Kinderbereich in den Rotenburger Anstalten, um 1960. Hier wurden Kindern bis in die 70er Jahre nicht zugelassene Medikamente verabreicht, um deren Wirkung zu testen.
Es ist kein neues Problem: schon seit langem werden arme, rechtlose und machtlose Menschen für die Gesundheit der Herrschenden im wahrsten und im übertragenen Sinne „zur Ader gelassen“.
Wir greifen nur ein Beispiel von 1796 aus England auf – es ist sicherlich nicht das älteste. Es ging damals um die Entwicklung einer wirksamen Behandlungsmethode gegen die Pocken (oder „Blattern“) beim Menschen. Das ist eine heute erfreulicherweise (fast) ausgerottete, durch Ansteckung übertragbare Krankheit, die bei etwa 30% der Betroffenen tödlich verläuft. Wer sie überlebt, ist allerdings bis an sein Lebensende immun gegen eine Neuansteckung, weil sein Körper Abwehrstoffe gebildet hat – nur: sein Äußeres ist durch die Blattern entstellt.
In der Vergangenheit war die Krankheit sehr verbreitet. Wissenschaftler und Mediziner machten sich daher auf die Suche nach Schutz- und Heilmethoden. Es wurde auch eine Methode gefunden, doch den Weg zur Lösung finden wir abscheulich:
Pockenerkrankungen gibt es nicht nur beim Menschen. Zum Beispiel bei Rindern (lat. vacca = die Kuh, s.u.) gibt es einen Pocken-Typ, an dem Menschen zwar auch erkranken können, den ihr Körper aber besiegt. Ein Landarzt aus England (den Namen nennen wir nicht, er hätte damals eher auf einen Steckbrief gehört) vermutete nun, dass eine Infektion des Menschen mit Kuhpocken dazu führen könne, dass dessen Abwehrsystem die Antikörper gegen den für den Menschen gefährlichen Pocken-Virus bildet. Das halten wir für einen guten Gedanken, aber was machte der „Arzt“, um das zu überprüfen? Er schnappte sich den achtjährigen Sohn seines von ihm abhängigen Gärtners und verpasste dem eine Injektion mit aus Kuh-Blattern gewonnenen lebenden Kuhpocken-Viren. Das so medizinisch vergewaltigte Kind erkrankte, erholte sich aber wieder. Damit war es aber für den Jungen nicht zu Ende, sondern das Eigentliche kam jetzt erst: Der „Arzt“ (verpflichtet dem Eid des Hyppokrates!) injizierte seinem Opfer nun die echten Menschenpocken-Viren und nahm dabei die Blatter-Erkrankung und sogar den Tod des Jungen in Kauf. Er (und der Junge) hatte(n) Glück: Der Junge war immun gegen die Erreger geworden. Die Methode wird heute bei notwendigen Pocken-Impfungen angewendet und als “Vakzination” bezeichnet, abgeleitet vom lateinischen Wort für “Kuh”. Der „Arzt“ hat sich damit ein Verdienst in der Geschichte der Medizin erworben – aber eigentlich gehört dieses Verdienst dem Jungen, deshalb nennen wir nun auch seinen Namen: James Phipps.
Ein weiteres Beispiel aus der Vergangenheit: Ende des 19. Jahrhundert suchte der an der Christian-Albrecht-Universität Kiel arbeitende Albert Neisser nach einem Serum gegen die Geschlechtskrankheit Syphilis. Er infizierte dazu im Jahr 1892 Krankenhauspatienten (!) mit dem Syphilis-Erreger, indem er 8 jungen Frauen bzw. Mädchen Blutserum von an Syphilis erkrankten Menschen injizierte – vier von ihnen erkrankten.
Alles Vergangenheit?
„Long ago, far away – things like that don’t happen no more nowaday!“ – so der Refrain eines Spott-Protestliedes aus den USA. Auf Deutsch: Lange her, weit weg – Dinge wie diese passieren heute nicht mehr!
Ach nein, wirklich nicht?
Nicht nur in der Vergangenheit sind bei kriegerischen Auseinandersetzungen Kriegsgefangene und –opfer für “Forschungszwecke“ ermordet worden, nicht nur von den Nazis bei ihren grausamen und gandenlosen Menschenexperimenten in den KZs oder den japanischen Faschisten im 2. Weltkrieg, z.B. bei der Erprobung von ABC-Waffen. Ja, sogar die Atombomben in Hiroshima und Nagasaki wurden zu Forschungszwecken eingesetzt – Vergleich von A- und H-Bombe.
Von 1956 bis 1960 gab es im damaligen Belgisch-Kongo (heute Zaire) einen unter der Leitung des polnisch-US-amerikanischen Virologen Hilary Koprowski stehenden „Feldversuch“, bei dem an mehr als einer Million Menschen (ausschließlich schwarzen, versteht sich) ein neu entwickelter Impfstoff gegen Polio (Kinderlähmung) ausprobiert wurde – mehr oder weniger zwangsweise; die Welt-Gesundheitsorganisation verurteilte nach Bekanntwerden diese Versuche – Koprowski erhielt aber für seine medizinischen Arbeiten (nicht diese) zahlreiche internationale Ehrungen, allerdings keine aus Zaire…
Weiter: Im Januar diesen Jahres entscheidet US-Bundesrichter Theodore Chuang, dass sich der Pharmakonzern Bristol-Myers Squibb, die John Hopkins Universität und die Rockefeller Stiftung verantworten müssen für Menschenversuche in Guatemala, die erst 2010 aufgedeckt wurden. Dort waren in den 40er und 50er Jahren Menschen ohne ihre Zustimmung und ohne ihr Wissen mit Syphilis infiziert worden – vor allem psychisch Kranke, Prostituierte und verurteilte Straftäter, also nach Auffassung der christlichen Leidkultur eher zum Abschaum zählende Menschen.
Noch schlimmer: im Jahr 1932 startete das US-Gesundheitsministerium (!) das berüchtigte Tuskegee-Experiment. Es sollten die Auswirkungen der Syphilis auf den menschlichen Körper untersucht werden. Dazu wurden 600 Schwarze in Macon County (Alabama) ausgewählt, und 399 von ihnen dem Syphilis-Erreger ausgesetzt und 201 als Kontrollgruppe nicht – die Ärzte (!) beobachteten den Verlauf der Krankheit, ohne den Kranken medizinisch zu helfen – das Ganze über 40 Jahre, bis am 22.7.1972 der Mitarbeiter Peter Buxton als “Whistleblower” die Öffentlichkeit informierte. Das ganze Programm lief ab, ohne dass die 600 Versuchsobjekte davon wussten, also auch ohne ihr Einverständnis. Uns ist an Ergebnissen bekannt: Bis zum Jahr 1966 gab es 128 Todesfälle und auch Menschen aus dem Umfeld der Infizierten erkrankten; die Leichen wurden einer Autopsie unterzogen, um genau zu erfassen, welche Schäden die Syphilis im Körper verursacht hatte – je früher sie starben, desto eher konnte man sie untersuchen.
Ein weiterer Skandal wurde in New York aufgedeckt: Dort wurden im “Incarnation Home”, einer Einrichtung der katholischen Kirche, in Zusammenarbeit mit der Jugendbehörde und der Gesundheitsbehörde an vor allem schwarzen Kindern aus der Bronx und anderen Elendsvierteln Medikamente gegen AIDS auf ihre Wirksamkeit zur Vorbeugung bzw. Heilung ausprobiert. Wenn Eltern sich weigerten, wurden ihnen die Kinder gewaltsam weggenommen und auch gegen ihren Willen mit in der Erprobung befindlichen Medikamenten vollgestopft – auch mit Schlauchsonden. Zumindest die damals versuchten Medikamente gegen AIDS hatten aber zahlreiche schwere, gesundheitsschädigende Nebenwirkungen; bei Kindern ist aber bis etwa zum 10. Lebensjahr das natürliche Immunsystem noch nicht voll ausgebildet, so dass die Nebenwirkungen der Test-Medikamente erst recht auftreten – das wurde aber von den Ärzten dann als Folgen der AIDS-Erkrankung hingestellt und sollte die Notwendigkeit der Medikamenten-Einnahme noch unterstreichen. In dieser Einrichtung wurde übrigens auch mit Herpes- und Masern-Erregern gearbeitet. Incarnation bedeutet übrigens Fleischwerdung, z.B. beim christlichen Abendmahl… Diese in unseren Augen eher teuflische Versuchsreihe ist in diesem Heim auf Grund von Protesten inzwischen geschlossen, aber in sechs weiteren Kliniken in New York soll sie noch weiter gegangen sein. In der katholischen Kirche ist es doch gerade Mode, gegen “Missbrauch” vorzugehen, wäre es da nicht…
Menschliche Laborrratten
“Sie haben mit ihnen herumexperimentiert wie mit Laborrratten – und es gab immer genug.”
Bei den ersten beiden oben erwähnten Vorfällen wurden von den Ärzten nur wenige Menschen missbraucht; die weiteren Beispiele jedoch zeigen, dass sich das erheblich geändert hat. Hier müssen wir nun auch auf die Pharma-Industrie eingehen. Da wird als “Laborratte” eine möglichst große Anzahl von Versuchspersonen benötigt, um sichere Aussagen über die positiven Wirkungen oder eventuelle Nebenwirkungen neuer Medikamente machen zu können. Die Pharma-Giganten sind international, ihr Absatzgebiet ist der Weltmarkt. Und da gibt es Länder, in denen sehr hohe Anforderungen bei der Zulassung neuer Medikamente auf dem Papier stehen – und es gibt sogar Länder, die sie umsetzen!
Also: Woher möglichst viele menschliche Versuchsratten bekommen – und natürlich möglichst billig?
Das ist auch Deinem Sinne, liebe(r) Leser(in), denn Du möchtest doch billige Medikamente haben. Na, das ist doch einfach! Erfreulicherweise gibt es da ja die Bevölkerungs-Explosion und jede Menge „Ratten“ in den armen Ländern! Die sind froh, wenn wir von der Pharma-Industrie sie billig oder sogar kostenlos behandeln! Denn sie können sich sonst wegen der Armut keine medizinische Behandlung leisten und die dortigen Kliniken stehen leer bzw. die Ärzte haben nichts zu tun. (Äh, ja – bis auf die Privatkliniken natürlich…) Also freuen sich Regierung, Klinikangehörige und Patienten, wenn wir auftauchen! Schöne Grüße von Eurer Pharma-Industrie!
Leider ist das nicht so lustig, wie wir es hier dargestellt haben. Es gibt zahlreiche internationale Unternehmen, die so argumentieren und handeln – zumindest mit finanziellem Erfolg, und um den geht es ja; in Deutschland gibt es da z.B. zwei, deren Firmen-Name fängt mit B an…
Zur Arbeitsweise solcher Firmen ist leider noch einiges zu ergänzen – und wir wissen wahrscheinlich auch nicht alles. So werden die “Feldversuche” offenbar oft ohne Wissen und damit auch ohne Einverständnis der “Probanden” gemacht. Die glauben, man versuche ehrlich, ihnen zu helfen. Dabei werden in Wirklichkeit an ihnen in Entwicklung befindliche Medikamente nicht nur ausprobiert, sondern nicht selten bekommen sie auch nur Placebos, das sind Schein-Medikamente ohne Wirkung. Dann wollen die “Ärzte” in Wirklichkeit den Patienten gar nicht helfen, sondern den Verlauf der Krankheit (gegebenenfalls bis zum Tod) “wissenschaftlich” untersuchen. Die eine der beiden mit B beginnenden Firmen zahlte übrigens im Jahr 2011 eine Entschädigung in 5 Fällen, bei denen Menschen bei Versuchen gestorben waren – unseres Wissens in Indien. In diesem Land geht es übrigens um hunderte Millionen – nicht Menschen, sondern Euro…
In der Helsinki-Deklaration des Weltärzte Bundes von 1964 heißt es hierzu sinngemäß: “Jeder, der bei einem Versuch mitmacht – egal wie arm, egal wie ungebildet – muss darüber Bescheid wissen.”
So manchen grausamen Versuchen der “Wissenschaft” an und mit Menschen hat der Protest der Bürgerinnen und Bürger den Garaus gemacht – gibt es da bei der Pharma-Industrie nicht noch etwas zu tun? Und sollten wir den “Nestbeschmutzern”, den Whistleblowern nicht Mut machen? Denn: “Man sieht nur die im Lichte, die im Dunklen sieht man nicht!” (Bert Brecht)