Die Partei Die Linke befindet sich in der inzwischen wohl größten Krise seit ihrem Bestehen. Schon seit Jahren zeigt sich die Unfähigkeit die Vielzahl der Krisen des kapitalistischen Systems klar zu benennen und Menschen für eine linksreformistische Alternative zur bestehenden Politik zu gewinnen. Stattdessen dominieren öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen um programmatische Differenzen und machtpolitische Positionen. Ausdruck und Verstärkung dieser inhaltlichen sowie strategischen Misere stellt nun die Abspaltung des Sahra-Wagenknecht-Flügels und die Gründung einer eigenen Partei dar. Vieles bleibt auch nach den ersten Verlautbarungen der künftigen Führungsriege der neuen Partei noch ungewiss. Eines lässt sich aber mit ziemlicher Sicherheit jetzt schon sagen: einen ernsthaften Versuch einer neuen, sozialistisch-reformistischen Linkspartei mit parlamentarischer Verankerung und fortschrittlicher Perspektive wird dieses Projekt wohl nicht bieten können.
Was ist passiert?
Am vergangenen Montag war es so weit: Nach Jahren der Entfremdung und monatelang andauernden Spekulationen über eine mögliche Spaltung Der Linken erklärten zehn Abgeordnete den Austritt aus der Partei und ihre Mitgliedschaft im neu gegründeten Verein „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW). Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, eine Parteigründung Anfang 2024 vorzubereiten und in der Folge als neue Partei erstmals bei den Europawahlen im kommenden Jahr anzutreten. An einer Nachfrage und zumindest vorläufigen Begeisterung für das Projekt scheint es nicht zu mangeln. Am Tag der öffentlichen Vorstellung des Bündnisses gaben bei einer Umfrage 12 % der Befragten an, dass sie das Bündnis Sarah Wagenknecht wählen würden. Auch andere Erhebungen ergaben, dass sich rund ein Fünftel der Menschen in Deutschland vorstellen kann, eine Wagenknecht-Partei zu wählen. Bei den Thüringer Landtagswahlen käme sie laut einer Studie sogar auf bis zu 25 %.
Solche frühen Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen; eine Partei im Anfangsstadium, über die noch wenig Konkretes bekannt ist, bietet eine willkommene Projektionsfläche für alle möglichen Anliegen und Sehnsüchte. Es bleibt abzuwarten, wie sich die parteiliche Ausrichtung entwickelt und welche Wähler:innen dann tatsächlich bereit sind, ihre Stimme dafür abzugeben. Worauf die Werte aber – neben einer herausragenden Popularität Wagenknechts –dennoch hindeuten, ist das grundsätzlich große Potenzial und Bedürfnis nach einer anderen oppositionellen Kraft, das weit über Teile der enttäuschten Linken-Kernwählerschaft hinausgeht und von breiten Bevölkerungsteilen geteilt wird.
Womit wirbt Wagenknecht?
Es ist nicht überraschend, dass ein Bündnis wie das von Wagenknecht gerade jetzt Aufschwung bekommt. Nach ersten Aussagen will das Bündnis den gesellschaftlichen Niedergang Deutschlands stoppen und eine Stimme all derer sein, die das Vertrauen in die Politik verloren haben und sich von keiner der bestehenden Parteien mehr vertreten fühlen. Die erste und wichtigste Aufgabe sehen die Beteiligten in einer neuen Wirtschaftspolitik der Vernunft für Deutschland. Die (noch!) solide Industrie und der innovative Mittelstand sollen durch Interventionen eines kompetenten Staates, fairen Wettbewerb und den Verzicht auf selbstschädigende Politik gerettet werden. Weitere nachrangig angesprochene Themen sind die Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit gemäß eines Leistungsprinzips, das Eintreten für Entspannung und Diplomatie in den außenpolitischen Beziehungen sowie der Kampf gegen einen zu engen gesellschaftlichen Meinungskorridor und eine Politik, die den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben haben.
Das Bündnis spricht damit die Fragen an, die vor allem arbeitende Menschen in Deutschland beschäftigen. Darüber, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung sich von der herrschenden Politik nicht vertreten fühlt und sich resigniert abwendet, kann sich nach Jahren voller Krisen und Krieg, deren Folgen weiterhin maßgeblich auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt werden, niemand ernsthaft wundern. Wer für letztere Behauptung noch einen Beleg benötigt hat, braucht sich nur den Haushaltsplan für 2024 anschauen, welcher festhält, dass in allen Bereichen außer der Militarisierung und Wirtschaftsförderung teils drastische Kürzungen vorgenommen werden sollen. Auch der These eines einseitigen Meinungsbildes lässt sich zum Beispiel mit Blick auf den öffentlichen Diskurs über Waffenlieferungen oder ganz aktuell hinsichtlich der Reaktionen vonseiten der Politik und der Medien auf die Gewaltexzesse in Gaza etwas abgewinnen. Und gerade die anti-woke Haltung von Wagenknecht funktioniert besonders gut, denn die Ampel rechtfertigt und verschleiert ihre arbeiterfeindliche und kriegstreiberische Haltung ja gerade mit einer linksliberalen, scheinprogressiven Haltung. Doch ist das Bündnis Sarah Wagenknecht eine Alternative für fortschrittliche Kräfte, denen die Linkspartei zu unkritisch geworden ist? Welche Lösungen bietet sie tatsächlich für die arbeitende Bevölkerung?
Was steckt dahinter?
Die Programmatik von Wagenknecht lässt sich anhand von ein paar Punkten gut nachvollziehen: die Haltung zur Krise des kapitalistischen Systems, zum Krieg gegen Russland und zur Migrationsdebatte. Denn der Position von Wagenknecht zu all diesen Fragen liegt eine grundsätzliche Annahme zugrunde: Es gibt ein gemeinsames, nationales Interesse, das durch die derzeitige Politik verletzt wird. Die Politik sei unvernünftig, weswegen die Industrie immer weiter abbaut, das Land immer weiter verarmt und die kriegerischen Konflikte immer weiter angeheizt werden. Das Bündnis will es sich zur Aufgabe machen, im Interesse derjenigen, die „sich anstrengen und gute, ehrliche und solide Arbeit leisten“ Politik zu machen. Dabei soll die Industrie, der Mittelstand und die Masse der Bevölkerung profitieren. Doch diese Erzählung ist eine Lüge.
Die derzeitige Politik lässt die Bevölkerung nicht verarmen und rüstet nicht auf, weil sie unvernünftig ist und das nationale Interesse missachtet, sondern weil die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems den offenen Interessengegensatz in unserer Gesellschaft immer weiter zum Vorschein bringt. War es in früheren Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs noch erträglicher für das Kapital, dem großen Druck und den entschlossenen Kämpfen der arbeitenden Klasse damit zu begegnen, dass ein Teil des Profits in Form von höheren Löhnen und sozialen Sicherungen an die arbeitende Bevölkerung ging, wird in der Krise seit Jahren immer offensichtlicher, dass sich am Ende das Tages Arbeiter und Chefs gegenüberstehen. Jeder Euro, der nicht in die Taschen der Arbeitenden geht, geht in die Taschen der Chefs. Und gerade in Zeiten, in denen die Konzerne ihre Gewinne und damit ihre Konkurrenzfähigkeit gefährdet sehen, müssen die Arbeitenden um jeden Cent noch härter kämpfen. Über diese Tatsache lässt sich nicht hinwegtäuschen, indem man eine Versöhnung von Kapital und Arbeit propagiert. Natürlich kämpfen wir für jede kleine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse – doch wer so tut, als könnte diese im Einklang mit den deutschen Konzernen erreicht werden, der täuscht die Arbeitenden.
Unter demselben Vorzeichen steht auch die Außenpolitik des Bündnisses. Im Sinne einer „selbstbewussten Politik“, die Deutschland verdient habe, soll „ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt“ gefördert werden. Auslandseinsätze und eine konfrontative Außenpolitik sollen aufhören und Deutschland nur im Sinne der eigenen Wehrfähigkeit ausgerüstet werden. Doch die Vorstellung, dass die imperialistischen Länder der Welt einfach friedlich koexistieren können, ohne ihre imperialistischen Bestrebungen zur Not auch militärisch durchzusetzen, ist wie die Vorstellung der Kreis könne aufhören rund zu sein. Denn Kriege entstehen nicht aufgrund von Machtgier einzelner Politiker oder Regierungen, sondern sind systemisch und im ökonomischen Konkurrenzkampf begründet. Auch wenn sich um Diplomatie mit Russland und China bemüht wird und man sich nicht komplett dem Kurs der US-Regierung unterordnen möchte, bleibt die multipolare Weltordnung, von der das Bündnis träumt, eine Vorstellung, die im Gegensatz zur Realität steht.
Aber, könnte man jetzt erwidern, die Politik des Bündnisses ist ja trotzdem besser als die Bestehende? Denn es scheint ja besser, eine Politik zu verfolgen, in der gesellschaftlicher Reichtum umverteilt wird und die Politik im Rahmen der Möglichkeiten so sozial wie möglich gestaltet wird, in der auch die Unternehmen mal zum Einlenken gedrängt werden und in dem die Einmischung in militärische Konflikte zumindest nicht direkt stattfindet. Auch wenn das Bündnis vielleicht nicht alles innerhalb des kapitalistischen Systems umsetzen kann, ist es doch besser, zumindest eine Politik zu verfolgen, die versucht, sozialen Frieden und Diplomatie herzustellen, statt Krise und Krieg zu befördern?
Doch bereits jetzt zeigt sich die Kehrseite dieser Strategie – und zwar in der Migrationsfrage. Denn eine Politik, die den Klassengegensatz leugnet und eine gerechte und friedliche Politik in einem System in Aussicht stellt, in dem sie langfristig gar nicht möglich ist, bietet zwar in sozialen und außenpolitischen Fragen vielleicht zurzeit ein „geringeres Übel“, in der Migrationsfrage enttarnt sie sich aber schon jetzt. Denn die Lüge vom nationalen „Wir“, auf dem die Wagenknecht-Ideologie beruht, zeigt hier ihr ganzes fatales Ausmaß. Das Bündnis formuliert seine Position folgendermaßen: „Zuwanderung und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen können eine Bereicherung sein. Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt. Wir wissen: Den Preis für verschärfte Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum, um Jobs mit niedrigen Löhnen und für eine misslungene Integration zahlen nicht in erster Linie diejenigen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen.“ Im Klartext: Wir müssen die Migration begrenzen, weil sonst die heimischen Arbeiter den Preis für die ganzen Flüchtlinge zahlen. Das nationale „Wir“ würde durch die „von außen“ gefährdet.
Der Diskussion um die Migration liegt eine Annahme zu Grunde: die Menschen, die nach Deutschland kommen, können zum Problem werden, weil das Geld nicht für alle reicht. Diese Annahme wiegt umso schwerer, wenn man annimmt, dass die Flüchtlingsströme gerade ein besonders großes Ausmaß annehmen, was ebenfalls nicht der Realität entspricht (siehe Artikel auf S. 3). Die zwei Seiten des Konflikts wären also heimische Arbeiter und Konzerne auf der einen Seite, auf der anderen Seite die ausländischen Arbeiter oder Geflüchtete, deren Bedürfnisse das von der Nation Leistbare übersteigen. Schon logisch muss hier ein Fehler ausgemacht werden: In der Zeit, in der 50 Menschen ein Haus bauen, bauen 100 Menschen zwei Häuser. Während 50 Menschen 20.000€ erarbeiten, erarbeiten 100 Menschen 40.000€. Je mehr Menschen in einer Gesellschaft leben, desto mehr Menschen können arbeiten, um diese Gesellschaft zu erhalten. Der Mangel entsteht nicht durch zu viele Menschen – es kann nicht zu viele Menschen geben. Der Mangel entsteht durch diejenigen, die die erwirtschafteten Gelder in ihre Taschen stecken. Und das sehen wir schon jetzt: die heimischen Arbeiter werden immer ärmer, ihnen wird immer weniger gezahlt, alles wird immer teuer. Die Konzerne machen Milliardengewinne. Wer so tut, als würden diese beiden Parteien auf einer Seite des Konfliktes stehen, der hilft nur denen, die von dem Ganzen profitieren.
Natürlich ist es ein Problem, dass viele Geflüchtete nicht arbeiten. Das liegt ganz allgemein häufig daran, dass sie es nicht dürfen, denn es gibt extreme Hürden für Asylsuchende, sich auf dem Arbeitsmarkt zu betätigen. Viele der Geflüchteten sind also dazu gezwungen, Leistungen zu beziehen und können sich, auch wenn sie es wollen, nicht am Arbeitsmarkt beteiligen. Eine sinnvolle Politik würde den Menschen ermöglichen, in Deutschland zu arbeiten und somit auch Teil der Gesellschaft zu werden – und auch für die gesamte Arbeiterklasse wäre das der eigentliche Fortschritt. Denn natürlich werden Migranten und gerade Geflüchtete dazu missbraucht, um Löhne zu drücken und die Menschen gegeneinander auszuspielen. Wenn jedoch heimische wie ausländische Arbeitskräfte sich zusammenschließen, dann ist ihre Kampfkraft und ihr Druck viel höher. Hier liegt der Ansatz für die Lösung der Probleme. Denn jede Lohnerhöhung, jede Verbesserung der Lebenslage muss erkämpft werden. Neben der Bekämpfung von Fluchtursachen, die auch jetzt eine Forderung sein muss, muss also auch auf die angebliche „Gefahr der Überforderung der Sozialsysteme“ eine klassenbewusste Antwort gefunden werden. Wagenknecht hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie solch eine Antwort nicht formulieren will, sondern auf den Kurs der Herrschenden aufspringt und die Arbeitenden lieber gegeneinander aufhetzt. Diese Position ist nicht nur falsch und führt dazu, dass die Menschen hinters Licht geführt und vom Kämpfen abgehalten werden. Sie ist in Zeiten, in denen das Asylrecht abgeschafft wird und eine rassistische Diskussion in Medien und Politik keinen Halt mehr findet eine verheerende Politik, die selbst hinter der systemtreuen Linkspartei hinterherhinkt. Denn in diesen Zeiten findet die Haltung nicht nur Anklang bei Wählern, sondern auch einen realen Ausdruck – die GEAS-Reform dieses Jahr, die das Asylrecht in Europa faktisch abschafft, hat gezeigt, wie fatal sich die Politik der Abschottung an den Außengrenzen auswirkt.
Die Wagenknecht-Partei, wie auch immer sie am Ende heißen wird, hat viel Wirbel gemacht und auch in fortschrittlichen Kreisen gibt es Menschen, die Hoffnung in diese Partei stecken. Deren Politik ist jedoch keine bessere Alternative zur Linkspartei – sie ist ebenso reformistisch und täuscht die Möglichkeit einer Befreiung der Arbeiterklasse im bestehenden System vor. Doch nicht nur das: sie zeigt auch jetzt schon eindrücklich, wozu es führt, wenn man diese klassenversöhnende Haltung konsequent verfolgt: Das Eintauschen vom Kampf von „unten gegen oben“ für ein „innen gegen außen“. Natürlich ist es wichtig, Forderungen für die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse zu stellen und für diese auch im Hier und Jetzt zu kämpfen. Doch diese neue Partei ist weder ein Hoffnungsschimmer für fortschrittliche Kräfte noch verbessert sie die Kampfbedingungen für revolutionäre Kräfte. Vielmehr zeigt ihr Erfolg auch in fortschrittlichen Kreisen die Notwendigkeit, den Klassengegensatz und eine klassenkämpferische, revolutionäre Politik umso mehr zu stärken