„Angst ist ihr ständiger Begleiter“ – so lautet der erste Satz des Kommentators im Dokumentarfilm „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ (2012/13). Und fast der letzte Satz lautet geradezu hellseherisch: „Ob sich am Ende überhaupt jemand verantworten muss, ist völlig unklar.“
Der letzte Satz des Richters im fast fünf Jahre dauernden Prozess lautete: „Dann wär’s das für heute.“ Er hatte vorher die Einstellung des Prozesses verkündet – ohne Verurteilung der Angeklagten, allerdings auch ohne deren Freispruch.
AZ hat seit Beginn des Prozesses (9. Mai 2012) immer wieder berichtet. Er wird von vielen als einer der größten Umweltskandale in Deutschland bezeichnet, aber auch als Politik- und Justizskandal. In der Anklage ging es um die Vorwürfe Körperverletzung, Umweltschädigung und Verstöße gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg. Envio in Dortmund machte seinen Reibach vor allem mit dem Ausschlachten stark PCB-belasteter Transformatoren. PCB gehört zu den 12 giftigsten Stoffgruppen der Welt – seine Verwendung ist weltweit seit langem verboten. AZ ist hierauf in den früheren Artikeln ausführlich eingegangen. Betroffen von dem durch das Ausschlachten der Transformatoren freigesetzten PCB waren nicht nur die für den Profit von Envio arbeitenden (Zeit)Arbeiter, sondern auch die Anwohner.
Für das Gericht ist nicht bewiesen, dass die von der Aachener Universität festgestellten gesundheitlichen Schäden der im Betreuungsprogramm untersuchten Menschen von Envio-PCB herrühren.
Für das Gericht ist nicht bewiesen, dass die auf dem Envio-Gelände und seiner Umgebung festgestellten hohen PCB-Werte von Envio stammen; Fazit: Körperverletzung und Umweltverschmutzung fallen als Anklagepunkte weg.
Bleiben die Verstöße gegen die Auflagen: Envio hat z.B. zugegebenermaßen ein anderes Recycling-Verfahren angewendet als angeordnet; die Verteidigung redete die Angeklagten damit erfolgreich heraus, dass das angewendete Verfahren nicht schlechter sei als das vorgeschriebene, dass also kein Schaden dadurch entstanden sei – sie hatte damit Erfolg.
Also: alle drei Anklagepunkte erfolgreich abgewehrt – aber wieso dann nur Einstellung des Verfahrens und kein Freispruch?
Wir haben die Diskussionen um den Prozessverlauf in den fast 5 Jahren aufmerksam verfolgt. Der Staatsanwalt ist kein Anfänger in seinem Beruf – er hätte wissen müssen, dass eine Körperverletzung durch PCB sehr schwer zu beweisen ist: Alle Schädigungen (außer Chlor-Akne) können auch durch andere Ursachen hervorgerufen werden; eine „fahrlässige“ oder „vorsätzliche“, „billigend in kauf genommene“ Gefährdung hätte „belastbar“ nachgewiesen werden können – aber so lautete die Anklage eben nicht. Ein Versehen?
Übrigens war die Einstellung des Verfahrens von den RichterInnen vor etwa anderthalb Jahren schon einmal vorgeschlagen worden mit dem Hinweis darauf, dass es wohl zu keiner Verurteilung kommen werde. Mit diesem Vorschlag war die Verteidigung erwartungsgemäß einverstanden und erstaunlicherweise die Nebenkläger auch – nur die Staatsanwaltschaft nicht. Die Nebenkläger hatten die Aussichtslosigkeit des Verfahrens für ihre Mandanten wohl eingesehen und stimmten der Einstellung zu unter der Bedingung, dass ihren Mandanten eine Entschädigung gezahlt wird – insgesamt 80.000 Euro (nicht für jeden, sondern für alle zusammen!).
Durch die Weigerung der Staatsanwaltschaft zog sich der Prozess aber noch weitere mindestens 16 Monate in die Länge – auf Kosten der Steuerzahler. Nun wurde er doch beendet mit der schon früher Gericht vorgeschlagenen Begründung. Es gibt allerdings mindestens zwei Dinge zu bemerken:
1. Es sind etwa eineinhalb Jahre Zeit vergangen – gut für wen? Böse Menschen argwöhnen, es könne um das Überschreiten von Verjährungsfristen gehen – aber wir sind ja keine bösen Menschen;
2. Als Entschädigung werden 80.010 Euro gezahlt – also 10 Euro mehr, wenn das den Kampf nicht gelohnt hat!
Übrigens „Entschädigung“ – wofür eigentlich? Wir schlagen unseren Lesern und Leserinnen vor, jetzt mit dem Weiterlesen einmal innezuhalten und sich einen möglichen Entschädigungsgrund zu überlegen (Halt! Noch nicht weiterlesen!)
Die von den ursprünglich 51 noch übriggebliebenen 21 PCB-Belasteten erhalten die Entschädigung für die Belastung, die sie durch die Länge des Prozesses ertragen mussten! Das ist unglaublich! Wir freuen uns natürlich darüber, dass jeder von ihnen etwas Geld erhält – im Gegenwert von 11 Monaten Mindestlohn!), aber wir sind doch erstaunt. Da haben die Nebenkläger – vor allem eine junge Anwältin – alles nur irgendwo in der Welt aufzutreibende Informationsmaterial über Gesundheitsschäden nicht nur bei Menschen durch PCB herangeschleppt: nichts davon war nach Auffassung des Gerichts als Fakt „belastbar“! An menschlichem Gewebe nachgewiesene (!) Schädigungen durch PCB wurden als Beweis nicht akzeptiert, weil die Untersuchung „im Reagenzglas“ durchgeführt wurde und nicht am lebenden Menschen (der Wissenschaftler war also nicht Dr. Mengele). Also: Ein Schaden durch PCB ist juristisch belastbar nicht nachgewiesen.
Und die lange Prozessdauer? Uns ist kein einziges Attest, kein einziges Gutachten eines Mediziners oder Psychiaters bekannt, in dem dieser seinem Patienten bestätigt, dass seine Verdauungs-, Schlaf- oder sonstigen Beschwerden auf die Länge des Prozesses zurückzuführen seien! Noch einmal: Wir freuen uns, dass die 21 Nebenkläger wenigstens ein bisschen Geld bekommen, und hoffen, dass wir das nun nicht gefährden – aber die unterschiedlichen Maße, die das Gericht hier anlegt, sind doch zumindest befremdlich!
Was ist übrigens mit den zahlreichen Menschen in Deutschland, die durch den Prozessverlauf einen Schaden in ihrem Vertrauen in die Justiz und Politik erlitten haben? Wer entschädigt die?
Der Prozess ist also vorbei. Allerdings ist es für den Hauptangeklagten Dirk Neupert offenbar noch nicht vorbei: Einen Tag nach Prozessende meldeten die Medien, dass gegen ihn nun in Zusammenhang mit einem Betrieb, den er in Spanien hat(te?), wegen Steuerhinterziehung 2007 und 2010 ermittelt wird . Es kommt eine gewisse Schadenfreude auf, nur von diesem Prozess haben die PCB-Opfer nichts.
Zum Schluss etwas Positives: In Essen-Kray wurde der Recycling-Betrieb der Firma Richter stillgelegt. Die Firma hatte eigene Untersuchungen angestellt über die PCB-Belastung durch ihre Schredder im Wohngebiet; von LANUV vor kurzem mit anderen Methoden durchgeführte Untersuchungen ergaben jedoch viel höhere Werte. Richter hat „seit ewig“ einen Bestandsschutz – der schützte sie jetzt jedoch nicht davor, dass ihr das Recht zum Weiterbetrieb jetzt entzogen wurde. Richter verzichtete auf einen Widerspruch und legte die beiden Anlagen still. Gegen Richter hatte die Bürgerinitiative gegen Giftschredder in Kray etwa 20 Jahre gekämpft – die Stilllegung ist auch auf ihren Kampf zurückzuführen. Herzliche Glückwünsche von uns dazu! Ein weiteres Beispiel für uns dafür:
WIR KÖNNEN ETWAS ERREICHEN!