Stahltarifrunde: Neuer Tiefpunkt in der arbeiterfeindlichen Tarifpolitik der IG-Metall-Führung

Am Morgen des 16. Dezembers verkündete die IG Metall, dass es im Rahmen der fünften Verhandlungsrunde in der nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie zu einer Einigung kam. Nur einen Monat dauerten die Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeberverband Stahl. Hält man sich die kämpferischen Forderungen der Kollegen aus der Stahlbranche vor Augen, so ist ein solch frühes Verhandlungsergebnis schon Grund genug für Zweifel, ob es sich dabei wirklich um einen Erfolg handeln kann.

Die Forderungen
Bereits seit Mitte des Jahres sorgte die diesjährige Stahltarifrunde für Aufmerksamkeit. Damals platzte nämlich Kurt Giesler, IGM-Verhandlungsführer in der nordwestdeutschen Stahlindustrie, mit dem Vorschlag heraus, die Forderung nach einer 4-Tage-Woche bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich zu erheben. Auch wenn dieser Vorschlag zuvor keine Sekunde in den Betrieben diskutiert worden und Giesler für seinen Vorstoß und Alleingang anschließend Kritik erntete, so folgte die Tarifkommission Anfang September dem Vorschlag und beschloss folgende Forderungen: Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich; 8,5% mehr Lohn; 12 Monate Mindestlaufzeit.
Damit war ein starkes Zeichen gesetzt. Neben der angemessen hohen Lohnforderung bei kurzer Laufzeit stach natürlich besonders die 32-Stunden-Woche heraus. Den letzten Kampf für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit – damals von 40 auf 35 Stunden – hatte es in Deutschland vor fast 40 Jahren gegeben. Daher zog besonders diese Forderung der Stahlarbeiter eine Menge Aufmerksamkeit auf sich. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass diese Forderungen nicht wirklich als Ausdruck einer neuen kämpferischen Tarifpolitik der IG Metall verstanden werden kann, denn sie wurde unter besonderen Bedingungen innerhalb der Stahlindustrie erhoben. Denn seit einigen Jahren steht in der deutschen Stahlindustrie das Thema „Transformation“ im Vordergrund. Dabei geht es um die Modernisierung der Produktionsanlagen zur Herstellung CO2-neutralen Stahls mithilfe von Wasserstoff statt fossiler Brennstoffe wie Erdgas und Kohle. Unter dem Vorwand der Einhaltung der Klimaziele erhoffen sich die deutschen Stahlkonzerne dadurch insbesondere die Erhaltung ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit, ganz besonders gegenüber China, dass seine Stahlproduktion in rasantem Tempo ausgedehnt hat beziehungsweise noch weiter ausdehnt und mittlerweile 60 Prozent des Stahls weltweit produziert. Diese Modernisierung wird durch milliardenschwere Subventionen vom deutschen Staat finanziert, wofür sich in erster Linie die IG Metall in guter sozialpartnerschaftlicher Manier eingesetzt hatte. Allerdings bringt dieser Umbau der Stahlproduktion in den kommenden Jahren auch nennenswerte Konsequenzen mit sich. Denn aufgrund des neuen Produktionsverfahrens sinkt der Personalbedarf in der Branche, unter anderem durch den Wegfall der Hochöfen und auch einiger vorbereitender Produktionsschritte wie der Kokerei. Mit der Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung reagiert die Gewerkschaft also genau auf diesen Umstand, damit es infolge des geringeren Beschäftigungsbedarfes nicht zu Entlassungen kommt. Die zunächst kämpferisch erscheinende Forderung nach einer 32-Stunden-Woche ist tatsächlich also Bestandteil eines Verteidigungskampfes. Nichts destotrotz war sie ein wichtiges Signal und das Thema wurde weit über die Stahlbranche hinaus zum Diskussionsgegenstand unter Gewerkschaftern.

Das Ergebnis
Ende November endete die Friedenspflicht und die IG Metall antwortete unverzüglich mit Warnstreiks auf die unverschämten Angebote der Kapitalseite. In der ersten und zweiten Verhandlungsrunde boten diese lediglich 3,1 Prozent zu 15 Monaten Mindestlaufzeit an und auf die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung wurde gar nicht eingegangen. Als auch in der dritten und vierten Verhandlung kein wirkliches Vorankommen möglich war, kam es ab dem 12. Dezember zu 24-stündigen Warnstreiks, bei denen sich allein in Nordrhein-Westfalen etwa 29.000 Kollegen innerhalb der ersten paar Tage beteiligten. Und schon in den Morgenstunden des 16. Dezembers folgte dann die Nachricht, dass sich die Verhandlungsführer der Gewerkschaft und der Arbeitgeber auf einen Kompromiss geeinigt haben. Dieser sieht wie folgt aus: Insgesamt 3000 Euro Inflationsausgleichsprämie, von denen die erste Hälfte im Januar 2024 und die zweite in Raten bis zum Dezember 2024 gezahlt werden soll; tabellenwirksame Lohnerhöhung von 5,5 Prozent, welche ab Januar 2025 gezahlt werden soll; 22 Monate Mindestlaufzeit und verschiedene Modelle zur Arbeitszeitverkürzung, bei denen es allerdings höchstens einen Teillohnausgleich gibt. Betrachtet man zunächst nur die Entgelterhöhungen und die Laufzeit, so fällt bereits hier auf, dass das Verhandlungsergebnis meilenweit von den Forderungen der Beschäftigten abweicht. Nicht nur, dass man sich mit nicht mal zwei Drittel der tabellenwirksamen Lohnerhöhung zufriedengegeben hat. Die Kollegen müssen außerdem faktisch für die ersten 13 Monate auf eine Lohnerhöhung verzichten. Allein das ist in Anbetracht des enormen Reallohnverlusts der letzten beiden Jahre für die arbeitende Bevölkerung eine himmelschreiende Frechheit. Gefordert hatten die Kollegen eine unmittelbare Lohnerhöhung von 8,5% und die Möglichkeit nach 12 Monaten die nächste Lohnerhöhung zu erkämpfen. Stattdessen sollen sie nun innerhalb von 13 Monaten nichts bekommen und danach auch nur einen Bruchteil dessen, was sie gefordert haben. Die beinahe verdoppelte Mindestlaufzeit setzt dem ganzen noch die Krone auf. Es ist an dieser Stelle noch einmal wichtig zu betonen, dass die ausgehandelte Inflationsausgleichsprämie keines Falls mit einer tabellenwirksamen Lohnerhöhung gleichzusetzen ist. Das wussten auch die Kollegen aus der Stahltarifkommission und hatten sich im Vorfeld bewusst für eine angemessene Prozentforderung und gegen eine Inflationsausgleichsprämie entschieden. Spätestens das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut hatte bereits zu Beginn des Jahres 2023 durch Berechnung die gravierenden Nachteile einer Einmalzahlung gegenüber einer Tabellenerhöhung nachgewiesen. Wer sich also bemüht, innerhalb dieses Verhandlungsergebnisses die Inflationsausgleichprämie als Erfolg zu verkaufen, der versucht ganz bewusst die Arbeiter der Stahlindustrie zu täuschen. Sie widerspricht nicht nur objektiv den Interessen der Arbeiter, sondern war eben aus gutem Grund nicht Bestandteil des Forderungskataloges der Tarifkommission.

Die Sache mit der Arbeitszeitverkürzung
Die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden pro Woche mit vollem Lohnausgleich war das Herzstück der Forderungen der Beschäftigten. Nicht nur wäre es eine bedeutende Verbesserung der Lebensqualität für die Stahlarbeiter gewesen. Darüber hinaus genoss sie, wie bereits erläutert, auch vor dem Hintergrund der Beschäftigungssicherung große Wichtigkeit. Was nun innerhalb dieses Verhandlungsergebnisses dabei herausgekommen ist, ist ein Regelungsdschungel, der, genau wie die Einigungen bei Entgelt und Laufzeit, die ursprünglichen Forderungen der Tarifkommission meilenweit verfehlt. Im Wesentlichen zerfällt die Frage der Arbeitszeitverkürzung in zwei Modelle: zum einen das der individuellen und zum anderen das der kollektiven Arbeitszeitverkürzung.
Die individuelle Arbeitszeitverkürzung ermöglicht es dabei jedem Arbeiter – natürlich nur insofern, als dass keine betrieblichen Gründe dagegensprechen – seine persönliche Arbeitszeit auf 33,6 Stunden pro Woche zu reduzieren, dabei aber ohne jeden Lohnausgleich. Lediglich Arbeiter die mit mindestens 60 Jahren noch im Schichtdienst arbeiten, sollen einen Teillohnausgleich erhalten, der bei 33,6h Arbeitszeit die Vergütung von 34,1h vorsieht.
Die kollektive Arbeitszeitverkürzung soll die Absenkung der Wochenarbeitszeit auf bis zu 32 Stunden pro Woche ermöglichen, allerdings nur, wenn beide Tarifparteien dem zustimmen. Konkret heißt das: Arbeitszeitverkürzung nur dann, wenn der Konzern es braucht beziehungsweise möchte. Dabei soll es keinen vollen Lohnausgleich geben, sondern einen gestaffelten, der aber höchstens eine Stunde mehr vergütet, als tatsächlich gearbeitet wird. Im Detail sieht dieser wie folgt aus: beträgt die Arbeitszeit 34 Stunden pro Woche, so werden 34,5 Stunden vergütet; bei 33 Stunden Arbeitszeit sollen 33,75 Stunden vergütet werden und sollte die Wochenarbeitszeit tatsächlich auf die geforderten 32 Stunden reduziert werden, so werden in diesem Fall 33 Stunden entlohnt.
Sollte also die Kapitalseite einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden zustimmen, so wie es der Forderung der Beschäftigten entspricht, dann würde das für die Kollegen fast 6% Lohnverlust bedeuten, da sie statt 35 Stunden nur 33 Stunden bezahlt bekommen. Gefordert war der volle Lohnausgleich, bekommen sollen die Kollegen ein Lohnminus von 6 Prozent, wenn es nach den Verhandlungsführern von Gewerkschaft und Arbeitgeberverband geht. Und das eben auch nur dann, wenn die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auch im Interesse der Konzerne ist, das heißt wenn sie sich davon die Steigerung ihrer Profite versprechen. Es kann, in Anbetracht dieses Ergebnisses, kein Zweifel daran bestehen, dass dieser sozialpartnerschaftliche Kurs der Gewerkschaftsführung im Widerspruch zu den Interessen der Arbeiter steht; dass sich die Gewerkschaftsführung damit offen auf die Seite des Kapitals schlägt.
Wer nun glaubt, dass angesichts dieser desaströsen Einigung bei Entgelt, Laufzeit und Arbeitszeitverkürzung das Ende der Fahnenstange erreicht wäre, der hat die Rechnung allerdings ohne die Verschlagenheit der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführung gemacht. Denn was muss ein gutes sozialpartnerschaftliches Verhandlungsergebnis enthalten, wenn die Arbeiter zuvor Arbeitszeitkürzung zu ihrer Forderung erhoben haben? Richtig: die Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Das Ergebnis sieht allen Ernstes die Erhöhung der Wochenarbeitszeit um bis zu drei Stunden vor, „sollte aus Gründen der Transformation temporär ein Mehrbedarf nötig sein – etwa für einen Parallelbetrieb von alten und neuen Technologien oder für Qualifikation […]“. (IG Metall Website, Tarifrunde Eisen und Stahl 2023) Fast 10 Prozent Arbeitszeiterhöhung, wenn der betriebliche Bedarf dafür besteht. Spätestens damit erreicht die arbeiterfeindliche Tarifpolitik der IG-Metall-Führung einen neuen Tiefpunkt. Dieses Verhandlungsergebnis bedeutet nicht mehr nur Reallohnverlust durch Stillstand, sondern es bedeutet direkten Rückschritt und beträchtliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Wie geht es weiter?
Die Gewerkschaftsführung bemüht sich nach Leibeskräften in Gestalt des Verhandlungsführers Knut Giesler, die Stahlarbeiter und ihre gewählten Vertreter in den Tarifkommissionen unter Druck zu setzen. Dabei fallen unter anderem Sätze wie diese: „Die Stahlindustrie steht vor einer wirtschaftlich unsicheren Zukunft. Das hat sich auch in den Verhandlungen der Arbeitgeber widergespiegelt. Das nächste Jahr wird noch schwieriger werden als ursprünglich erwartet. Deshalb ist es gut, dass wir jetzt eine Einigung erzielt haben. Denn im Januar wäre unsere Position noch schwächer gewesen.“ Oder: „Wenn wir dieses Ergebnis nicht akzeptieren, werden wir nach einer Streikabstimmung im neuen Jahr wieder von vorne anfangen.“ Doch wem versucht er, mit diesen Äußerungen Angst zu machen? Haben 29.000 streikende Kollegen in wenigen Tagen nicht gezeigt, dass sie hinter ihren Forderungen stehen? Dass sie bereit sind zu kämpfen? Vor was fürchtet sich Giesler? Etwa vor der Ausschüttung weiterer Streikgelder? Oder vor dem Tadel des heißgeliebten Sozialpartners? Dieser bewertet das Verhandlungsergebnis im Übrigen wie folgt: „Sehr positiv bewerten wir, dass es uns gemeinsam mit der IG Metall gelungen ist, eine passgenaue Regelung zur Arbeitszeit und zur Beschäftigungssicherung während der ökologischen Transformation unserer Industrie zu schaffen“, so Reiner Blaschek vom Arbeitgeberverband Stahl. Außerdem: „Wichtig war uns, dass in der Regel kein Lohnausgleich gezahlt wird.“ Es liegt also offen auf der Hand, dass dieses Ergebnis in keinster Weise den Interessen der Arbeiter in der Stahlindustrie entspricht. Am 11. Januar 2024 wird über das Verhandlungsergebnis in der großen Tarifkommission der Nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie abgestimmt. Bis dahin bleibt nicht mehr viel Zeit zur Diskussion in den Betrieben, doch genau die braucht es jetzt dringend. Denn obwohl das Ergebnis offenkundig miserabel ist, sitzt die Gewerkschaftsführung fest im Sattel und hat die Diskussionen in den Tarifkommissionen in der Regel fest im Griff, sodass auch in diesem Fall zu erwarten ist, dass sich kein ausreichender Widerstand gegen diesen verräterischen Kompromiss bilden wird. Einzig der Druck aus der betrieblichen Basis auf die Tarifkommission und die gewerkschaftlichen Verhandlungsführer ist jetzt noch in der Lage, diesen Abschluss zu verhindern. Alle Kollegen in der Stahlindustrie sollten jetzt das Verhandlungsergebnis so breit wie möglich in den Belegschaften diskutieren und die gewählten Tarifkommissionsmitglieder aus ihren jeweiligen Betrieben entweder mit der nötigen Rückendeckung aus dem Betrieb heraus auszustatten, um sich gegen diesen Kompromiss auflehnen zu können oder sie mit dem Diskussionsstand zu konfrontieren und dahingehend unter Druck zu setzen, dass sie die Interessen der Belegschaft auch entsprechend vertreten. Anders wird dieser Tarifabschluss nicht zu verhindern sein.