Eine Lokalzeitung des Kreises Recklinghausen wies ihre Leser zweimal darauf hin, dass es am 13. September in Essen eine Demonstration unter dem Motto „Aufstehen gegen rechte Hetze“ geben werde. Organisatoren waren zahlreiche im Bündnis „Essen stellt sich quer“ zusammengeschlossene Organisationen und Einzelpersonen. „Gemeinsam stehen wir für Weltoffenheit, Demokratie, Humanismus und Toleranz. Wir überlassen die Straße nicht den Rechten.“ Für eine Teilnahme an der Demonstration sprach sich z.B. der Bezirksverband Niederrhein der Arbeiterwohlfahrt aus „gegen Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus“ – so die AWO-Bezirksvorsitzende Britta Altenkamp (SPD); auch die Pfadfinder des Bistums Essen unterstützten den Aufruf.
„Wir stellen uns quer“ kenne ich aus anderen Städten und bin nicht immer begeistert gewesen – oft reichte es über Symbolismus nicht hinaus, über Schweigekreise, andächtig hochgehaltene Kerzen mit dem Gesichtsausdruck „Wir sind die Besseren“. Ich bitte die Leser-innen, diese frechen Bemerkungen als freundschaftlichen Knuff zu verstehen…
Trotz dieser negativen Erfahrungen beschloss ich, nach Essen zu fahren. Ich fertigte mir ein kleines Schild an mit dem Text „Die Front verläuft nicht zwischen LINKS und RECHTS, sondern zwischen OBEN und UNTEN!“
In Recklinghausen hatte ich am Pfingstsonntag eine Demonstration der AfD erlebt, zu der sie 500 Teilnehmer erwartete; der Schuss ging los, und zwar nach hinten: Es kamen gerade einmal 70 Personen! Die Organisatoren jetzt in Essen erwarteten 2.000 Teilnehmer, und auch deren Schuss ging los, aber nach vorne: Es kamen weit über 5000 Teilnehmer! Und auch inhaltlich wurde nicht geschwiegen und Händchen gehalten, sondern „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut!“ Es war eine sehr bunte Kundgebung und Demonstration mit zahlreichen Organisationen. Ein paar Fahnen der Grünen waren zu sehen und ein paar der SPD – bei früheren ähnlichen Anlässen sah man sie eher selten oder gar nicht. Ich hoffe, dass die Träger dieser Fahnen nicht nur aus Taktik, sondern auch aus Überzeugung gekommen sind. CDU und FDP waren noch nicht einmal aus Taktik gekommen…
Wegen der Länge des Demonstrationszuges bekam ich von den Redebeiträgen nicht viel mit. Ich greife nur zwei kurz auf: Die Politik gegen die über die Mittelmeerroute fliehenden Menschen wurde massiv kritisiert. Der Vorschlag, in Libyen oder anderen nordafrikanischen Ländern „Auffanglager“ für afrikanische Flüchtlinge einzurichten, wurde unter Beifall zurückgewiesen u.a. mit dem Hinweis darauf, dass es diese Lager in Libyen ja schon gibt: Dort leben die eingesperrten Menschen unter elendsten Bedingungen, sie werden geprügelt, müssen Zwangsarbeit verrichten, werden als Sklaven verkauft, werden vergewaltigt oder ermordet. Wenn sie überleben wollen, müssen sie fliehen, und es gibt nur den Weg über das Mittelmeer. Dort macht die EU Jagd auf sie, bezeichnet alle Schleuser als Verbrecher und versucht, die gescheiterten Flüchtlinge wieder zurück in die Todes-KZs zu bringen. Den privaten Hilfsorganisationen wird vorgeworfen, durch ihre Zusammenarbeit mit Schleusern verursache sie die „Flüchtlingsflut“ und sei deswegen mit schuldig am Tod durch Ertrinken. Nein! Die Fluchtursachen sind nicht die Hilfsorganisationen oder Schleuser, die Fluchtursachen sind die von der EU geduldeten oder gar geförderten elenden Lebensbedingungen in den libyschen Konzentrationslagern und in Afrika insgesamt!
Ein anderer Redebeitrag wies die „Kollektivschuld“ der Flüchtlinge bzw. Asylanten zurück. Unter ihnen sind natürlich auch Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen bzw. Ursachen Verbrechen begehen, aber ein Mörder muss verfolgt und bestraft werden, weil er gemordet hat, aber nicht, weil er diesem Volk oder jener Religion angehört. Ich meine dazu: Mit den italienischen Gastarbeitern kam die Mafia nach Deutschland, aber die italienischen Gastarbeiter waren/sind nicht die Mafia! Mit den türkischen Gastarbeitern kamen auch einige Drogenhändler nach Deutschland, aber die türkischen Gastarbeiter… – na, Ihr könnt den Satz selbst ergänzen und das Ganze auch um andere Beispiele bereichern. „Proletarier aller Länder – vereinigt Euch!“ oder „Deutsche und ausländische Arbeiter – eine Klasse, eine Kampffront!“ . Das halte ich für richtig, das schließt alle (!) Arbeiter-innen in allen Ländern und aller Religionen ein – aber nicht die Mafia, Drogendealer, Menschenhändler usw.!
Die Gefährlichkeit der Religion als “Opium für’s Volk” den Menschen klar zu machen, das ist unsere Aufgabe als Kommunisten – und sie muss solidarisch gelöst werden! Der Text auf meinem kleinen Plakat fand Zustimmung bei denen, die sich die Zeit zum Lesen nahmen. Ich fand auch einige andere Plakate, die ich in meinem Sinne verstand. Es ging jeweils darum, den Inhalt der Gehirne der heute noch rechts irritierten Menschen zu verändern. Die Kritik war meist humorvoll und nicht feindlich: ein durchgestrichenes Hakenkreuz wurde mit der Gebrauchsanweisung versehen „100mal auf LINKS bügeln!“ oder einem gewissen Kevin wurde freundschaftlich empfohlen; „Nein, nicht mit dem braunen Stift!“
Und auch die Parole „Nationalismus raus aus den Köpfen!“ geht ja in diese Richtung.
Die Bourgeoisie, also die herrschende Klasse, versucht seit einiger Zeit, die von ihr ausgebeuteten Menschen auf eine Scheinfront abzulenken: Weg vom Klassenkampf der Arbeiter-innen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten, hin zum „gemeinsamen“ Kampf von Ausbeutern und Ausgebeuteten gegen den „Rechtspopulismus“. Die Ausgebeuteten dieser Seite sollen zum Kampf gegen die Ausgebeuteten auf der anderen Seite gebracht werden und dabei den Kampf gegen die sie Beherrschenden einstellen. Das erinnert mich ein bisschen an das Märchen vom Hasen und vom Igel: „Ich bin schon da!“ Nur, in diesem Fall ist mir der Igel „und sin Fru“ viel sympathischer als der Kapitalist und seine augenblickliche Lebensabschnitt-Begleiterin…
So, Schluss jetzt! Noch eine Forderung nicht nur der Essener Demonstranten:
Mehr Bürgerrechte als rechte Bürger!
Nachbemerkung: Die eingangs erwähnte Lokalzeitung, die dankenswerterweise zweimal auf die Demonstration hinwies, hat danach über ihren Verlauf kein Wort verloren. Ein Schuft, wer Schlechtes dabei denkt…
R. St.