Wir veröffentlichen diese Erklärung, auch wenn wir nicht alle einschätzungen im Detail teilen. Denn sie zeigt, wie die Großkonzerne die Freiheit der Wissenschaft in ihrem Sinne regulieren. Dazu kommt, dass bei VW das Land Niedersachsen Großaktionär ist und der Betriebsrat über die erweiterte Mitbestimmung bei VW durchaus Einfluß hat. Ausser lauen Protesten passierte aber nichts.
Die Redaktion von AZ
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Dr. Manfred Grieger, bislang Leiter der Historischen Kommunikation im VW-Konzern, das Unternehmen kurzfristig verlässt. Auslöser war Griegers kritische Rezension eines Buches, das die Geschichte der Auto Union im Nationalsozialismus behandelt. Die Auto Union, in deren ungebrochene Tradition sich die Konzerntochter Audi stellt, war eng mit dem verbrecherischen NS-Regime verbunden und beschäftigte in großer Zahl KZ-Häftlinge, deren Arbeitseinsatz sich unter menschenunwürdigen bis mörderischen Bedingungen vollzog.
Diese kurze Besprechung in einem Fachjournal hatte zur Folge, dass Grieger an die kurze Leine genommen und in seiner wissenschaftlichen Freiheit eingeschränkt werden sollte, was zum Ausscheiden des profilierten Historikers führte. Der VW-Konzern, der selber aus dem NS-Regime hervorgegangen ist, fügt sich auf diese Weise einen in seiner Tragweite noch gar nicht übersehbaren Schaden zu. Der Betriebsrat reagierte prompt mit einem scharfen Protest.
Es war Manfred Grieger, der die Geschichte von VW im Nationalsozialismus in einer gemeinsam mit Hans Mommsen verfassten Pionierstudie in den 1990er-Jahren erstmals aufarbeitete, das Unternehmensarchiv aufbaute und VW zu einer in vielem vorbildlichen Geschichtspolitik verhalf. Das Unternehmen zeichnete sich seitdem durch einen transparenten und tabulosen Umgang mit der eigenen Geschichte aus. So hat Grieger zuletzt mit der Aufklärung der mutmaßlich Menschenrechtsverstöße des Konzerns während der brasilianischen Militärdiktatur in den 1970er-Jahren begonnen. Es stehen Vorwürfe im Raum, das Unternehmen habe wie andere deutsche Firmen das berüchtigte Folterzentrum Oban unterstützt und eng mit dem Geheimdienst der Diktatur kooperiert. Es gibt Bestrebungen, solche heiklen Themen unter den Teppich zu kehren. Noch hat sich VW nicht dazu geäußert, ob und wie das Brasilienprojekt nach dem Ausscheiden Griegers fortgesetzt wird.
Es stellt sich die Frage, ob VW zur Geschichtspolitik früherer Tage zurückkehren will, die einseitig der Verherrlichung der eigenen Geschichte unter Ausklammerung dunkler Seiten diente. Archive waren in dieser Zeit nur ausgesuchten Forschern zugänglich, und es war oft nur eine mit der Presseabteilung zuvor abgestimmte Geschichtsschreibung möglich. Dass ein wissenschaftlich ausgewiesener, in der Fachwelt allseits anerkannter Kopf wie Grieger dafür nicht zur Verfügung steht, ist nur allzu verständlich.
Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind wir über den Fall Grieger empört und überaus beunruhigt. Es steht zu befürchten, dass VW und eventuell andere Unternehmen alles, was sie in der schmerzhaften Auseinandersetzung mit ihrer NS-Geschichte gelernt haben, ad acta legen könnten. Sollten die Vorkommnisse bei VW den Aufbruch zu einer geschichtspolitischen Wende markieren, wäre dies für unser Fach, für die Öffentlichkeit und die Stakeholder des Unternehmens ein nicht hinnehmbarer Rückschritt, der nicht zuletzt der Unternehmenskultur der Bundesrepublik und der Forschungsfreiheit immensen Schaden zufügen würde.
Erstunterzeichner (bis 31.10.2016)
Dr. Ralf Ahrens, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Prof. Dr. Johannes Bähr, Goethe-Universität Frankfurt/Main
Prof. Dr. Volker Berghahn, Columbia University, New York
Prof. Dr. Hartmut Berghoff, Universität Göttingen
Dr. Robert Bernsee, , Universität Göttingen
Prof. Dr. Frank Biess, University of California in San Diego
Prof. Dr. Frank Bösch, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Dr. Lutz Budrass, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Christoph Conrad, Université de Genève
Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, Universität Tübingen
Dr. Pierre Eichenberger, Universität Zürich
Dr. Alexander Engel, Universität Göttingen
Prof. Dr. Jeffrey Fear, University of Glasgow
Prof. Dr. em. Wolfram Fischer, Freien Universität Berlin
Prof. Dr. Norbert Frei, Universität Jena
Prof. Dr. Patrick Fridenson, Centre de Recherches Historiques Paris
Dr. Bernhard Fulda, Cambridge University, UK
PD Dr. Boris Gehlen, Universität Bonn
Prof. Dr. Neil Gregor, University of Southhampton, UK
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Prof. Dr. Gerd Hardach, Philipps-Universität Marburg
Prof. Dr. Elizabeth Harvey, University of Nottingham, UK
Prof. Dr. Peter Hayes, Northwestern University, Evanston, USA
Prof. Dr. Ulrich Herbert, Universität Freiburg
Prof. Dr. Martina Heßler, Helmut Schmidt Universität Hamburg
Prof. Dr. Dierk Hoffmann, Institut für Zeitgeschichte, München
Prof. Dr. Carl-Ludwig Holtfrerich, Freie Universität Berlin
PD Dr. Heidrun Homburg, Universität Freiburg
Prof. Dr. Harold James, Princeton University
Prof. Dr. Christian Jansen, Universität Trier
Prof. Dr. Ian Kershaw, University of Liverpool
Prof. Dr. Matthias Kipping, York University, Kanada
Dr. Jan-Holger Kirsch, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Dr. Egbert Klautke, University College London
PD Dr. Ingo Köhler, Universität Göttingen
PD Dr. Roman Köster, Universität Freiburg
Prof. Dr. Sandrine Kott, Université de Genève
Prof. Dr. Matthieu Leimgruber, Universität Zürich
Prof. Dr. Stefan Link, Dartmouth College, USA
Prof. Dr. Stephan H. Lindner, Universität der Bundeswehr, München
Dr. Jan Logemann, Universität Göttingen
Prof. Dr. Christina Lubinski, Copenhagen Business School
Prof. Dr. Charles Maier, Harvard University
Dr. Christian Marx, Universität Trier
Prof. Dr. Alexander Nützenadel, Humboldt-Universität Berlin
Prof. Dr. Kiran Klaus Patel, Maastricht University
Prof. Dr. Cornelia Rauh, Leibniz Universität Hannover
Prof. Dr. Alfred Reckendrees, Copenhagen Business School
Prof. Dr. Albrecht Ritschl, London School of Economics
PD Dr. Tim Schanetzky, Universität Wien
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schieder, Universität zu Köln
Prof. Dr. Harm Schroeter, Universität Bergen
Professor Dr. Günther Schulz, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität
Prof. Dr. Dirk Schumann, Universität Göttingen
Prof. Dr. Matthias Schulz, Université de Genève
PD Dr. Uwe Spiekermann, Universität Göttingen
Prof. Dr. Mark Spoerer, Universität Regensburg
Prof. Dr. Reinhard Spree, LMU München
Prof. Dr. Nicholas Stargardt, University of Oxford
Prof. Dr. André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Prof. Dr. Tobias Straumann, Universität Zürich
Prof. Dr. Brigitte Studer, Universität Bern
Prof. Dr. Jörg Sydow, Freie Universität Berlin
Prof. em. Dr. Jakob Tanner, Universität Zürich
Dr. Stephanie Tilly, Universität zu Köln
Prof. Dr. Richard Tilly, University of Michigan
Prof. Dr. Adam Tooze, Columbia University, New York
Prof. Dr. Frank Trentmann, University of London
Prof. Dr. Jakob Vogel, Centre d’histoire de Sciences Po, Paris
Prof. Dr. Anna von der Goltz, Georgetown University, Washington DC
Prof. Dr. Nikolaus Wachsmann, University of London
Prof. Dr. Bernd Weisbrod, Universität Göttingen
Prof. Dr. Thomas Welskopp, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Michael Wildt, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Harald Wixforth , Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Dieter Ziegler, Ruhr-Universität Bochum
Dr. Irmgard Zündorf, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Weitere Unterzeichner (ab 1.11.2016)
Prof. Dr. Richard J. Evans, Universität Cambridge, UK
Dr. Stefanie van de Kerkhof, Universität Siegen
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Kocka, Wissenschaftszentrum Berlin
Prof. Dr. Kim Christian Primel, University of Oslo