Allein im Juli 2024 sind in der Türkei mindestens zwölf Kinder-Arbeiter Arbeitsmorden* zum Opfer gefallen – in den vergangenen zehn Jahren waren es unabhängigen Erhebungen zufolge mindestens 671. Ein bedeutender Teil dieser Zahl ist dem 2016 durch die AKP-Regierung eingeführten MESEM-Projekt zuzuschreiben. MESEM (Mesleki Eğitim Merkezi), zu deutsch Berufsausbildungszentrum, bezeichnet das vierjährige Ausbildungsprogramm, welches vor acht Jahren vom Ministerium für Nationale Bildung in Kooperation mit der Unternehmensgruppe Koç Holding unter dem Ausruf „Berufsschulen sind eine nationale Angelegenheit“ eingeführt wurde.
Sobald die 8. Klasse absolviert ist, werden Kinder und Jugendliche seitdem neben den traditionellen Berufsschulen nun auch in den MESEMs ausgebildet: indem sie vier Tage die Woche im Betrieb als billige Arbeitskräfte schuften und einen Tag die MESEM-Schule besuchen. Der Knackpunkt bei der Sache? Die Ausbildungsvergütung wird staatlich subventioniert und die Versicherung komplett übernommen und von Steuereinnahmen gedeckt. Haben die Berufsschüler in den klassischen Berufsschulen größtenteils in den Schulen gelernt, sind sie nun im Rahmen des MESEM-Programms den Großteil ihrer “Ausbildungszeit“ in den Betrieben des Niedriglohnsektors im Einsatz – und das ohne einheitliche Lehrvorschriften, Richtlinien des Arbeitsschutzes und vor allem ohne Kontrollen der Ausbildungsbedingungen. Fast 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche arbeiten mittlerweile im Rahmen des MESEM-Programms und erhalten im 1. bis 3. Lehrjahr 30% des Mindestlohns: Während die Armutsgrenze im Land bei knapp 63.000 Lira und die Hungergrenze bei knapp 20.000 Lira liegt, erhalten sie also circa 6.000 Lira. Selbst im letzten Lehrjahr steigt diese Vergütung nur auf 10.000 Lira. Unter diesen Bedingungen sehen sich viele junge Menschen gezwungen, neben ihrer regulären Ausbildung, die restlichen Wochentage ebenfalls im Betrieb zu arbeiten oder einem Nebenjob nachzugehen.
Dabei gehen die Schichten im Durchschnitt bereits bis zu zehn Stunden und viele Kinder und Jugendliche werden in den Betrieben dazu gezwungen, noch länger oder auch an den Wochenenden und in den Ferien zu arbeiten. In vielen Betrieben werden zudem Sicherheitsvorkehrungen komplett ignoriert, die Kinder und Jugendlichen kriegen keine Schutzkleidung, werden mit gefährlichen Maschinen allein gelassen, Hygienevorschriften werden missachtet und es finden keine angemessenen Einführungen statt. Seitdem durch den Fachkräftemangel auch die Meisterprüfungen immer einfacher und ohne ausreichende Ausbildung (ein Berufsschulabschluss in dem Bereich genügt) absolviert werden können, leiden die Lehrbedingungen in den Betrieben noch weiter. Die Auszubildenden werden dabei vor allem in kleinen Betrieben mit teilweise nur drei bis fünf Mitarbeitern eingesetzt, wodurch ihnen die Organisierung gegen diese unmenschlichen Bedingungen weiter erschwert wird. Unter eben diesen schweren Bedingungen kommt es immer regelmäßiger zu Arbeitsunfällen bis hin zu Arbeitsmorden.
Doch anstatt auf die prekären Bedingungen und den wachsenden Unmut in der Öffentlichkeit zu reagieren, baut das Bildungsministerium das MESEM-Projekt weiter aus: Anstatt die Klasse zu wiederholen, werden die Regelungen so verändert, dass sitzengebliebene Schüler ihren “Bildungsweg“ weiter in den MESEMs beschreiten. Geflüchtete syrische Kinder und Jugendliche werden massenhaft in das Programm geleitet. Die Öffentlich-Rechtlichen bewerben das Programm mit inspirierenden Werbespots. Außerdem wurde nun in diesem Sommer beschlossen, die Zahl der MESEMs zu erhöhen und noch mehr Betriebe in das Programm einzubinden. Bei einer Inflation von über 60% allein im Vergleich zum letzten Jahr, bei einer hohen Jugendarbeitslosigkeit und bei der steigenden Perspektivlosigkeit innerhalb den Studierendenschaft, die selbst mit Diplom immer weiter in die Arbeitslosigkeit stürzt und neben dem Studium Vollzeit arbeiten muss, sehen mehr und mehr Kinder und Jugendliche mit dem frühesten Eintritt in das Arbeitsleben die Rettung für sich und ihre Familien. Das MESEM-Projekt und sein fortschreitender Ausbau ohne Rücksicht auf die Sicherheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zeigt noch einmal in voller Deutlichkeit, in wessen Sinne die türkische Politik regiert: für das Kapital und seine Konzerne und Unternehmen!
Der Ausbau der MESEMs reiht sich ein in eine Kette von Angriffen auf die Lebensbedingungen der arbeitenden und lernenden Jugend in der Türkei und auf das Bildungswesen: Neben der Verstärkung religiöser Lehrinhalte, dem Abbau von wissenschaftlichem und kulturellem Unterricht, sind auch sie Werkzeug der Herrschenden und ihrer reaktionären Politik. Doch die Arbeiterjugend und die fortschrittlichen Kräfte schauen nicht tatenlos zu, wie das bröckelnde System in der Türkei auf ihre Kosten erhalten wird! Die Partei der Arbeit der Türkei (EMEP) und ihre Jugendorganisation kollektivieren dabei gemeinsam mit den fortschrittlichen Gewerkschaften und Jugendbewegungen entschlossen den Kampf um die Abschaffung des MESEM-Programms, anstatt es bloß zu reformieren. Die Forderung, die im Zentrum steht, lautet dabei „für eine Berufsausbildungsbeihilfe für alle Berufsschüler, die diese brauchen und für eine wissenschaftliche, qualitative Berufsausbildungen mit Richtlinien, die nach Interessen und Fähigkeiten der Schüler ausgerichtet sind“. Und diese Forderungen werden überall verbreitet: bei Demonstrationen und Kundgebungen, in den Industriegebieten, in den Gewerkschaften, im Parlament, vor den Berufsschulen und in allen anderen Bereichen des Jugendkampfs. Dabei wird innerhalb der Jugend mit allen Mitteln unterstrichen, dass weder das individualistische „Herausschaffen“ noch der Weg ins Ausland die Rettung darstellen können, sondern nur der gemeinsame Kampf für bessere Bildung und gegen die verschärfte Ausbeutung die Lösung sein kann. Das MESEM-Projekt in der Türkei ist eines der Produkte, in denen die Zusammenarbeit zwischen dem Regime und dem Kapital am deutlichsten zu Tage tritt: Die Jugend in der Türkei soll so früh wie nie zuvor fester und billiger Bestandteil der Arbeiterklasse werden und die Gewinne der Bosse maximieren. Mindestens genau so deutlich wird hier aber auch, dass deshalb der Kampf der Jugend nur Erfolge verzeichnen kann, wenn er sich direkt mit dem Kampf der Arbeiterklasse verbündet. Mit dieser Perspektive wird vor Ort täglich weiterhin unermüdlich gegen die MESEMs gekämpft!
*In der Türkei werden tödliche Arbeitsunfälle auch Arbeitsmorde genannt, um darauf hinzuweisen, dass sie eben keine Unfälle, sondern die direkte Folge von bewusst ignorierten Arbeitsschutzbestimmungen sind, um Profite zu maximieren.