Ist Russland „unser“ Feind?

Wenn man die aktuellen Nachrichten hört oder liest, dann ist Russland „aggressiv“, „gefährlich“ und überhaupt der Hort des Bösen. Die NATO und EU hingegen „verteidigen“ sich und ihre Werte. Stimmt dieses Bild?

Hetze gegen Russland ist nicht neu!

Bei der Darstellung Russlands gibt es eine historische Kontinuität. Bereits im ersten Weltkrieg wurde der Hass auf „Russland“ geschürt.


Postkarte: Jeder Schuss ein Russ; CC0 1.0

Jeder Schuss ein Russ!“war ein beliebter Propagandaspruch im deutschen Kaiserreich. Auch innerhalb der damals noch revolutionären Sozialdemokratie gab es Kräfte, die in Russland den Inbegriff des Bösen sahen. Der Zarismus war tatsächlich durch seine Brutalität gegenüber der Arbeiterklasse und den fortschrittlichen, revolutionären Kräften bekannt. Dies nutzten die so genannten Vaterlandsverteidiger in der SPD, um sich auf die Seite des imperialistischen deutschen Kaiserreiches zu schlagen. Sie forderten die Arbeiterklasse auf, bei der „Befreiung“ Russlands mitzuhelfen und in den Krieg gegen die russischen Arbeiter zu ziehen.

Alleine Karl Liebknecht stimmte im Reichstag gegen die Kriegskredite und erklärte dazu:

Die deutsche Parole „Gegen den Zarismus“ diente – ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole „Gegen den Militarismus“ – dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren. Deutschland, der Mitschuldige des Zarismus, das Muster politischer Rückständigkeit bis zum heutigen Tage, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muß deren eigenes Werk sein.“ (siehe: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1914/12/reichstag.htm)

Im Gegensatz zu den Opportunisten in der SPD sah Liebknecht in den Arbeitern Russlands nicht „Feinde“, sondern Schwestern und Brüder! Er wusste, imperialistische Kriege dienen nicht der Befreiung sondern der Eroberung und der Macht!

In der Vorbereitung des 2.Weltkrieges knüpften die Nazis an die reaktionärsten Traditionen des Russenhasses an. Die „Bolschewisten“ wurden zu „Untermenschen“ erklärt, von denen die Welt befreit werden müsste. Also wieder: Jeder Schuss ein Russ!

Auch nach der Niederlage des deutschen Faschismus fand diese unrühmliche Tradition des Völkerhasses ihre Fortsetzung in der Propaganda Westdeutschlands. Man sprach zwar nicht mehr vom „russischen Untermenschen“, man verkleidete die Hetze gezwungenermaßen als Kampf für „Menschenrechte“. Und diese Tradition besteht bis heute fort.

Geht es um „Menschenrechte“?

Sicher werden in Russland wie in allen kapitalistischen Ländern Menschenrechte verletzt, vor allem die Menschenrechte der Arbeiterklasse. Rentner/innen können in Russland nicht von ihren Renten leben, während viele Rentner/innen in Deutschland Pfandflaschen sammeln oder anderes machen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Und merkwürdigerweise sind unsere „Menschenrechtsverteidiger“ in der Bundesregierung auf einem Auge blind. Während sie Menschenrechtsverletzungen in Russland anprangern und immer neue Sanktionen erlassen, sind sie bei ihren eigenen Partnern nicht so streng. Die Türkei ist heute eine Ein-Mann-Diktatur mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Dennoch steht die Türkei bei deutschen Waffenexporten an erster Stelle und ist ohne Probleme NATO-Mitglied! Eine tolle „Wertegemeinschaft“! Oder Saudi-Arabien: Trotz dem brutalen Mord an dem Oppositionellen Kashoggi erhält Saudi-Arabien deutsche Waffen und ist ein „Partner“. Während man Peking mit dem Boykott der Olympischen Spiele droht, wird die Fußballweltmeisterschaft in Quatar wohl problemlos über die Bühne gehen.

Es ist offensichtlich, dass das Argument „Menschenrechte“ für den Konkurrenzkampf genutzt wird, um die eigenen Völker gegen den „Feind“ zu verhetzen.

Konkurrenzkampf der Großmächte

Das heutige Russland hat mit dem sozialistischen Vaterland UdSSR nichts mehr zu tun. Nach der Zerstörung des Sozialismus ist Russland eine ganz gewöhnliche kapitalistische, imperialistische Macht geworden. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Während die sozialistische Sowjetunion über lange Zeit voranstürmte und die Kraft hatte, den deutschen Faschismus zu besiegen, befindet sich das kapitalistische, imperialistische Russland gegenwärtig in der Defensive. Die westlichen Imperialisten um NATO und EU, USA und Deutschland haben die Schwäche genutzt, um ihren Machtbereich zu Lasten des Konkurrenten massiv zu vergrößern.

Doch bei dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik hatten die Westmächte Russland zugesagt, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. In einer Rede Ende Januar 1990 an der Evangelischen Akademie Tutzing schlug der damalige westdeutsche Außenminister Genscher vor, dass die NATO eine Osterweiterung und ein Näherrücken an die russische Grenze ausschließen würde. Der US-Außenminister James Baker versprach daraufhin Gorbatschow am 9. Februar 1990, die Nato werde sich „keinen Inch weiter nach Osten“ erweitern. Das ist auch in offiziellen Dokumenten der USA so festgehalten worden, ohne dass es allerdings einen formellen Vertrag gab.

Trickreich berufen sich NATO, USA, EU und die Bundesrepublik heute darauf, dass es ja keinen Vertrag gegeben hat. Die NATO erklärte zuletzt erneut im Oktober 2021: „Persönliche Versicherungen von Nato-Führungspersonen können keinen Nato-Konsens ersetzen und stellen kein formales Nato-Übereinkommen dar.“ Das heißt: Unser gegebenes Wort gilt nicht. So weit zum „Vertrauen“ unter imperialistischen Konkurrenten.

Doch damals hofften auch viele linke, fortschrittliche Kräfte auf eine Ära des Friedens und der Zusammenarbeit. Die Realität hat gezeigt, dass es unter imperialistischen Verhältnissen keine dauerhafte „Zusammenarbeit“ zwischen den konkurrierenden Großmächten gibt, sondern bestenfalls zeitweilige Abkommen entsprechend der Kräfteverhältnisse.

Lenin erklärte: „‘Interimperialistische‘ oder ‚ultraimperialistische‘ Bündnisse sind daher in der kapitalistischen Wirklichkeit, und nicht in der banalen Spießerphantasie englischer Pfaffen oder des deutschen ‚Marxisten‘ Kautsky notwendigerweise nur ‚Atempausen‘ zwischen Kriegen – gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in der Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.(Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Lenin Werke, Band 20, S.301)

Wenn sich die Kräfteverhältnisse ändern, dann werden auch die Einflusszonen neu aufgeteilt. Nicht „friedliche Gesinnung“, sondern das Recht des Stärkeren zählt im Imperialismus!


Grafik: Die NATO-Osterweiterung nach 1990 und Beitrittskandidaten. Inkorporation der Krim ins Staatsgebiet der Russischen Föderation. By Jakob Reimann, JusticeNow! licensed under CC BY-ND 4.0.

Man sieht, es gab eine gewaltige Verschiebung der Einflusszonen als Ergebnis der Schwächung Russlands. Das hat zu vermehrten Spannungen, Aufrüstung und ersten, noch lokal begrenzten Kriegen zwischen den Konkurrenten geführt. Solche Kriege gab bzw. gibt es in Ex-Jugoslawien, auf der Krim und in der Ukraine, Syrien, Afghanistan.

Müssen wir Putin lieben?

Bei einigen linken, fortschrittlichen Kräften gibt es die Haltung, dass man Putin und die russische Politik verteidigen müsse. Oft sind das die Kräfte, die früher eine Ära des Friedens und der Zusammenarbeit bejubelt haben.

Doch wenn festzustellen ist, dass Russland gegenwärtig in der Defensive ist, so bedeutet das nicht, dass diese Großmacht untätig ist. In den Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien, auf der Krim und in der Ukraine, Syrien, Afghanistan hat Russland eine aktive, auch militärische Rolle gespielt. Es hat Waffen geliefert, Söldnertruppen eingesetzt und selbst militärisch eingegriffen, um seine Großmachtinteressen zu verteidigen. Dadurch konnte die Großmacht Russland ihre Positionen in Serbien halten, in Syrien und Afghanistan der NATO und den USA in Zusammenarbeit mit anderen Groß- und Mittelmächten bittere Niederlagen zufügen und in der Ukraine das Vorrücken der NATO vorläufig stoppen.

Diese Erfolge der Großmacht Russland im Kampf mit ihren Konkurrenten werden von diesen linken, fortschrittlichen Kräften zu einem „Beitrag zum Frieden“ oder gar zum „antiimperialistischen Kampf“ verklärt. Sicher! Die USA konnten die Besetzung Afghanistans nicht durchhalten und mussten geschlagen abziehen. Hat das dem afghanischen Volk „Freiheit“ gebracht? Offensichtlich nicht! Das afghanische Volk ist vielmehr zum Spielball des Konkurrenzkampfes der Großmächte geworden.

Wie schon Liebknecht sagte, muss die Befreiung der Völker ihr eigenes Werk sein! Gestützt auf den Konkurrenten tauscht man nur die Herren über sich.

Müssen wir Russland hassen?

Nur weil wir die Realität sehen, dass Russland ein kapitalistisches, imperialistisches Land ist, dass für seine Machtinteressen kämpft, müssen wir uns nicht auf die Seiten „unseres“ Imperialismus schlagen und diesen in seiner Hetze gegen Russland unterstützen.

Zum ersten zahlen die Arbeiterklasse und das Volk bereits jetzt für diesen Konkurrenzkampf bei der zunehmenden Aufrüstung und Militarisierung. Im Falle eines Krieges zahlen sie mit ihrem Blut. Denn die Töchter und Söhne der Reichen, die ganzen Kriegstreiber ziehen ja nicht selbst in den Krieg. Deswegen sind wir strikt gegen imperialistische Kriege und gegen Aufrüstung!

Zum zweiten gibt es gar keinen Grund Russland zu hassen. Die Menschen dort sind unsere Schwestern und Brüder, wie es sehr treffend auch schon Karl Liebknecht klar stellte. Diese Menschen haben mit dem Konkurrenzkampf der Großmächte nichts zu tun, genauso wie die meisten Menschen hier in unserem Land. Auf beiden Seiten wollen die einfachen Menschen Frieden, wollen Arbeit, wollen mit ihren Familien leben! Sterben für die Reichen? Das ist auf beiden Seiten nicht ihr Ziel!

Kämpfen wir gegen Aufrüstung und Kriegshetze im eigenen Land!

Hassen und vor allem bekämpfen müssen wir die Kriegstreiber. Und da wir in Deutschland leben und unser Schicksal von der Politik der Großmacht Deutschland abhängig ist, müssen wir vor allem die Kriegstreiber und -hetzer im eigenen Land bekämpfen und ihnen entgegenstehen! Man kehrt eben am besten erst einmal vor der eigenen Tür! Unsere Parole heißt nicht: Völker, schlachtet euch gegenseitig! Unsere Parole heißt:

Nieder mit den Kriegstreibern!

Entreißt ihnen die Macht, unser Land in eine Katastrophe zu führen!

dm