Foto: In der Novemberrevolution 1918 haben die Arbeiter für eine Verfassung und einen Staat in ihrem Interesse gekämpft
75 Jahre Grundgesetz
Gerade werden 75 Jahre Grundgesetz offensiv mit einem „Fest der Demokratie“ gefeiert. So war es auch 1949, als das Grundgesetz in seiner ersten Fassung verabschiedet wurde: Es wurde als demokratisch präsentiert. Doch ist das wirklich so? Schon bei der Verabschiedung hatte das Grundgesetz einen Geburtsfehler: Das Volk durfte nie darüber abstimmen. Auch wenn in der Präambel steht: „…hat das Deutsche Volk…“, so durfte es zum Endprodukt nicht einmal seine Meinung sagen.
Worüber das Grundgesetz schweigt
Deutlich wird der Inhalt des GG, wenn man darauf achtet, was nicht drin steht.
– Seitens der Arbeiterbewegung gab es nach den Erfahrungen zweier Weltkriege die Forderung nach einer Enteignung des Großkapitals. Stattdessen gab es eine Eigentumsgarantie in Artikel 14. Noch nicht einmal die Enteignung der Teile des Großkapitals, die Hitler an die Macht brachten und/oder von ihm profitierten wie Krupp, Thyssen, Porsche usw. ist vorgesehen. Nach Artikel 14 und 15 ist zwar Enteignung zum „Wohle der Allgemeinheit“ möglich. Real wurde das aber gegen kleine Grundstückbesitzer angewendet, die dem Straßenbau oder wie in Garzweiler den Interessen der Monopole ein Hindernis sind.
– Trotz der Forderungen, die die Arbeiterbewegung damals aufstellte, gibt es kein Recht auf Arbeit. Man darf nur den Arbeitsplatz frei wählen (Artikel 12), wenn es denn einen gibt. Und wenn es die Ausbildung, den Beruf, den Arbeitsplatz, den man gern hätte, nicht auf dem „freien Markt“ gibt, dann wird man mit Sanktionen der Agentur für Arbeit gezwungen, irgendeinen Arbeitsplatz anzunehmen.
– Es gibt zwar ein Recht auf Religionsunterricht in Artikel 7, aber kein Recht auf Bildung, vor allem nicht auf kostenlose Bildung. Dafür wird das Recht auf Privatschulen für die Reichen garantiert.
Sand in die Augen
Da wo das Grundgesetz in wohlklingenden Worten von Grundrechten spricht, sind diese oft das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.
In Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es wird von „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ gesprochen. Dafür treten auch wir ein! Doch das gilt beispielsweise nicht an den EU-Außengrenzen. Aber es gilt auch im Inneren nicht. Wenn man sich die Arbeitsbedingungen von Saisonarbeiter/innen in der Landwirtschaft oder von LKW-Fahrern aus ganz Europa und den Unmengen Billigarbeitskräften aus der ganzen Welt anschaut, dann hat das mit Menschenwürde nichts zu tun.
In Artikel 2 steht das „Recht auf die freie Entfaltung“ und das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Selbstverständlich kämpfen wir dafür! Doch dieses „Recht“ hat seine Grenzen in den ökonomischen Möglichkeiten! Ohne freie, kostenlose Bildung ist es nur ein leerer Spruch. Denn natürlich hat ein Kind, dessen Eltern problemlos Schulbildung, Universität, Auslandsaufenthalte, kulturelle Ausbildung wie Musikunterricht oder Sport finanzieren können, ungleich bessere Möglichkeiten der „freien Entfaltung“ als ein Kind von Bürgergeldempfängern oder Billiglöhnern.
In Artikel 3 steht:
„ Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ sowie „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ und „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Das ist alles richtig, aber ist es auch Realität? Ein Gang zum Ausländeramt lässt diese Seifenblase zerplatzen. Man kann halt doch wegen seiner Abstammung oder Rasse diskriminiert werden. Und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen? Als das Grundgesetz verabschiedet wurde, galt eine verheiratete Frau nicht als „geschäftsfähig“. Sie durfte kein eigenes Bankkonto ohne Zustimmung des Ehemannes eröffnen. Arbeit durfte sie ebenfalls nur mit der Erlaubnis des Ehemanns antreten. Das Gehalt verwaltete er. 75 Jahre sind vergangen, seit diese edlen Worte zu Papier gebracht wurden. Mittlerweile haben die Frauen sich Rechte erkämpft. Aber sie mussten diese zusammen mit Männern erkämpfen. Geschenkt wurden sie ihnen nicht – vor allem nicht von diesem „demokratischen“ Staat. Und immer noch sind Frauen und Männer nicht real gleichgestellt. Es gibt nach wie vor typische „Frauenberufe“ mit niedrigem Lohn und schlechteren Arbeitsbedingungen. Es gibt Sexismus und reaktionäre Diskriminierung. Die Liste der Ungleichbehandlung ist lang.
Die Eigentumsgarantie in Artikel 14 gibt zwar das Recht auf Grund- und Hausbesitz, aber es gibt kein Recht auf eine Wohnung. Obdachlosigkeit ist seit 75 Jahren Bestandteil der „Grundrechte“.
Die Verlogenheit des bürgerlichen Grundgesetzes kommt auch in Artikel 5, „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift-und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ zum Ausdruck. Tatsächlich ist die Verbreitung der Meinung in Schrift und Bild eine Geldfrage. Nicht jeder kann sich einen Großverlag oder einen Fernsehsender leisten. Milliardäre, Kapitalisten sind da eindeutig im Vorteil. Sie besitzen große Medienkonzerne und können damit Meinungen beeinflussen. Natürlich kann man dagegen etwas sagen, aber gegen die Meinungsmacht des Großkapitals kann da von Gleichheit keine Rede sein.
Abbau demokratischer Rechte
Seit 1949 wurden die „Grundrechte“ beständig ausgehöhlt.
1954 wurde das Grundgesetz so verändert, dass die Wiederaufrüstung möglich wurde. Hatte man nach der Niederlage des Faschismus auf eine deutsche Armee verzichtet, so wollte man nun im Kalten Krieg wieder mitmischen.
1956 musste das GG erneut geändert werden, um den NATO-Beitritt zu ermöglichen. Damit verbunden wurden eine Reihe von „Grundrechten“ für Soldaten, aber auch der Zivilbevölkerung eingeschränkt wie z.B. die Freizügigkeit.
1959 wurde die Nutzung von Atomenergie gegen die bisherigen Regelungen des Grundgesetzes ermöglicht.
1968 Verabschiedung der Notstandsgesetze mit weitgehenden Einschränkungen der „Grundrechte“ und der Möglichkeit der Errichtung einer Notstandsdiktatur mit demokratischer Fassade.
1969 Verschärfung von Staatsschutzstrafverfahren.
1972 Einsatz des Bundesgrenzschutzes zur Unterstützung der Landespolizeien – innere Aufrüstung.
1990 Eingliederung der DDR. Dabei wurde das Recht auf eine vom Volk verabschiedete Verfassung gestrichen.
1992 Hoheitliche Aufgabe der Flugsicherung kann privatisiert werden.
1992 Änderung des GG, um den Maastricht-Vertrag zu ermöglichen, ohne das Volk in einer Abstimmung zu beteiligen.
1993 Einschränkung des „Grundrechtes“ auf Asyl
1993 Änderung des GG, um die Privatisierung der Bahn, Umwandlung in eine AG zu ermöglichen.
1994 Änderung des GG, um die Privatisierung von Post und Telekom zu ermöglichen.
1998 Änderung des GG, um Wohnungen legal abhören zu können.
2000 Abschaffung des Auslieferungsverbotes von Deutschen an ausländische Gerichte.
2000 Änderung des GG, damit Frauen bewaffnet in der Bundeswehr „dienen“ können.
2017 Ausschluss „verfassungsfeindlicher Parteien“ von der staatlichen Finanzierung.
2022 Änderung des GG, um Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu ermöglichen.
In wessen Interesse?
Nimmt man alles zusammen, den Inhalt und die kontinuierlichen Einschränkungen des Grundgesetzes, so wird klar: Es ist ein Grundgesetz im Interesse und zum Schutz des Kapitalismus. Es verteidigt das kapitalistische Privateigentum. Es propagiert „Gleichheit“, die aber real vom Geldbeutel und der Macht abhängig ist. Real hat das Grundgesetz auch so gewirkt: Die Reichen wurden immer reicher. Konnten zunächst auch die Arbeiter/innen beim Wiederaufbau des durch den Faschismus zerstörten Landes noch ein paar Krümel abbekommen und ihre Lage verbessern, ist damit seit der Eingliederung der DDR und der Stärkung des deutschen Imperialismus Schluss.
Trotz der Zerstörung des Sozialismus in der DDR gab es in der Verfassung in Artikel 15 das Recht auf Arbeit. Laut Artikel 24 wurden „Betriebe der Kriegsverbrecher und aktiven Nationalsozialisten.. enteignet und gehen in Volkseigentum über.“ Das Recht auf Wohnen wurde in Artikel 26 gesichert. Nichts davon wurde übernommen, sondern alles komplett in den Boden gestampft. Das war alles dem deutschen Imperialismus im Weg. Jeder Gedanke an solche Rechte sollte ausgerottet werden.
Seither hat es eine Privatisierungswelle von Bahn, Post, Telekom und vielen anderen staatlichen Bereichen gegeben. Die Aufrüstung wurde massiv vorangetrieben. Der Einsatz der Bundeswehr im Ausland ist „normal“ geworden. Sozialabbau wurde ebenso „normal“. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich extrem weiter gestiegen ist.
Wenn derzeit „75 Jahre Grundgesetz“ groß gefeiert wird, dann werden all diese Tatsachen verschleiert.
Was braucht die Arbeiterklasse?
Gesetze sind immer Teil des Klassenkampfes und Ausdruck von Machtverhältnissen zwischen Klassen. Das Grundgesetz ist die Verfassung einer kapitalistischen Gesellschaft. Die Arbeiterklasse braucht mehr Rechte, wenn sie wirklich frei sein will. Sie braucht unter anderem das Recht auf Arbeit, die Enteignung des Großkapitals, das Recht auf kostenlose Bildung. Darüber hinaus haben und werden wir immer und jederzeit demokratische Rechte im Grundgesetz gegen deren Einschränkung, Verstümmelung und Abschaffung verteidigen. Da die herrschende Klasse beständig ihre eigenen „Freiheiten“ abschaffen muss, um ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten, sind wir gezwungen, diese Freiheiten zu verteidigen. Der Kampf um demokratische Rechte ist Teil des Kampfes für eine andere, sozialistische Gesellschaft.