Der Zeitung hatte ich entnommen, dass in meiner Nachbarstadt Marl ein Ortsverband der AfD gegründet werden sollte und dass Demokraten dagegen mit einer Kundgebung auf dem Creiler Platz protestieren wollten. Da ich lange in Marl gelebt habe, war für mich klar: Die unterstütze ich. Also suchte ich mir ein T-Shirt mit politisch eindeutiger Aussage heraus und machte mich auf den Weg. In Marl waren dann etwa 70 Teilnehmer gekommen, die eine gute Kundgebung durchführten, die aber für mich erstaunlicher und erfreulicherweise fast zur Nebensache wurde…
In etwa 50 Metern Entfernung hatten sich nämlich 7 oder 8 Jugendliche versammelt – männlich und weiblich, in schwarzer Kleidung, mit dem Adler auf dem Hemd usw. – die die Redebeiträge zu stören versuchten mit Rufen wie „Die Nazis sind wieder da!“ Ich war begreiflicherweise erschüttert, dass die so offen auftraten und dass die anwesende Polizei wegen dieser Parole nicht einschritt. Dann aber kriegte ich mit, dass die Parole noch weiter ging „…sie nennen sich heute Antifa!“
Das darf doch nicht wahr sein! Da werden Menschen, die seit Jahrzehnten gegen den Faschismus gekämpft haben, gegen den NATO-Doppelbeschluss, gegen Ausländerfeindlichkeit und Kriegsgefahr, von so ein paar jungen Schnöseln als Nazis bezeichnet?
Man kann sich vorstellen, dass ich mit meinen Gedanken nicht mehr so richtig bei den Rede- und Kulturbeiträgen war… Also ging ich in meinem politisch eindeutigen T-Shirt zu den Jugendlichen, um mit ihnen zu sprechen. Und was ich eigentlich erwartet hatte, trat auch ein: sie bespuckten mich nicht, beschimpften mit nicht, schlugen mich nicht zusammen, sondern es entwickelte sich ein meiner Meinung nach sehr gutes Gespräch, in dem jede Seite die andere als Gesprächspartner ernst nahm. Das beschäftigt mich seit einigen Tagen sehr und hat dazu geführt, dass ich in Zukunft vom Vorgehen her etwas besser vorbereitet bin. Ich möchte aus dem in freundschaftlicher Atmosphäre verlaufenen Gespräch nur einiges wiedergeben. Die Jugendlichen waren für die AfD, aber eins ihrer Mädchen trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Gegen Nazis!“ Ich sagte ihnen offen, dass ich Kommunist bin und mir deswegen mein Recht in diesem Staat erst erkämpfen musste. Sie sind – wie ich – gegen die derzeitigen und früheren Regierungsparteien, sie sehen die Spaltung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, sie nennen sie auch beim Namen: Kapitalisten und Arbeiter; sie hassen die Macht der Banken usw.; das alles trifft auf mich auch zu, allerdings behaupteten das damals die Nazis auch, handelten aber anders. Mit dieser Masche versuchen also auch heute rechte Demagogen, Menschen zu ködern, bei diesen Jugendlichen wieder einmal erfolgreich. Aber es sind Jugendliche, sie sind in der Entwicklung, sie sind auf der Suche, sie haben das Recht darauf, Fehler zu machen. Aber sie sollten auch Fehler erkennen, bereit sein, sie zuzugeben und sie zu berichtigen. Bei diesen Jugendlichen geht es zur Zeit noch im Kopf wirr durcheinander, sie müssen noch mit einigem Gestrüpp und Schlingpflanzen im Gehirn kämpfen. So erfuhr ich von meinem Hauptgesprächspartner zum Beispiel, dass Lenin und Stalin auf Befehl der Freimaurer-Loge, deren Mitglied sie waren, das Zarenreich zerschlagen und die Sowjet-Diktatur errichtet haben… So einen Quatsch wird ihnen nicht einmal von unserem wirklich nicht guten Schulsystem beigebracht. Dieses tolle Schulsystem versetzt sie allerdings auch nicht in die Lage, obskures Informationsmaterial zu erkennen und zu widerlegen. Positiv überrascht war ich dann wieder, als sie meiner Bemerkung zustimmten, die führenden Kräfte der sogenannten Widerstandsbewegung vom 20. Juli 1944 hätten den Putschversuch gegen Hitler erst unternommen, als ihnen nach der Niederlage bei Stalingrad die Felle davon zu schwimmen drohten.
Ich könnte noch mehr erwähnen, aber das ist wohl nicht nötig. Mir ist in dem Gespräch klar geworden: Diese (nicht nur diese!) Jugendlichen suchen und das ist gut – sie strampeln aber im Sumpf, und das ist nicht gut! Ich habe ihnen ganz unverblümt und taktisch unklug auf den Kopf zu gesagt, wenn ich mehr Zeit mit ihnen hätte, würde ich das Gerümpel aus ihrem Kopf entfernen. Sie wollten mir das nicht abnehmen, aber sie haben erkannt, dass es mir Ernst mit ihnen ist und dass ich überzeugt bin, dass sie auf der Suche nach dem Richtigen sind und nicht bezahlte Agenten von…
Leider kam keine(r) von ihnen aus Marl oder Umgebung, so dass sie mir wohl entkommen sind, doch für die Zukunft bin ich besser gerüstet. Ich habe mir auch (leider erst später) überlegt, dass es eigentlich richtig gewesen wäre, die Jugendlichen zu den übrigen Kundgebungsteilnehmern (ja, die gab es auch noch !) einzuladen, um miteinander so zu sprechen, wie sie und ich es getan hatten – nicht gerade mit allen siebzig, aber doch mit einigen. Da hätten sie dann sicherlich ihren „Nazi“-Vorwurf erklären müssen… Was mich abschließend noch wundert, ist, dass bei diesen Jugendlichen kein älterer „Guru“ war, der sie vor mir beschützte. Ich habe mich übrigens von den meisten von ihnen mit Handschlag verabschiedet.
(R. St.)