Willen der Beschäftigten umso akkurater ab. Um dieses Ziel zu erreichen braucht es vor allem die Beteiligung der betrieblichen Vertrauensleutestrukturen, welche die Grundlage der gewerkschaftlichen Aktivität in den Betrieben und das entscheidende Verbindungsstück zwischen den Tarifkommissionen und den Belegschaften bilden. Von den 3,9 Millionen Beschäftigten die der Metall-Elektro-Flächentarifvertrag betrifft, gelang es der Gewerkschaft allerdings nur 318.453 Kolleginnen und Kollegen aus knapp über 2.700 M+E-Betrieben zu einer Teilnahme an dieser Umfrage zu bewegen. Ein ernüchternder Auftakt, wenn man sich die Möglichkeiten vor Augen führt, die die Beschäftigtenbefragung für die gewerkschaftliche Arbeit in den Betrieben mit sich bringt. Die Kolleginnen und Kollegen nach ihrer Meinung zu fragen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, über die gemeinsame Situation und auch die gemeinsamen Möglichkeiten, unabhängig davon ob sie bereits Gewerkschaftsmitglied sind oder nicht, ist eine einfache Gelegenheit um die anstehende Tarifrunde – aber auch die Gewerkschaft im Allgemeinen – im Betrieb zu platzieren, die offensichtlich noch zu selten wirklich genutzt wird.
Trotzdem sprach das Ergebnis der Umfrage eine klare Sprache: Die Beschäftigten der M+E-Industrie sind sich völlig einig darin, dass es in dieser Tarifrunde einen kräftigen Anstieg der Löhne braucht, in erster Linie um dem Reallohnverlust zu begegnen, der auch durch den letzten Tarifabschluss im Jahr 2022 nicht aufgehalten werden konnte. Über ein Drittel aller Teilnehmer forderte eine Entgelterhöhung von über 8%.
Der Forderungsbeschluss
Ein Bild über die genauen Vorstellungen der Beschäftigten im Bezug auf die Höhe der Entgeltforderung lässt sich aus den Ergebnissen der Beschäftigtenbefragung allerdings nicht ableiten. Das hat einen einfachen Grund. Denn obwohl an diesem Vorgehen in den zurückliegenden Tarifrunden immer wieder breite Kritik geübt wurde, hatten die Kolleginnen und Kollegen in der Umfrage nicht die Möglichkeit sich klipp und klar für eine genaue Prozentzahl auszusprechen. Der Vorstand der IG Metall hat erneut nur die Auswahl gewisser Prozentspannen erlaubt.
Neben der Tatsache, dass schon die Vorauswahl bestimmter Prozentspannen einen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten vieler Kolleginnen und Kollegen hat, lässt allein der Umstand, dass alle Prozentforderungen über 8% in einer Kategorie gesammelt werden, keine handfeste Auswertung der Umfrage in Bezug auf die Höhe der Entgeltforderung zu. In dieser Umfrage müssen sich also nicht nur der Kollege der 6,2% fordert und der Kollege der 8% fordert für die gleiche Antwortmöglichkeit entscheiden, sondern auch der Kollege der 8,1% fordert und derjenige der 12% oder mehr fordert. Insofern entbrannte allein um die Auswertung – korrekterweise „Auslegung“ – der Befragung eine zum Teil hitzige Diskussion in den Tarifkommissionssitzungen. Während insbesondere Bezirksleitungen mit willkürlichen Interpretationen wie beispielsweise „66% der Beschäftigten wollen unter 8% Lohnerhöhung“ um sich warfen, unterstrichen kämpferische Kolleginnen und Kollegen vielerorts die Unzulässigkeit einer solchen Auslegung* und betonten insbesondere auch die Auswirkungen, die eine „zu geringe“ Forderung auf die kämpferischen Teile der Belegschaft haben würde. Nicht selten traten in den Tarifkommissionssitzungen und Tarifverantwortlichentreffen betriebliche Vertreter und Delegationen auf, die sich für eine zweistellige Prozentforderung einsetzten. Allerdings wog ein anderes Argument in den Forderungsdebatten letzten Endes schwerer. Denn von Anfang an spielte das Argument der Arbeitgeberseite „Deutschland drohe eine De-Industrialisierung“ auch in der gewerkschaftlichen Debatte eine zentrale Rolle, wenngleich in etwas abgeschwächter Form. Nicht nur wurden ausschließlich einzelne Betriebe, in denen die wirtschaftliche Lage tendenziell schlecht beziehungsweise unsicher ist, immer wieder prominent in Szene gesetzt. Auch die Ankündigungen großer, vor allem in Süddeutschland ansässiger Betriebe – vor allem Automobil- und Zuliefererindustrie – über den Abbau tausender Arbeitsplätze in den kommenden Jahren, waren durchgängig zentraler Gegenstand in den Debatten. Die Erzählung von einer absolut prekären wirtschaftlichen Lage in Baden-Württemberg und Bayern und von den dortigen Belegschaften, denen Beschäftigungssicherheit aktuell viel wichtiger sei als irgendeine Lohnerhöhung, wurde immer wieder als „Gegengewicht“ zu den vielfach kämpferischen Redebeiträgen auf den Tarifkommissionssitzungen überall in Deutschland ins Spiel gebracht. Viele Kolleginnen und Kollegen ließen sich von dieser Drohkulisse beeinflussen und korrigierten ihre Forderungen nach unten. Und das der Tatsache zum Trotz, dass sich die Umfrageergebnisse der süddeutschen Kolleginnen und Kollegen kaum von denen der anderen Bezirke unterschieden.
So segneten Ende Juni alle Tarifkommissionen die Forderungsempfehlung des Vorstandes von 7% ab.
Auch bezüglich anderer Punkte wurde in den Tarifkommissionen rege diskutiert, so etwa die Jugendforderung nach einer überproportionalen Erhöhung der Ausbildungsvergütung zwischen 250 und 300 Euro oder auch die Möglichkeit keine rein prozentuale Lohnerhöhung zu fordern, sondern einen Sockelbetrag oder auch ein Festgeld, um insbesondere die einkommensschwächeren Kolleginnen und Kollegen in der Tarifrunde zu berücksichtigen. Doch auch in diesen Fragen konnte sich letztlich die Haltung des Vorstandes durchsetzen, sodass am Ende eine Prozentforderung und eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen von 170 Euro beschlossen wurden. Wie immer wird eine Laufzeit von 12 Monaten anvisiert.
Der Blick nach vorne
Soweit zur Entstehung der Tarifforderung in der Metall- und Elektroindustrie. Während der größere Teil der Beschäftigten mit der Forderung einverstanden ist, gibt es natürlich auch Unzufriedenheit. Besonders in Betrieben mit einer stabilen bis außerordentlich guten wirtschaftlichen Situation, ist das Unverständnis über die Forderung, die gemessen an dem Reallohnverlust der letzten drei Jahre eher niedrig ausfällt, groß. Auch unter den Jugendlichen, die sich flächendeckend für eine wesentlich höhere Jugendforderung eingesetzt hatten, ist die Enttäuschung präsent. Trotz alledem heißt es gerade unter diesen Umständen, den Blick nach vorne zu richten, denn an der beschlossenen Forderung wird sich nun nichts mehr ändern lassen. Denn gerade weil die Forderung nur schwer dazu in der Lage sein wird, den Reallohnverlust der 3,9Millionen Beschäftigten zu bremsen, ist es jetzt von zentraler Bedeutung, den Kampf umso entschlossener zu führen und ein möglichst hohen Tarifabschluss zu erkämpfen. Das Ziel aller kämpferischen und klassenbewussten Kolleginnen und Kollegen muss jetzt ein Abschluss sein, der die vollen 7% Lohnerhöhung erreicht und eine möglichst kurze Laufzeit, im besten Fall die geforderten 12 Monate, umfasst. Dieser Umstand wird von den Wirtschaftsprognosen für das kommende Jahr 2025 noch unterstrichen, die ein Wirtschaftswachstum von bis zu 1,5% erwarten, was beinahe einer Vervierfachung gegenüber dem Jahr 2024 bedeutet. Ganz im Gegenteil zu der „De-Industrialisierungs“-Stimmungsmache der Kapitalverbände handelt es sich bei der aktuellen wirtschaftlichen Situation also wenn überhaupt um eine konjunkturelle Schwankung, anstatt einer strukturellen Krise der deutschen Wirtschaft. Das wird auch bei genauerer Betrachtung des Wirtschaftsjahres 2024 deutlich. Hauptverantwortlich für das „geringe“ deutsche Wirtschaftswachstum sind nämlich die Faktoren „Privater Konsum“ und „Staatsverbrauch“, die jeweils die deutlichste Negativentwicklung aufweisen. Das heißt: das deutsche Bruttoinlandsprodukt wird in erster Linie durch die rasanten Einkommensverluste der arbeitenden Bevölkerung und die damit verbundene, sinkende Binnennachfrage verursacht, wie auch durch die massiven Kürzungen im Bundeshaushalt zugunsten der Aufrüstung. Umso entschiedener muss also der Kampf für höhere Löhne ausfallen.
Es liegt jetzt also in der Verantwortung der kämpferischen Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, die „Etappenniederlage“ der verhältnismäßig geringen Forderung letztlich doch noch zu einem Sieg für die Beschäftigten der M+E-Industrie und darüber hinaus zu verwandeln. Die Tarifrunde bietet den Vertrauensleutestrukturen die Möglichkeit, die Kolleginnen und Kollegen um die Forderung nach 7% Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von 12 Monaten zu sammeln, eine breite Mobilisierung in den Betrieben zur tatsächlichen Durchsetzung der Forderung in voller Höhe zu entfalten und damit die gewerkschaftlichen Strukturen und ihren demokratischen Charakter zu stärken. Besonders im Rahmen der Tarifauseinandersetzung und des Arbeitskampfes können Kolleginnen und Kollegen einerseits für gewerkschaftliches Engagement im Allgemeinen und auch für einen kämpferischen, klassenbewussten Kurs gewonnen werden. Es heißt jetzt also die anstehenden und vielerorts unmittelbar bevorstehenden Sommeraktionen und auch die ersten Verhandlungsrunden bis zum Ende der Friedenspflicht (29. Oktober um 0:01Uhr) zu nutzen, um möglichst viele Beschäftigte für den gewerkschaftlichen Kampf und die späteren Arbeitskampfmaßnahmen zu gewinnen. Nur mit einer möglichst breiten Beteiligung an den Warnstreiks und Aktionstagen wird sich ein akzeptables Tarifergebnis erreichen lassen, welches zur Stärkung der betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen unerlässlich ist. Denn besonders in den M+E-Betrieben ist es kein Geheimnis, dass insbesondere die niedrigen und verklärten Abschlüsse der vergangenen Jahre hauptverantwortlich für den Großteil der Gewerkschaftsaustritte sind, die vielerorts bereits einen anhaltenden Negativtrend in der Mitgliederentwicklung verursacht haben. Umso wichtiger ist es jetzt entschlossen den Kampf aufzunehmen, die Vertrauensleutestrukturen in den Betrieben zu stärken und präsent zu machen, auch um den Kolleginnen und Kollegen zu zeigen, dass sie sich an diesen Kämpfen beteiligen können und müssen, besonders wenn sie mit dem aktuellen Kurs der Gewerkschaft unzufrieden sind. Denn nur von geschlossenen und organisierten Belegschaften, kann der Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen erfolgreich geführt werden. Denn dieser Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter gewinnt unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen wieder rasant an Bedeutung.
*Denn die Stimmen in der Prozentspanne 6-8% als „unter 8%“ zu werten ist eine reine Spekulation, da es ebenso möglich wäre, dass sich alle Stimmen in diesem Prozentbereich für glatte 8% aussprechen wollten