107 Kolleginnen und Kollegen in der Produktion sollen entlassen werden
Mitte September am Freitagnachmittag wurde den Kolleginnen und Kollegen vom Vorstandsvorsitzenden Richard Harris eröffnet, dass 107 Arbeitsplätze am Stammsitz des Unternehmens abgebaut werden sollen und der größte Teil Werkzeugkörperfertigung ins chinesische Wuxi verlagert werden soll. In Tübingen sollen künftig nur noch Sonderlösungen und komplexe Werkzeuge gefertigt werden. Da viele Fertigungsschritte bei diesen Produkten aber bereits über die verlängerte Werkbank gefertigt werden, stellt sich die Frage, wie lange das Versprechen hält, die verbleibenden Arbeitsplätze in der Fertigung zu erhalten.
Damit setzt sich der Arbeitsplatzabbau bei der Walter AG, einem Hersteller von zerspanenden Werkzeugen, weiter fort. 2019 wurden weltweit fünf Prozent der Arbeitsplätze (ca. 200 Personen) abgebaut, um in der sich ankündigenden Weltwirtschaftskrise die Planzahl Umsatz pro Beschäftigen erfüllen zu können. Im Januar 2020 wurde das Frankfurter Werk (AZ berichtete: https://www.arbeit-zukunft.de/2020/02/06/walter-ag-frankfurt-kolleg-innen-kaempfen-weiter-um-ihre-arbeitsplaetze/) komplett geschlossen und mehr als 200 Werktätige verloren ihre Jobs. Auch der Standort in Zell am Harmersbach war mit knapp 30 Leuten vom Arbeitsplatzabbau betroffen. Damit hat die Walter AG über die letzten beiden Jahre hinweg etwa zehn Prozent ihrer Belegschaft verloren, der überwiegende Teil der Entlassenen waren Arbeiterinnen und Arbeiter.
Internationales Wachstum als Vorwand
Dabei geht die Unternehmensleitung um Richard Harris keineswegs sinkenden Umsätzen aus! Im Gegenteil möchten Harris besonders in Nordamerika und in Asien wachsen und begründen den Arbeitsplatzabbau in Deutschland und Verlagerungen ins Ausland mit diesen Plänen, weil sie – so Harris – den „internationalen Fußabdruck“ minderen.
Doch gerade in Deutschland soll der Umsatz bis 2025 um jährlich sechs Prozent von knapp 150 Mill. EUR auf 200 Mill. EUR wachsen, weit stärker also als das prognostizierte Wachstum des heimischen produzierenden Gewerbes. Da stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit Harris‘ Handelns, da Deutschland noch immer einer der umsatzstärksten und umsatzstabilsten Märkte der AG ist und nunmehr Produkte verstärkt in den Heimatmarkt importiert werden müssen – von Verminderung des Fußabdruckes also keine Spur!
Langfristige Strategie
Der rote Faden, dem die Geschäftsführung um Harris folgt, lässt sich im Spiegel des Arbeitsabbaus gut erkennen: Die Marke Walter soll zunehmend Katlogartikel verkaufen, da diese Produkte stets die höchsten Profitraten garantieren. Der Umsatzanteil an Sonderlösungen, die besonders im deutschen Markt gefragt sind, sollen insgesamt weniger werden. Die Einführung der Software Walter-Innotime, mit dessen Hilfe auch für komplexere Werkstücke die passenden Werkzeuge aus dem Produktprogramm ausgewählt werden können, deutet in diese Richtung.
Und es geht mit dem geplanten Ausbau der Handelsbeziehungen konform. Die Handelspartner (intern als Channel Partner bezeichnet) sollen im Wesentlichen Katalogprodukte verkaufen und für Sonderlösungen qualifizierte Unterlieferanten suchen. Solche Handelsbeziehungen garantieren dank Umsatzvereinbarungen einen kalkulierbaren Unternehmenserfolg – und damit sind auch die fetten Prämien des Managements bereits zu Beginn des Geschäftsjahres in trockenen Tüchern. Diese Vermutung ist umso glaubhafter, als das Harris selbst die Zukunftsmärkte in Nordamerika und Asien verortet. Gerade im US-amerikanische Markt sind selbst Großkunden kaum anders als über Händler zu erreichen und in den Wachstumsmärkten in Asien ist die Zahl der Channel-Partner bereits heute größer als im Rest der Welt.
Damit würde die Walter AG dem Weg folgen, der ihr durch ihre Eigentümerin, der schwedischen Sandvik AB, bereits vorexerziert wurde. Unteren deren Dach finden sich mit Coromant, Seco und Dormer-Pramet noch drei weitere, weltweit agierende Werkzeugmarken, die den oben beschriebenen Weg bereits beschritten haben. Gerade am deutschen Markt hat die Marke Coromant bewiesen, dass die Sandvik AB im Zuge der Profitmaximierung durch Personalabbau auch bereit ist, ihre Marktführerschaft zu opfern.
Für die Herrschaften in Stockholm ist der Profit stets wichtiger als die Menschen, die diesen Profit erarbeiten – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind den einen Tag schmückendes Beiwerk in Unternehmensbroschüren, den anderen Tag stehen sie dem Streben nach Maximalprofit im Wege und müssen gehen. In den Augen des Executive Managements misst sich der Wert eines Mitarbeiters nicht an seinen persönlichen Leistungen, sondern dem Umsatz pro Mitarbeiter, der entscheidenden Kennzahl für Personalentscheidungen bei Sandvik und Walter.
Ende des Standorts Tübingen geplant?
Die Walter AG ist seit bald 100 Jahren in Tübingen ansässig und war stets mit Stadt und Region tief verwurzelt. Jahrelang war sie Hauptsponsor der Tigers Tübingen, einem aus dem SV 03 hervorgegangenen Basketballteams, das ohne die finanzielle Unterstützung ihres Sponsors mittlerweile in die zweite Bundesliga abgestiegen ist. Ein Menetekel für die Marke Walter!
War vor hundert Jahren das Werksgelände bei der Gründung noch in Randlage, ist die Stadt über um das Werk gewachsen. Das macht die Immobilie attraktiv für eine Umwidmung zum Wohngebiet. OB Boris Palmer (noch Bündnis 90 / Die Grünen) steht nicht eben im Ruf, eine besonders innige Liebe zur Industrie zu empfinden und würde eine solche Umwidmung angesichts der mehr als angespannten Wohnungssituation in der Stadt wohl begrüßen.
Schon am Tage, als Harris die Entlassungen ankündigte, gab Palmer der Hoffnung Ausdruck, dass ein Sozialplan die Folgen für die Werktätigen abfedern werde. Das ist die Haltung Palmers zu Industriearbeiterinnen und -arbeitern, in allem konform mit der Haltung von Bündnis 90 / Die Grünen, der Partei also, die künftig als Regierungspartnerin die Geschicke der Industrienation Deutschland lenken möchte!
Fällt erst der letzte Rest der Fertigung an der Konzernzentrale in Tübingen, hat vermutlich auch die Stunde für die restlichen Funktionen am Standort geschlagen. Die Mehrzahl der komplexen Sonderlösungen, von denen Harris sprach, sind schließlich Großwerkzeuge für schrumpfende Märkte wie die Kurbel- und Nockenwellenfertigung oder für Wellen von Großgeneratoren. Zudem der Marktanteil der Walter AG in diesen Bereichen ohnehin seit Jahren ruckläufig ist. Die dann verbleibenden Funktionen von Verwaltung oder Forschung und Entwicklung lassen sich von jedem Ort der Welt erfüllen.
Schließlich ist es offenes Geheimnis, dass Tübingen für ein internationales Unternehmen wenig verkehrsgünstig liegt. Harris jedenfalls führt die Geschäfte bereits aus seiner englischen Heimat und ist am Standort nicht erst seit Beginn der Pandemie seltener Gast. Das ist im Übrigen im Einklang mit den Ausschreibungen für nahezu alle führenden Positionen im Mutterkonzern Sandvik AB, die in der Regel mit flexiblem Erfüllungsort werben.
Es ist also denkbar, dass es auch für den Rest der Tübinger Belegschaft bald heißen wird, Abschied zu nehmen. Die eine oder der andere werden sich der Karawane wohl anschließen dürfen. Das ausgewählte Personal darf sich dann auf ausgeschriebene Stellen bewerben und steht dann vertraglich vor dem Neubeginn (Betriebszugehörigkeit und Probezeit eingeschlossen). Die Mehrheit aber darf gehen. Denn das hat Harris bereits in Frankfurt deutlich gemacht, und das wird heute in Tübingen deutlich gemacht:
Eure Arbeit und eure Leistung sind in den Augen Harris und seinesgleichen ohne jeden Wert. Nur Sachen haben für einen Harris einen Wert, denn die Maschinen werden verlagert und dürfen anderenorts weiter ihr Geld verdienen.