Der Nahe Osten droht in einen Strudel der Eskalation hineingezogen zu werden. In den letzten Wochen waren die Befürchtungen hoch, dass der derzeitige Genozid der israelischen Streitkräfte am palästinensischen Volk in einen regionalen Mehrfrontenkrieg unter Teilnahme des Irans umschlagen könnte. Die politischen Morde an führenden Hamas- und Hisbollah-Personen boten die perfekte Steilvorlage für eine nicht mehr umkehrbare Eskalation und doch ist es bisher nicht zum Krieg gekommen. Die Gewalt am palästinensischen Volk wird weiter verübt und hat sich längst in Form einer militärischen Operation im Westjordanland ausgebreitet. Aber eine neue Stufe der Eskalation ist bislang nicht eingetreten. Kommt es doch nicht mehr zum großen Krieg in der Region? Oder handelt es sich nur um die Ruhe vor dem Sturm?
Die Besonderheit der derzeitigen Lage besteht darin, dass die Angriffe Israels gegen Gaza und das Westjordanland genozidale Ausmaße haben und aus dieser Situation heraus ein Flächenbrand entstehen kann. Das war in den letzten Jahren nicht unbedingt der Fall. Zwar wurden etliche Male Massaker oder sogenannte „Operationen“ gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen verübt. Die Gewalt der israelischen Kriegsmaschinerie hielt sich bis dahin immer in festgesteckten Grenzen, welche in der berühmten „Mowing the Grass“-Strategie (den Rasen mähen) ihren Ausdruck fand.
Die zunehmende Anspannung in der Region geht in eine neue Runde. Die Interessenkonflikte der regionalen Akteure und die mit ihnen verschränkten Interessenkonflikte der imperialistischen Länder nehmen immer gewaltigere Ausmaße an, die sich nicht mehr nur „diplomatisch“ lösen lassen. Neben dem Ukrainekrieg ist der Krieg in Gaza einer der momentan zentralen Austragungsorte des imperialistischen Hauptkonflikts zwischen den USA und China. Im Nahen Osten stellt sich die zentrale Frage, ob die regionalen Konfliktlinien zugunsten Washingtons oder Pekings umgezeichnet werden können.
Die Morde an den Hamas- und Hisbollah-Führern durch israelisches Militär ordnen sich in diese Neuaufteilung ein. Sie stellen eine Reaktion auf die Versuche Chinas dar, 14 palästinensische Organisationen, darunter die Hamas und die Fatah in ihrer Zielsetzung eines zukünftig einheitlichen palästinensischen Staates zusammenzubringen. Peking handelt dabei nicht aus Nächstenliebe. Die Pläne Washingtons, aus dem Gazastreifen eine demilitarisierte Zone zu machen, werden auf „diplomatischem“ Wege durchkreuzt; dem Weißen Haus wird signalisiert, dass es nicht ohne weiteres über den Kopf Chinas hinweg handeln könne.
Washington wiederum versucht die chinesische Diplomatie schon seit längerem einzudämmen. Einer der wichtigsten Coups der chinesischen Außenpolitik stellt die durch Peking forcierte Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran dar. Für China sind sowohl Riad als auch Teheran entscheidende Rohstoff-Lieferanten. Das bevölkerungsreichste Land der Erde stillt insbesondere aus Saudi-Arabien und dem Iran einen großen Teil seines Erdölhungers. Gleichzeitig versucht Peking langfristig die Herrschaft des US-Dollars zu schwächen, indem saudisches Öl mit Yuan abgerechnet werden soll.
Seit der iranischen Revolution 1979 sind beide regionalen Mächte Iran und Saudi-Arabien verfeindet. Teheran hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten an regionalem Einfluss hinzugewonnen, so dass auch nördlich des Persischen Golfs die Frage nach regionaler Hegemonie durch die Mullah-Regierung gestellt wird. Die mindestens genauso repressive saudische Regierung ist historisch und bis heute eng mit den USA verwoben. Auch wenn es immer wieder zu Interessenkonflikten kam, kann man Riad zu einer pro-US-amerikanischen Front im Nahen Osten hinzuzählen.
Diese Front scheint durch die besagte Annäherung zwischen Riad und Teheran jedoch zu bröckeln. Die Reaktion des Weißen Hauses war daraufhin, ebenfalls eine Annäherung zweier Antagonisten voranzutreiben. Israel und Saudi-Arabien sollten ein diplomatisches Zusammenrücken beschließen und Riad letztlich in eine NATO-ähnliche Struktur mit integriertem Bündnisfall-Mechanismus einbezogen werden. Einer der wichtigsten Gründe für die Attacken der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres ist vor allem eine Erhöhung des Drucks auf den saudischen Kronprinzen Mohammed Bin-Salman, eine Annäherung mit Netanjahu auf Eis zu legen. Und tatsächlich ist dieses Ziel bisher aufgegangen. Auch wenn die saudische Führung nichts gegen einen Deal mit Israel hätte, so erfährt sie Druck aus der eigenen Bevölkerung und den Völkern der arabisch-muslimischen Welt. Sich einfach über diese Realität hinwegzusetzen, kann sich Riad nicht leisten.
Trotzdem haben Biden und Co. den Glauben nicht verloren, eine saudisch-israelische Allianz unter Führung der USA gegen den Iran zu schmieden. Denn trotz der zunehmenden Einflussnahme Chinas in der Region, ist es bislang nur der Iran, der relevanter regionaler Bestandteil einer pro-chinesischen Strategie ist. Eine Einbindung weiterer Akteure in eine pro-chinesische Front würde den langsamen Niedergang der USA als Weltmacht zementieren. Die Frage danach, welchen Weg Saudi-Arabien in Zukunft beschreiten wird, ist also von entscheidender Bedeutung. Einen Erfolg hat Washington jedoch bereits erzielt. Saudi-Arabien hat seine Anfang diesen Jahres bevorstehende Aufnahme in die BRICS erst einmal ausgesetzt.
Die derzeitigen eskalatorischen Handlungen der Netanjahu-Regierung weisen nicht auf ein diplomatisches Ende des Krieges hin. Aussagen israelischer Offizieller bekräftigen regelmäßig, dass dieser Krieg bis zum bitteren Ende geführt werden soll, auch wenn es innerhalb der Netanjahu-Regierung unterschiedliche Haltungen gibt. Ohne die Unterstützung des westlichen Imperialismus wäre die israelische Kriegsmaschinerie kaum in der Lage, den Krieg zu führen, welche durch die finanzielle und militärische Unterstützung von Washingtons, Brüssel und Berlin geölt wird.
Trotzdem verhalten sich die USA und ihre Verbündeten zu einer möglichen Eskalation des Krieges ambivalent. Grundsätzlich ist ein Flächenbrand für den US-Imperialismus nicht erstrebenswert, da zu viel auf dem Spiel stünde und die Kosten zu hoch wären. Washington wollte sich ursprünglich militärisch aus der Region zurückziehen, um sich auf den Indopazifik und die unmittelbare militärische Eindämmung Pekings zu fokussieren. Nun findet sich Biden in einer Situation wieder, in der er Netanjahu mit sanften und nicht ernst gemeinten Worten mahnt, den Krieg nicht zu sehr zu eskalieren, währenddessen US-Kriegsschiffe im Roten Meer stationiert werden. Washington bereitet sich auf einen Krieg vor und kann eher mit einer Ausweitung des Krieges leben als Peking. Denn China ist militärisch noch zu schwach und muss daher den Weg der „Diplomatie“ gehen. Ob es zum Krieg kommt, hängt davon ab, ob eine der Seiten durch keine der „friedlichen“ Alternativen seine Interessen wie bisher verfolgen kann. Eine Eskalation scheint derzeit nicht wahrscheinlich. Zumal auch der Iran derzeit für einen Krieg gegen die USA und Israel nicht gewappnet ist. Auch Israel würde trotz seiner militärischen Übermacht in der Region einen Mehrfrontenkrieg wohl kaum überleben. Die konstante Intensität, mit der der Konflikt geführt wird und gleichzeitig zum Genozid am palästinensischen Volk beiträgt, wird womöglich noch länger anhalten.
So oder so, vor dem Hintergrund einer möglichen Eskalationsspirale zeigt sich, dass der Krieg gegen Gaza auch ein Angriff auf die internationale Solidarität der Werktätigen und unterdrückten Völker dieser Erde darstellt. Das Verbrechen am palästinensischen Volk wird auch deshalb möglich gemacht, weil die Bewegungen in den USA und Deutschland noch zu schwach ausgeprägt sind, um sich gegen die Politik ihrer Regierungen zu stellen. Umso wichtiger ist es, den Druck gegen den Kriegskurs der Bundesregierung hierzulande zu erhöhen. Der Kampf gegen den Krieg hilft nicht nur dem palästinensischen Volk. Er stärkt auch gleichzeitig den Kampf gegen Sozialabbau, Militarisierung und die einhergehende Repression hier. Der Kampf um Befreiung und für ein besseres Leben bleibt international!