Vollständige Aufklärung der NSU-Morde!

Am 11 Juli wurden im Prozess vor dem OLG München gegen Beate Zschäpe und vier weitere Täter aus der rechtsterroristischen Szene die Urteile verkündet. Während Zschäpe eine lebenslange Haftstrafe wegen 10-fachen Mordes erhielt, kamen die vier anderen Angeklagten aus der rechtsterroristischen Szene sehr glimpflich davon. Einer von ihnen, André Eminger, wurde wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ nur zu 30 Monaten Haft verurteilt, die er mit der Untersuchungshaft schon abgesessen hatte, und kam noch am Tag der Urteilsverkündung frei. Der Staatsanwalt hatte immerhin eine Haftstrafe von 12 Jahren beantragt. Das nennt man richterliche Milde!

Aktualisiert mit einer Rede der Chile-Freundschaftsgesellschaft Salvador Allende e.V. beim Tag X im Anhang

Von Anfang an stand der Prozess, der schon am 6. Mai 2013 vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München begonnen hatte (sich also über 5 Jahre hingezogen hat), unter heftiger Kritik. Es bestehen erhebliche Zweifel an der von der Anklage behaupteten Alleintäterschaft des so genannten „Terror-Trios“ Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe an den NSU-Morden und Brandanschlägen, der angebliche Selbstmord der beiden erstgenannten ist umstritten (siehe auch der Kriminalroman von Wolfgang Schorlau „Die schützende Hand“) und schließlich ist auch die Rolle, welche der Verfassungsschutz und dessen V-Leute gespielt haben, äußerst dubios, um es gelinde zu sagen. Dass V-Leute des Verfassungsschutzes im Umfeld der Täter agierten, steht fest. Bekannt ist auch, dass vom Verfassungsschutz Akten, die über den Einsatz von V-Leuten Aufschluss hätten geben können, in großem Umfang (angeblich versehentlich!!!) vernichtet wurden. Hier nur zwei Beispiele:

1. V-Leute des Verfassungsschutzes

Insbesondere das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz und sein ehemaliger Präsident Helmut Roewer gerieten wegen ihres Umgangs mit V-Leuten in öffentliche Kritik. Sieben Sicherheitsbehörden führten über 40 V-Personen, die z.T. erhebliche Straftaten begangen haben, im Umfeld des NSU. Unter den Thüringer V-Leuten galt Tino Brandt als Topquelle, der den „Thüringer Heimatschutz“ mitgründete und seit 1995 zu einer der größten rechtsextremen Organisationen Deutschlands ausbaute. Im Lauf seiner V-Mann-Tätigkeit flossen zwischen 1994 und 2001 staatliche Mittel in Höhe von 200.000 DM an ihn, die er weitgehend für seine „politische Arbeit“ verwendete. Brandt war ein enger Vertrauter des Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, hielt auch nach dessen Untertauchen sporadischen Kontakt und wird von dem Mitangeklagten Ralf Wohlleben beschuldigt, das Geld für einen Waffenkauf des NSU zur Verfügung gestellt zu haben.

Screenshot

Für besonderes Aufsehen sorgte die „Operation Rennsteig“. Die erst im Laufe der Arbeit des ersten Bundestags-Untersuchungsausschusses öffentlich bekannt gewordene Geheimaktion war eine Zusammenarbeit des Thüringer Verfassungsschutzes und des BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz) mit dem MAD (Militärischer Abschirmdienst). Die von Herbst 1996 bis 2002 oder 2003 laufende Operation sollte die rechtsextreme Szene Thüringens unter die Kontrolle staatlicher Behörden bringen und sie damit steuern, strukturieren und beherrschbar halten. Insbesondere ging es um die Anwerbung möglicher V-Personen im Umkreis des „Thüringer Heimatschutz“es, um diesen behördlich überwachen zu können, weshalb – vom Lebensalter zu den Aktivisten der rechtsextremen Szene passend – insbesondere Wehrdienstleistende angesprochen wurden. Insgesamt sollen 40 der 140Personen im „Thüringer Heimatschutz“ V-Leute gewesen sein.

Und das sind, wie gesagt, nur Fakten, die in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Dafür, dass möglichst wenig über die Verbindung von Sicherheitsbehörden und dem Verfassungsschutz mit dem NSU bekannt werden würde, sorgte eine umfangreiche …

2. Aktenvernichtung

Insbesondere nach Aufdeckung des NSU kam es zu umfangreichen Vernichtungen von Akten mit NSU-Bezug. In einer Sitzung des Untersuchungsausschusses im Bundestag im Juni 2012 wurde bekannt, dass am 11. November 2011 im Kölner Hauptsitz des BfV die zuvor vom Generalbundesanwalt angeforderten Akten zur „Operation Rennsteig“ vernichtet wurden. Anschließend wurde die Aktenvernichtung vom Referatsleiter offenbar auf den Januar 2011 zurückdatiert, also auf die Zeit vor der Enttarnung des Mordtrios. Familien der Opfer erstatteten deswegen im Juli 2012 Strafanzeigen gegen das BfV und den thüringischen Verfassungsschutz mit dem Vorwurf der Strafvereitelung im Amt. Im September 2016 wurde bekannt, dass dem für die Aktenvernichtung verantwortlichen Referatsleiter (Tarnname „Lothar Lingen“) laut eigener Aussage „bereits am 10./11. November 2011 völlig klar“ gewesen sei, „dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren wird. Die bloße Bezifferung der seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen hätte zu der … Frage geführt, aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der drei eigentlich nicht informiert worden sind. Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn … die Anzahl unserer Quellen … in Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht.“

Mehrere Nebenkläger stellten daraufhin erneut Strafanzeige wegen Strafvereitelung und Urkundenunterdrückung, die vorerst wiederum nicht zur Aufnahme von Ermittlungen führte. Die Staatsanwaltschaft Köln leitete jedoch am 11. November 2016 Ermittlungen gegen den Referatsleiter ein, da er eine – wenige Tage nach der ersten Aktenvernichtung aufgetauchte – Akte mit NSU-Bezug wiederum hatte vernichten lassen, obwohl der BfV-Präsident des BfV bereits eine Überprüfung angeordnet hatte. *)

Das sind natürlich nur Einzelbeispiele von den vielen, die aber ein Schlaglicht auf die Verwicklung staatlicher Behörden in die Vorgänge um die NSU-Morde und die Ermittlungen gegen die Täter und ihre Hintermänner aus der rechtsterroristischen Szene werfen. In Folge der Enthüllungen über die Aktivitäten des Verfassungsschutzes, insbesondere die umfangreiche Vernichtung von Akten, mussten fünf Vorsitzende deutscher Verfassungsschutz-Behörden zurücktreten: Heinz Fromm (Präsident des BfV), Thomas Sippel (Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz) , Reinhard Boos (Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen), Volker Limburg (Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt) und Claudia Schmid (Berliner Landesbehörde für Verfassungsschutz).

Das OLG München und der Vorsitzende Richter Götzl blendeten aber bei ihrer „Wahrheitsfindung“ alle die ganz offensichtlichen Verstrickungen staatlicher Organe in die kriminellen Machenschaften des NSU und der rechtsextremistischen Terrorszene aus. In der mündlichen Urteilsbegründung wurden diese Vorfälle laut Prozessbeobachtern nicht einmal erwähnt.

Schon bei der Anhörung der Opferanwälte und der Angehörigen der Opfer Ende 2017/ Anfang 2018 formulierte die Witwe des Dortmunder Kioskbetreibers Mehmet Kubaşık, in diesem Prozess seien „meine Fragen nicht beantwortet worden“, unter anderem nach möglichen Helfern, der Opferauswahl und der Kenntnisse der Behörden.

Das Gericht wollte mit den Verurteilungen einen Schlussstrich unter die Ermittlungen über die Umstände der 10 NSU-Morde und 2 Brandanschläge ziehen. Aber das wird nicht gelingen.

Während im Gerichtssaal in München die Urteile gesprochen wurden, warteten Hunderte Menschen vor dem Gerichtsgebäude und forderten, dass der Tag des Urteils nicht das Ende der Ermittlungen sein dürfe.

In München und in mehreren deutschen Städten gab es am Abend noch Demonstrationen, in denen die vollständige Aufklärung der NSU-Morde gefordert wurde.

Wir fordern mit den Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors und deren AnwältInnen:

Vollständige Aufklärung der NSU-Verbrechen einschließlich der Verwicklungen von BKA und Verfassungsschutz!

Darüber hinaus fordern wir:

Auflösung des Verfassungsschutzes!

Verbot aller faschistischen Parteien und Gruppierungen!

*) Anmerkung: die Fallbeispiele sind (mit geringfügigen Änderungen) dem Beitrag „Nationalsozialistischer Untergrund“ von Wikipedia entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistischer_Untergrund

S.N.

 

Anhang:

Rede Chile Freundschaftsgesellschaft „Salvador Allende“ e.V. anlässlich der bevorstehenden Urteilsverkündung gegen den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) in München (Stichtag Veröffentlichung: Tag X der Urteilsverkündung – Georg Daniels, gd) –

In Gedenken an

Enver Şimşek,

Abdurrahim Özüdoğru,

Süleyman Taşköprü,

Habil Kılıç,

Mehmet Turgut,

İsmail Yaşar,

Theodoros Boulgarides,

Mehmet Kubaşık,

Halit Yozgat,

Michèle Kiesewetter

Hallo,

ich spreche hier für die Chile Freundschaftsgesellschaft „Salvador Allende“ aus Berlin. – Die Chile Freundschaftsgesellschaft ist eine in den achtziger Jahren gegründete Organisation von Exilchilenen und –-chileninnen, die als Unterstützer und Unterstützerinnen der 1973 verbotenen Unidad Popular vor der

faschistischen Pinochet-Diktatur aus Chile in alle Welt fliehen mussten. Tausende der damals aktiven Kämpfer und Kämpferinnen der kommunistischen Partei, der sozialistischen Partei, Genossen und Genossinnen der MIR wurden vom Pinochet-Militär und dem Geheimdienst DINA ermordet, gefoltert oder sind bis heute vermisst.- Eine ernst zunehmende gesamtgesellschaftliche Entschuldigung gegenüber den Opfern der Diktatur wurde bis heute nicht ausgesprochen, ein ernsthafter gesellschaftlicher Dialog mit ihnen und ihren Angehörigen über die Ereignisse in Chile zwischen 1973 -1988 hat nie stattgefunden. – Wir können deshalb sehr gut verstehen, wie Sie sich – als Betroffene und Familienangehörige dieses Verfahrens, die geliebte Menschen verloren haben, als den Bombenanschlägen der Nazis gerade nochmals Entkommene und über weite Strecken des Verfahrens als Kriminelle Verdächtigte, sich fühlen müssen. Wir unterstützen Ihre nicht erfüllten Forderungen nach bedingungsloser Aufklärung, Bestrafung aller Täter und drücken Ihnen unsere uneingeschränkte Solidarität aus!

Deutschland hat ein Problem und dieses Problem besteht in einer fortgesetzten Kontinuität strukturell rassistischer Denkmuster in einem nicht unerheblichen Teil seiner Bevölkerung und in einem traditionellen Glauben in die Richtigkeit des Handelns von Staat und Behörden. Das Zusammenwirken beider Faktoren kostete neun Bürgern dieses Staates mit ausländischen Wurzel und einer Polizistin in der hier zur Rede stehenden rassistischen Mordserie zwischen 2000 und 2007 ihr Leben.- Sie steht in einer Linie mit den Pogromen von Hoyerswerda, Rostock- Lichtenhagen, den Morden von Solingen und Mölln und den geschätzt circa 200 rechtsextremistischen Morden, ungezählten Verletzten und rechten Überfällen, die in diesem Land alleine seit der sogenannten Wiedervereinigung 1990 zu beklagen sind.-

Wie ein roter Faden zieht sich die Frage durch diesen Prozess, ob der Staat und seine Sicherheitsbehörden mehr wussten, um die terroristische Mordserie zu verhindern.- Daran hegen wir keinen Zweifel.

Kein Zweifel hegen wir auch daran, dass der derjenige Personenkreis, der heute hier von diesem Gericht verurteilt worden ist, hätte wesentlich erweitert werden müssen.

Denn die verschiedenen Verfassungsschutzämter und Sicherheitsbehörden hatte mit dem Untertauchen des Kerntrios Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Jahren seit 1998 im Zuge der sogenannten Operation „Rennsteig“ – zum Teil unabhängig voneinander – ernst zunehmende Hinweise nicht nur darüber erlangt, wo sich das Kerntrio des sogenannten „NSU“ jeweils aufhielt, sondern hätten aufgrund der bei der Durchsuchung der von Zschäpe angemieteten Garage in Jena gefundenen Adressliste, Propagandamaterialien und Sprengstoff auch naheliegende Erkenntnisse über das terroristische Gefahrenpotential der Kerntruppe und seines militanten Chemnitzer, thüringischen und sächsischen und bundesdeutschen Unterstützer-Umfelds erlangen und daraus Schlüsse für verstärkte Ermittlungen in die militante Naziszene ziehen müssen.-

Ohne deren Unterstützung für die Untergetauchten mit Wohnungen, Pässen, Beschaffung von Waffen und Geld – und somit an der Logistik zur Begehung der Morde an 10 Menschen – ist – zumindest in den entscheidenden Anfangsjahren – das „Konstrukt NSU“ auf der Grundlage der vorliegenden Indizien nicht denkbar.

Trotzdem soll es – auch gemäß der allgemein übereinstimmenden Feststellungen der eingesetzten Untersuchungsausschüsse auf Landes- und Bundesebene – bereits in diesem frühen Stadium des Terrors wegen dem angeblichen Mangel an erfolgversprechenden Ermittlungsansätzen, angeblich fehlerhafter und mangelnder Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden, der Nicht- bzw. nur selektiven Weitergabe von Verfassungsschutzerkenntnissen an die Organe der Exekutive – Bundeskriminalamt (BKA), Landeskriminalämter (LKAen) und Polizeidirektionen, etc. – nicht gelungen sein, Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos im Verlauf der nächsten Jahre nach ihrem Untertauchen festzunehmen und den braunen Unterstützersumpf auszutrocknen.-

Einigermaßen schwer vorstellbar, zumal das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV ) nach einem im hiesigen Prozess eingeführten, dem widersprechenden Aktenvermerk im Sept. 1999 über die wohl aussichtsreichste Möglichkeit eines Zugriffs auf das Kerntrio verfügte. – Das BfV reagierte auf diese Mitteilung nicht beziehungsweise erst anderthalb Jahre später.

Vor allem Verstrickung und Aufklärungsverhalten des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz (TLfV) bleibt im gesamten NSU-Komplex im besten Falle als dubios im schlechtesten Falle als kriminell zu bezeichnen, was exemplarisch die Geldübergabe in Höhe von 2.000,- DM an seine Spitzenquelle Brandt zeigt, die diesen Betrag im September 98 auf Initiative des Thüringer Landesamtes an das Kerntrio zum Zwecke der Beschaffung gefälschter Pässe weiterleiten sollte, nachdem dessen Fluchtpläne ins Ausland erst kurz vorher durch die Quelle selbst

dem TLfV bekannt gemacht wurden.

Das Wirken aller in den NSU-Komplex involvierten Verfassungsschutz- und Sicherheitsbehörden, Polizeien mit diversen Sonderkommissionen, Amts-, Staatsanwaltschaften und Gerichte ist nicht nur in Hinsicht auf die bewusste

Hintertreibung des terroristischen Gefahrenpotentials und des nicht erfolgten Verbots es tragender Organisationen wie etwa des Thüringer Heimatschutzes gemäß §129 bzw. §129a, Strafgesetzbuch, aus dem sich ein Großteil der hier vor Gericht gestandenen Truppe und seines Unterstützermilieus rekrutierte, anzuklagen, sondern vor allem auch in Hinsicht auf das erklärte Primat des Quellenschutzes vor Aufklärung der Mordserie an neun migrantischen Menschen und einer Polizistin. –

Nicht die Deckung und Straflosigkeit einer terroristischen Nazi-Szene und der in ihr agierenden V-Leute gehört jedoch zu den Kernaufgaben der Verfassungsschutz-und Sicherheitsbehörden, sondern die Wahrung der verfassungsmäßigen Grundrechte und die Abwehr von Beschädigungen dieser Grundrechte mit garantierten Rechten für ihre Bürger auf Leben und körperliche Unversehrtheit.-

Selbst innerhalb der eigenen Reihen der Sicherheitsbehörden, wurden geflissentlich die äußerst raren Bedenkenträger kaltgestellt, die entgegen der schon im Namen der ermittelnden „Soko Bosporus“ zum Ausdruck kommenden Hauptstoßrichtung der Ermittlungen in Erwägung zogen, dass das Profil der sogenannten „Ceska-Serie“ Merkmale von rassistisch-fremdenfeindlichen Taten tragen würde – verwiesen sei hier auf die einkassierte sogenannte 2. „Operative Fallanalyse“ (OFA) des Bayerischen LKA – gemäß dem Motto:…weil nicht sein

kann, was nicht sein darf!

Damit erhält der offensichtliche Aufklärungs-, Verfolgungs- und Anklageunwille aller beteiligten Behörden und Staatsgewalten in der Mordserie eine folgerichtige Erklärung, warum trotz vorliegender, in sich schlüssiger Indizien über Jahre ausschließlich Ermittlungsansätze in Richtung Organisierte Kriminalität auch zur Stützung der eigenen teils rassistisch gefärbten Ermittlungshypothesen verfolgt wurden, die sich fast ausschließlich auf die Familienangehörigen und Betroffenen fokussierten.

Die Ermordeten, ihre Familien und Angehörigen wurden damit ein zweites Mal Opfer, mehr noch zu Tatverdächtigen durch die mit der Mordserie befassten Behörden gestempelt!

Dabei hatten die betroffenen Familien selbst in zwei selbstorganisierten öffentlichen Aktionen in Dortmund und Kassel im Mai/Juni 2006 auf den offensichtlichen, rechtsextrem motivierten Zusammenhang hingewiesen, der in

ihren Augen ursächlich für die Morde an ihren mittlerweile neun getöteten Angehörigen war.

Die Selbstenttarnung der Kerntruppe des sogenannten NSU ließ in der Konsequenz das ganze Ausmaß der Verbandelung der Verfassungsschutz-und Sicherheitsbehörden mit dem organisierten und unorganisierten braunen Sumpf – mit alleine mehr als 40 staatlich alimentierten V-Leuten und Vertrauenspersonen im Thüringer Heimatschutz – offensichtlich werden.

Allein 35 Ermittlungsverfahren gegen die Spitzenquelle des TLfV, Brandt, sind während dessen Spitzeltätigkeit in der rechten Szene zwischen 1994-2001 niedergeschlagen worden, 200.000 DM aus Steuermitteln – von denen ein

Großteil die Aktivitäten der rechten Szene finanziert haben dürften – und allerlei Extras, etwa eine Flugreise in die USA**, flossen, während die Angehörigen der Ermordeten und die Geschädigten der Anschläge – neben den erlittenen Verlusten, Verletzungen, Traumatisierungen, materiellen Schäden und vernichteten Existenzgrundlagen – um die Wiederherstellung ihres Ansehens und gegen ihre permanente gesellschaftliche Stigmatisierung kämpfen mussten und vom deutschen Staat ansonsten nur wenig zu erwarten hatten. ***

Es bleibt mehr als ein Verdacht, dass die Sicherheitsbehörden in dieser Mordserie durch ihre materielle Unterstützung des braunen Netzwerks nicht nur dessen Aktionsfähigkeit erheblich ausweiteten, sondern zumindest lokal und regional von ihm taktisch gesteuert wurden und somit dort integrierter Szene-Bestandteil über ihr V-Personen-System waren.

Zur dessen Vertuschung hatten überfleißige Mitarbeiter der Dienste, wie etwa ein Mensch mit dem Decknamen Lothar Lingen im Bundesamt für Verfassungsschutz, vorsorglich schon wenige Tage nach Selbstenttarnung des sogenannten NSU große Aktenbestände über die V-Mann-Aktivitäten des Amtes dem Reißwolf übergeben. – Die vorläufige Spitze bildete wohl das Verhalten des hessischen Innenministeriums bei der Weigerung zur Herausgabe der polizeilichen Ermittlungsakten gegen den im Mord an Halit Yozgat unter Verdacht geratenen V-Mann-Führer Temme des Hessischen Landesamts für Verfassungsschutz (HLfV), dessen Akten gleich für 120 Jahre zur Einsichtnahme für die Öffentlichkeit gesperrt wurden. …

Demgegenüber hatte sich die Bundesanwaltschaft (BAW) frühzeitig nach der Selbstenttarnung der Kerntruppe am 04.11.2011 darauf geeinigt, nur den Personenkreis für ihre Taten hier vor Gericht zu stellen, die sich aus den Geschehnissen von Eisenach und in der Zwickauer Frühlingsstraße in einer direkten Linie zurückverfolgen ließen auf diejenigen Protagonisten, denen schon 1998 im Zusammenhang mit den damals begangenen volksverhetzenden und terroristischen Straftaten der Prozess hätte gemacht werden können, wenn damals der Wille der beteiligten Staatsgewalten zur Festnahme des Terrortrios und seines direkten Umfelds wegen der damals begangenen Taten bestanden hätte…Dazwischen liegen zehn Tote.

Die Chance einer konsequenten Aufklärung der Morde, ihrer gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen, wäre zugleich eine gesellschaftliche Chance gewesen, zu zeigen, dass die BRD – sehr spät! – bereit gewesen wäre, Lehren aus dem historischen deutschen Faschismus zu ziehen, in dessen Rechtsnachfolge sie steht. –

Diese Chance wurde seitens der BAW weder begriffen noch ernsthaft erwogen.- Ganz in altbewährter deutscher Tradition eines selbstzufriedenen Berufsbeamtentums hat sie mehrfach im Verlauf dieses Verfahrens zu erkennen

gegeben, dass eine weitergehende Aufklärung über die enge juristische Auslegung der Anklageschrift hinaus nicht erwünscht sei. – Oder durch den damals zuständigen Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Fritsche, vor

dem 1. Untersuchungsausschuss des Bundestags (BT) auf den Punkt gebracht:

Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“ ****-

Das Versprechen Merkels zur allumfassenden Aufklärung der Verbrechen gegenüber den Betroffenen am 23.02.2012 war eine Farce!

Um einen Schlussstrich zu markieren hat die letzte große Koalition das Verfassungsschutzgesetz reformiert und gewährt den Schlapphüten jetzt noch größere Vollmachten als bisher. – Die Verfassungsschutzbehörden und

Sicherheitsdienste können aufatmen, sind zum Tagesgeschäft übergegangen und üben sich in Schadensbegrenzung.

Ein weiterer Schlag ins Gesicht der betroffenen Familien und all derjenigen, die eine aktive Aufklärung und eine angemessene Zur-Verantwortung-Ziehung aller in diese beispiellose Mordserie Involvierten in Sicherheitsapparat und im neofaschistischen Umfeld fordern!

Kein Schlussstrich! – Unsere Forderungen sind nicht erfüllt! – Wir fordern

– voll umfängliche Aufklärung und eine umfassende Rehabilitierung aller Angehörigen und Geschädigten der beispiellosen Mord-und Anschlagserie!

Die aktuellen Sicherheits- und Verfassungsschutzbehörden sind nicht reformierbar – Wir fordern

sie in einem ersten Schritt unter demokratische Kontrolle zu stellen und dem Souverän – also der Zivilgesellschaft und den Parlamenten – bei Verbotsandrohung jederzeit vollumfänglich zur Rechenschaft zu verpflichten!

Wir fordern parallel die Abschaffung der undemokratischen Architektur der Sicherheitsbehörden und seines intransparenten V-Mann-Systems!

Vielen Dank!

* EKHK Dressier, Protokoll-Nr. 54, S. 2 f. 2.PUA des BT, Drucksache 18, Abschlussbericht, Juni 2017

** Schäfer-Gutachten, S. 179

***“Die Zeit“, 11.07.2013; Befragung der Betroffenen des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße; NSU-watch, 176. Verhandlungstag, 21.01.2015

****Klaus-Dieter Fritsche, am 18.10.2012 vor dem 1. NSU-Untersuchungsausschuss des BT in Berlin