Am Wochenende 19.-21. Mai führten die G7-Staaten ihren 49. Gipfel in der japanischen Stadt Hiroshima durch. Neben den G7-Mitgliedstaaten waren beim Treffen Vertreter einiger Schwellenländer und der ukrainische Präsident Selenskj in Form eines Überraschungsbesuchs anwesend. Obwohl der Ukrainekrieg und Russland im Vordergrund der Diskussionen standen, dominierte nicht zuletzt der Austausch über Maßnahmen und Perspektiven bezüglich des Umgangs mit dem wirtschaftlich und geopolitisch aufsteigenden China.
Hiroshima wurde, weil Friedensstadt und an die Folgen atomarer Verwüstung mahnend, als Treffpunkt ausgewählt. So durfte sich nur folgerichtig, das sich am lautstärksten als Statue des Friedens präsentierende Regierungsoberhaupt blicken lassen. Die physische Anwesenheit Selenskjs hatte Konsequenzen auf mehreren Ebenen. Das blau-gelbe Maskottchen mit olivgrüner Umrandung unterstrich die westliche Einigkeit symbolisch. Alle westlichen Staaten, von Washington bis Tallinn und von Helsinki bis Tokio können ihre Unterstützung im Krieg für Kiew als Beweis einer Wiederbelebung gemeinsamer Interessen zur Schau stellen. Insbesondere Washington profitiert als Hegemon einer „werte-basierten“ Weltordnung, einer Ordnung in der eine Handvoll Staaten den Rest der Welt ausbeutet, von der neuen Einigkeit. Alle jene Juniorpartner der Ausbeuter-Clique, allen voran Paris und Berlin, die, geleitet durch eigene Interessen, eigenständiger zu handeln begannen, wurden schnell durch den blau-gelben Burgfriedenzwang von und unter Washington zurückgepfiffen. Plötzlich wurde eine alles umfassende Identität der Interessen aller westlichen Mächte verkündet, auf deren allzu gegenwärtige Zerbrechlichkeit wir noch zu sprechen kommen werden.
Doch ermöglichte die Anwesenheit des ukrainischen Präsidenten des Weiteren die direkte Konfrontation mit Gaststaaten wie Indien. Die Bringschuld gegenüber ihren eigenen Interessen konnten Washington und Co. so auf Selenskj, der sich in seiner Rolle als Opferdarsteller seit über einem Jahr hervorragend macht, abwälzen. Denn entgegen hiesiger medialer Darstellungen, werden die gegen Moskau verhängten Sanktionen nicht von der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft getragen, ja nicht einmal von allen NATO-Staaten, wie das Beispiel Türkei zeigt. Es sind eben nur die mit dem Westen assoziierten Länder, die auf das Sanktionspedal drücken. Entscheidende Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder Südafrika, die mit Peking und Moskau bisweilen als BRICS-Forum zusammenkommen, verweigern bis heute ihre Unterstützung des entsprechenden Wirtschaftskrieges.
An den ebenfalls beim Gipfel anwesenden indischen Premierminister Modi und den brasilianischen Präsidenten Lula gerichtet, forderte Selenskj eine „klare globale Führung der Demokratie“. Denn „desto mehr wir zusammenarbeiten, desto weniger wahrscheinlich wird es, dass irgendjemand anderes in der Welt Russlands verrücktem Weg folgen wird“, so Selenskj weiter. Während Modi eine diplomatische Miene bei der Unterredung mit dem ukrainischen Präsidenten präsentierte, soll Lula sich vom Überraschungsbesuch Selenskjs überrumpelt gefühlt haben. Ungeachtet des Weges, den Neu-Delhi und Brasília in Zukunft beschreiten werden, schwindet zumindest die westliche Kriegsunterstützung erst einmal nicht. Abgesehen von neuen Sanktionen, erlaubt Washington nun auch die Ausbildung ukrainischer Soldaten an F-16-Kampfjets. Wann und wie die Jets zur weiteren Anheizung des Kriegsgeschehens geliefert werden, ist noch unklar.
Der russische Außenminister Lawrow kritisierte die G7-Staaten für ihr Engagement, „Russland nicht bloß auf dem Schlachtfeld zu besiegen, sondern als ihren geopolitischen Wettbewerber eliminieren zu wollen“. Dass Lawrow derart offen über einen geopolitischen Wettbewerb, über einen Kampf um Einflusszonen spricht, ist nicht neu. Erwähnenswert ist eher, dass Lawrow die Beschlüsse des G7-Gipfels bezüglich Pekings thematisiert und von einer „doppelten Eindämmung“ der G7-Staaten gegenüber Moskau und Peking spricht. Der russischen Unzufriedenheit entsprechend, formuliert Großbritanniens Premierminister Sunak, dass Peking „die größte Herausforderung unserer Zeit“ sein wird. Die bereits angebrochene und sich verschärfende Blockbildung zwischen West und Ost, zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“, zwischen Washington und seinen Verbündeten einerseits und Peking und seinen Verbündeten andererseits, scheint festere Formen anzunehmen, der Kontrahent Moskau wiederum, abseits der Diskussionen um den Ukrainekrieg, eine zunehmend untergeordnete Rolle zu spielen, nach der dichotomischen Anschauungsweise einfach nur mit Peking assoziiert zu werden.
Vor dem Hintergrund steigender Konfrontationsgefahren gewinnen die Teilnahmen der BRICS-Mitglieder Indien und Brasilien, aber auch Äthiopiens, als afrikanisches und Indonesiens als südostasiatisches Land eine zentrale Bedeutung. Die von den westlichen Staaten aufrechterhaltene eigene Hegemonie in der Welt in Form der werte-basierten Weltordnung führt unweigerlich zu Widersprüchen außerhalb der eigenen westlichen Sphäre. Insbesondere Lula kritisiert die Profiteure dieser westlichen Dominanz als „Herren der Welt“ und fordert gleichberechtigte Anteile von dem Kuchen des internationalen Profits. Diese „Gleichberechtigung“ sehen aufsteigende Schwellenländer wie Brasilien und Indien, die endlich in den Club der imperialistischen Größen aufgenommen werden wollen, in der strategischen Zusammenarbeit mit den Kontrahenten der westlichen Profiteure, allen voran Peking und Moskau. Den schwebenden Zwischenzustand, den die Schwellenländer bisweilen einnehmen, um sich nicht endgültig für einen „Block“ entscheiden zu müssen, sich also alle Türen aufhalten zu können, bringt Washington und Brüssel auf den Plan, die bilaterale Zusammenarbeit wieder zu beleben und die Indien und Co. vom Einfluss ihrer Kontrahenten zu entkoppeln.
Die strategische Diskussion um eine zunehmende Entkopplung von chinesischen Abhängigkeiten ist daher das eigentliche Zukunftsthema des Gipfels. Mittels des Schlagworts „Ökonomischer Zwang“ wurden die Gefahren von chinesischem Einfluss durchleuchtet und wie man diesen eindämmen kann. Dabei spielen westliche Investitionen in den globalen Süden als neue alte Alternative zu den chinesischen Projekten eine zentrale Rolle, um den schwindenden Einfluss in der Welt halten und wieder ausbauen zu können. Im abschließenden Kommuniqué heißt es dazu, die „Infrastruktur-Investitionslücke in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen“ verkleinern zu wollen. Insbesondere das auf dem letztjährigen Gipfel im oberbayerischen Elmau beschlossene Programm Partnership for Global Infrastructure and Investment in Höhe von 600 Milliarden US-Dollar soll verstärkt werden.
Derweil sollen nicht nur die Abhängigkeiten der „Partner“ außerhalb der westlichen Hemisphäre, sondern auch die eigenen Abhängigkeiten gegenüber Peking reduziert werden. Unter dem Punkt „Ökonomische Resilienz und Sicherheit“ wird die Gründung einer „Koordinationsplattform über ökonomische Zwänge“ vorgestellt. Darunter fällt auch die Sicherung und Kontrolle von Lieferketten und der Zugang zu seltenen Erden und Mineralien. In diesem Zusammenhang fällt beispielsweise der viel diskutierte Inflation Reduction Act Washingtons, der einen Schritt der unilateralen Umsetzung ökonomischer Sicherheitsinteressen darstellt. Er löste teils Empörung bei den westlichen Partnern aus.
Denn was auch bei diesem vergangenen Gipfel viel gepredigt ward, stellt den Versuch dar, widerstreitende Interessen miteinander zu vereinen, eine Einigkeit zu erzwingen, die höchstens geschlossene Uneinigkeit bleiben kann. So stellt die ausufernde Subventionspolitik Washingtons eine, wenn auch unbeabsichtigte Kampfansage an die anderen G7-Staaten dar, die zu einem verschärften Konkurrenzkampf um die günstigsten Produktionsstandorte gezwungen werden. Plötzlich ringt Berlin mit Washington darum, wohin deutsches Kapital in Zukunft fließen wird. Brüssel hat nicht grundlos ein eigenes Subventionsprogramm im Wert von ungefähr 300 Milliarden US-Dollar aufgelegt.
Trotzdem scheinen die inneren Widersprüche des westlichen Lagers nach Darstellungen öffentlicher Bekundungen in den Hintergrund getreten zu sein. Während Sullivan, nationaler Sicherheitsberater der USA, die Möglichkeit einer „Umwandlung des Inflation Reduction Act von einer Quelle der Reibung in eine Quelle der Zusammenarbeit zwischen den USA und ihren G7-Partnern“ sieht, findet EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen eine sogar noch optimistischere Formulierung: „Dieser (…) Wettbewerb ist eine Gelegenheit zusammen schneller und weiter zu gehen. (…) Unser Wettbewerb sollte zusätzliche Produktionskapazitäten schaffen und nicht auf Kosten des jeweils anderen gehen“. Ob sich wirklich eine Einigung in der strategischen Ausrichtung der unterschiedlichen G7-Staaten findet, bleibt abzuwarten. Die Signale in die Welt sind aber eindeutig. Die direkte Konfrontation mit Peking wird das bestimmende Thema unserer Zeit sein.