Über 3 Millionen türkische Staatsbürger, die außerhalb der türkischen Grenzen leben, waren aufgefordert, Ende April bis Anfang Mai ihre Stimmen für den Präsidenten und das türkische Parlament abzugeben. Die Stimmen wurden gemeinsam mit den Stimmen aus der Türkei am Wahlabend am 14. Mai ausgezählt. Für die Stichwahl des Präsidenten im zweiten Wahlgang am 28. Mai werden die Stimmen im Ausland zwischen dem 20. und 24. Mai in den Konsulaten und Vertretungen der Türkei abgegeben.
Allgemein gilt, dass die Stimmen aus dem Ausland das Ergebnis teilweise verändern können, denn 3 Millionen Wahlberechtigte entsprechen der dritt- bis viertgrößten Provinz der Türkei. Die Stimmen aus dem Ausland werden auf die 81 türkischen Provinzen anteilig verteilt und können somit auch einzelne Abgeordnetenzahlen verschieben.
Die Wahlbeteiligung im Ausland lag bei über 54 Prozent. Bei den letzten Wahlen waren es noch 44 Prozent gewesen. Erdoğan erhielt 56 Prozent der Auslandstimmen, Kılıçdaroğlu 40,7 Prozent, die anderen beiden Kandidaten zusammen 3 Prozent. Erdoğan hat -wie bei den vorangegangenen Wahlen 2018- seinen Stimmenanteil in der Türkei wieder übertroffen. Während die Differenz zu seinem Herausforderer bei den letzten Wahlen bei ca. 12 Prozent lag, beträgt sie dieses Mal etwa 6,5 Prozent. Daher kann man sagen, dass Erdoğan auch im Ausland an Zustimmung verloren hat, aber trotzdem deutlich über dem Durchschnitt der Türkei liegt.
Was die Auslandsstimmen für die Parlamentswahlen betrifft, so ergibt sich ungefähr folgendes Bild für die größeren Parteien: AKP 43,5 Prozent, CHP 24,8 Prozent, MHP 10,6 Prozent, Grün-Linke Partei 9,5 Prozent. Aus dieser Tabelle geht hervor, dass die AKP im Ausland etwa 8 Prozent mehr Stimmen erhielt, als im türkischen Durchschnitt. Im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen hat sie jedoch etwa 10 Prozent ihrer Stimmen eingebüßt. Die CHP und die MHP hingegen konnten ihre Stimmenzahl erhöhen.
Situation in Deutschland
Ein ähnliches Bild ergibt sich in Deutschland, dem Land mit ca. 1,5 Millionen wahlberechtigten türkischen Staatsbürgern. Erdoğan erhielt 65 Prozent der Stimmen, Kılıçdaroğlu 33 Prozent.
Vergleicht man die in Deutschland abgegebenen Stimmen mit den Wahlen von 2018, so zeigt sich, dass Erdoğans Stimmenanteil gleich geblieben ist, die AKP aber 5 Prozent ihrer Stimmen verloren hat, während die CHP und die MHP ihre Stimmen um 5 Prozent bzw. 4,4 Prozent steigern konnten. Die HDP, die auf den Listen der Grün-Linken Partei kandidierte, hingegen verlor in Deutschland 5,5 Prozent ihrer Stimmen im Vergleich zu vor fünf Jahren, überwiegend an die CHP, da viele hinter dem Herausforderer auch eine starke Partei sehen wollten.
Es gibt verschiedene Gründe, warum die AKP und Erdoğan im Ausland mehr Stimmen erhalten haben, als im Durchschnitt der Türkei. Der wichtigste davon ist natürlich die Tatsache, dass die Gruppen, die für Erdoğan und die AKP arbeiten, besser organisiert sind. Mehr als 900 Moscheen, die der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) angeschlossen sind, die die Außenstelle des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten in Deutschland ist, arbeiten wie Wahlkampfzentren. Die Imame, die Angestellte der Direktion für religiöse Angelegenheiten sind, leiten den Wahlkampf. Die Gleichschaltung der Medien spielt natürlich auch eine wichtige Rolle bei der Bildung politischer Meinungen. Erdoğan hat in der Türkei eine umfangreiche Kontrolle über die Medien ausgeübt und viele türkische Medien in Deutschland stehen ihm nahe. Kritische und oppositionelle Stimmen werden verboten, sanktioniert und kriminalisiert.
Warum haben „Deutschländer“ mehrheitlich Erdoğan gewählt?
Auf diese Frage kann man nicht so einfach antworten, weil durchaus verschiedene Aspekte eine wesentliche Rolle spielen.
Es können sozioökonomische Aspekte angeführt werden. Viele der Gastarbeiter, die vor über 60 Jahren herkamen, kamen aus traditionell konservativen ländlichen Regionen und gaben ihren Nachfahren diese Werte weiter. Sie identifizieren sich mit ihrer Herkunft haben weiterhin familiäre und wirtschaftliche Beziehungen in dem Herkunftsland. Erdoğan hat sich als ihr Präsident positioniert und bekommt daher die Anerkennung dieser Menschen. Auch die Religiosität spielt eine wichtige Rolle, gilt Erdoğan doch als frommer aufrichtiger Moslem. Dass er sich mit Steuergeldern und Staatseigentum die Taschen vollstopft, wird dabei gerne übersehen, weil viele Menschen an den Scheinmehr glauben als an das wahre Sein. In seiner 20-jährigen Herrschaft hat Erdoğan sich als starker Mann aufgebaut, der ein beträchtliches Wirtschaftswachstum verzeichnen konnte und den Lebensstandard scheinbar steigerte. Die Inflation, Arbeitslosigkeit, Armut und Brain-Flucht nach Europa wird hierbei gerne ausgelassen.
Nicht „die Türken haben Erdoğan gewählt“!
Politiker und Medien in Deutschland machen nun Stimmung und werfen den Deutschländern vor, sie würden „in der Demokratie leben und ein autoritäres Regime wählen“.
Doch diese Diskussion ist eine falsche und berücksichtigt nicht die Hintergründe.
Zunächst einmal kann man davon ausgehen, dass die 1,5 Millionen Wahlberechtigten, die nicht zur Wahl gegangen sind, eher Menschen sind, die in ihren neuen Heimatländern angekommen sind und eher Erdoğan-kritischer wählen würden. Sie wollen nicht das Schicksal der Menschen in einem anderen Land mitbestimmen, das sie vermutlich nur aus dem Urlaub kennen.
Die Deutschländer stehen vor der Herausforderung, ihre kulturellen Identitäten in Einklang zu bringen. Diese hat alte Wurzeln im Land der Vorfahren, aber neue im Geburtsland. Die meisten fühlen sich stark mit beiden Kulturen verbunden und versuchen eine Balance zu finden. Dazu zählt aber auch die Anerkennung der Aufnahmegesellschaft. Hier haben viele Deutschländer Ausgrenzungserfahrungen gemacht und fühlen sich nicht vollständig akzeptiert. Institutioneller Rassismus und Diskriminierung treiben die Menschen in die Arme von Erdoğan, der es geschickt versteht, die Gefühle und nationalen und religiösen Empfindungen zu kanalisieren. Um seinen Einfluss zu brechen, muss genau hier angesetzt werden. Wenn sich niemand um das Potenzial kümmert, das in den Menschen mit türkischen Wurzeln steckt, können Hetzer und Spalter leichten Zugang finden und diese Menschen lenken, ja sogar radikalisieren. Viele dieser Menschen wählen bei Bundestagswahlen demokratische und linke Parteien, für die Türkei jedoch konservativ. Diesen Widerspruch zu erkennen und somit dort anzusetzen, muss die Aufgabe der deutschen Mehrheitsgesellschaft sein.