Neues vom PCB-Skandal in Dortmund und anderswo
„Das ist ja nur unnütze Geldverschwendung, was wir hier machen,“ – das empfand nicht etwa ein empörter Dortmunder Bürger oder ein Mitglied der „Bürgerinitiative für die Aufklärung des PCB-Skandals in Dortmund“, nein, das äußerte der hauptverantwortliche Richter im seit mehr als 4 Jahren laufenden Prozess. AZ hat über den Prozess mehrfach berichtet.
Im Dezember 2015 begannen die 3 Richter bzw. Richterinnen mit der Verlesung der Protokolle der Firma Envio über die Anlieferung der PCB-belasteten Transformatoren. Im Januar ging das weiter. Jeweils für etwa 60 Minuten (oder auch kürzer) trafen sich Richter, Protokollführer, Staatsanwalt, Nebenkläger, Verteidiger und Angeklagte und lauschten der Verlesung von je etwa 50 –100 Seiten – so manche(r) Zuhörer(in) verließ genervt den Gerichtssaal.
So auch im Mai 2016. Doch diesmal verkündete der Richter eine schnellere Folge der nächsten Prozesstermine, so dass bei der zuhörenden Öffentlichkeit die Hoffnung entstand, es könne nun – nach mehr als 4 Jahren – endlich etwas Entscheidendes eintreten. Doch weit gefehlt – auch im Juni wurde noch „verlesen“ – und täglich grüßt das Murmeltier. Und nicht nur das: Das schon für den Dezember 2015 vorgesehene Gutachten von Prof. Wolfgang Rotard aus Berlin lässt auf sich warten. Die im Jahr 2010 stillgelegte Firma Envio unter dem damaligen Chef Dirk Neupert hatte nachweislich und von ihm nicht bestritten ein anderes Recyclingverfahren angewendet als vorgeschrieben. Die Verteidigung bezweifelt nun, dass dadurch eine höhere PCB-Gefährdung für bei Envio Beschäftigte bzw. Anwohner entstanden sei. Prof. Rotard ist allerdings aus gesundheitlichen Gründen seit etwa einem halben Jahr nicht in der Lage, eine entsprechende Untersuchung (Vergleich beider Methoden) durchzuführen – vielleicht vertreibt man sich auch deshalb die Zeit mit dem unsinnigen Verlesen von Daten, die jedem am Prozess Beteiligten schriftlich vorliegen. Gibt es in Deutschland oder anderswo nur Herrn Prof. Rotard, der die Untersuchung durchführen kann?
Prozessbeobachter zitieren den leitenden Richter mit der wiederholten Aussage „Ich weiß auch nicht mehr, was ich machen soll.“ Nanu – sagt ihm das denn keiner? Ach richtig: wir haben ja unabhängige Gerichte…
Von den in auffällig schneller Folge geplanten nächsten Terminen wurden nun mehrere abgesagt unter anderem mit der eingangs zitierten Feststellung. Immerhin eine Aussage, der wir nicht widersprechen…
PCB-Probleme gibt es allerdings nicht nur in Dortmund. Im Essener Stadtteil Kray kämpft z.B. seit vielen Jahren die „Bürgerinitiative gegen Gift-Schredder in Kray“ gegen die PCB-Vergiftung. Die Schredder-Firma Richter steht mitten im Wohngebiet, in dem es auch zahlreiche Kleingärten gibt. Das Umweltamt informierte im April 2015 etwa 1000 Haushalte, dass sie angebautes Gemüse wie z.B. Grünkohl nicht verzehren sollten wegen der nachgewiesenen hohen PCB-Belastung. Für alle – das Umweltamt, LANUV, die Mitglieder der Bürgerinitiative – ist bewiesen, dass die Firma Richter die Quelle dieser Belastung ist; nur die Firma bestreitet das natürlich – was im Kapitalismus tatsächlich „natürlich“ ist. Die Bürgerinitiative betrachtet Recycling als sinnvoll, fordert aber seit langem entweder die Stillegung oder die Verlegung der Firma aus dem Wohngebiet und eine vollständige „Einhausung“ der Schredderanlage. Die Firma Richter hat jedoch seit langem einen „Bestandschutz“ und braucht deshalb keine Schließung zu befürchten – Schutz des Unternehmer-Profits geht offenbar über Gesundheitsschutz der Bevölkerung… Wie gut, dass die KZs keinen Bestandschutz hatten!
Eine PCB-Gefährdung für die Bevölkerung gibt es allerdings nicht nur durch Recycling- und Verbrennungsanlagen. PCBs wurden, da sie isolieren, schwer entflammbar sind usw., im Bergbau untertage und auch in der Bauindustrie vor etwa 50 Jahren eingesetzt; ihre Herstellung und Verwendung ist aber nicht nur in Deutschland, sondern weltweit seit langem verboten. Doch die Altlasten wirken nach…
Im Bergbau wurde z.B. Elektroschrott einfach in ausgedienten Stollen gelassen und diese versiegelt; PCB-haltiges Transformatorenöl wurde – wie Bergleute versichern auf Anweisung „von oben“ – einfach in die Stollen ablaufen gelassen. In den stillgelegten Bergwerken wird das belastete Grubenwasser ohne Genehmigung abgelassen bzw. es steigt bis zum Grundwasser empor, wenn es nicht dauernd durch Pumpen daran gehindert wird. Die Pumpen sollen aus Kostengründen abgeschaltet werden. Die Bergleute haben damals übrigens ohne Schutz gearbeitet, viele von ihnen sind an Krebs erkrankt. Es gibt Stellen an Lippe und Ruhr, wo die RAG mit Billigung der Aufsichtsbehörden Millionen Kubikmeter Grubenwasser einleitet. Die RAG führt Messungen durch und kommt zu dem Ergebnis, das Wasser an den Einleitungspunkten sei unbedenklich und würde außerdem durch den Fluss verdünnt. Umweltschützer kommen zu anderen Ergebnissen: sie haben Sedimentproben genommen, denn die PCBs sind wasserunlöslich, haften aber an Staubpartikeln, die sich bei geringerer Strömungsgeschwindigkeit natürlich am Boden ablagern.
NRW-Umweltminister Remmel sieht keine Möglichkeit, das gesetzwidrige.Einleiten zu verhindern. „Es ist nicht erlaubt, giftige Stoffe ins Gewässer einzuleiten… Was mache ich dann mit dem Wasser? Sollen wir das da unten lassen? Es ist eine Frage, die jedenfalls mit technischen Möglichkeiten zur Zeit und mit rechtlichen Möglichkeiten nicht abschließend beantwortet werden kann. Nur: wenn heute keine Ableitung von Wässern stattfinden würde, also nichts abgepumpt würde, würde uns das ganze Ruhrgebiet absaufen… Ich weiß darauf keine Antwort, um ehrlich zu sein.“ (Fernseh-Interview)
Tja, die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden, sonst könnte man ja das Verursacherprinzip anwenden und den Verursacher für die Abwasserreinigung heranziehen –Bestandschutz vor Gesundheitsschutz? In den USA stellte die Firma Montanto PCB her und wird von Geschädigten verklagt – in Deutschland stellte die Firma Bayer PCB her, fühlt sich aber für die Folgen nicht verantwortlich und verdient sogar an der Verbrennung der von ihr hergestellten Gifte!
Wie sieht es mit der PCB-Belastung von Gebäuden aus? Nach den nicht nur für NRW geltenden Richtlinien ist bei Räumen mit 3000 ng (Nanogramm) pro Kubikmeter Raumluft eine akute Gesundheitsgefahr nicht mehr auszuschließen, der Raum darf nicht mehr genutzt werden; bei Werten zwischen 300 und 3000 ng/m³ muss „mittelfristig“ saniert werden und Räume mit weniger als 300 ng gelten als unbedenklich.
Die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände (kommunale Unternehmer in NRW) teilte vor 2 Jahren mit, auf ihre Empfehlung „ist die PCB-Problematik grundsätzlich… systematisch durch Überprüfung der Gebäude abgearbeitet worden… insbesondere in den Jahren von 1996 bis 2003…In den letzten Jahren sind nach der o.a. Schadstoffsanierung … nur wenige weitere Einzelfälle bekannt geworden… Bis zum heutigen Tag sind den kommunalen Spitzenverbänden keine weiteren aktuellen Fälle zur Kenntnis gegeben worden, in denen PCB in kommunalen Gebäuden noch festgestellt worden ist. … bis zum Jahr 2003 (ist) in den Städten und Gemeinden die PCB-Problematik abgearbeitet worden und (sind) in den letzten Jahren lediglich Einzelfälle aufgetreten…“
Schön wäre es! Dabei muss man wissen, dass die für NRW und Deutschland geltenden Richtlinien mit den oben genannten Richtwerten völlig veraltet sind und um das 50fache höher liegen als die von der WHO schon 2003 empfohlenen Werte! Wir trauen jeder/jedem Leser(in) zu, 3000 ng durch 50 zu teilen… Die Gebäude wurden/werden oft nur „freigemessen,“ nicht freigemacht oder gar neu gebaut. Dass die Richtlinien überholt sind, ist den Verantwortlichen bekannt: „Gehört ja, aber – äh – wie gesagt: wir haben ein bestehendes Regelwerk, welches nach wie vor gilt, und nach dem wird gewertet.“ So ein Verantwortlicher vom Amt für Vermögen und Bau in Baden-Württemberg.
Außerdem vermutet das Bundesumweltamt, dass immer noch 50-80 % der PCBs in Gebäudeteilen vorhanden sind. In mehr als 78 Städten in NRW sind landeseigene Gebäude noch immer belastet, z. B. die Unis in Bochum und Düsseldorf, das Unicenter in Köln, ein Hochhaus mit mehreren hundert Wohnungen. Das Studentenwerk als Miteigentümer möchte eine Sanierung erreichen, doch die Eigentümergesellschaft „Haus und Grund“ wehrt sich dagegen: Einer ihrer Sprecher in einem Interview: „Wir haben in Deutschland in zahlreichen Wohngebäuden, in öffentlichen Gebäuden PCB belastetes Material und das würde ja zur Folge haben, dass auch in diesen Wohnungen und in diesen Häusern, in diesen Gebäuden ebenfalls PCB-Sanierungen durchgeführt werden müssen – das kann ich mir nicht vorstellen, dass hier (!!!- AZ-Red.) ein Gericht dazu eine Entscheidung diesentsprechend treffen würde.“ Wir – ehrlich gesagt – auch nicht; die Sanierungskosten für das Unicenter Köln werden auf etwa 50 Mio € geschätzt – und soviel ist die Gesundheit „der da unten“ dann doch nicht wert. „Bestandschutz…“ – ach, das hatten wir ja schon!
Auch in Baden-Württemberg und Hessen haben neuere Messungen an öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Universitäten ergeben, dass viele „sanierte“ Gebäude noch stark belastet sind, PCB wurde in Farben, Lacken und Fugen eingesetzt. Es gaste im Laufe der Zeit aus diesen „Primärstoffen“ aus und belastete „Sekundärstoffe“ wie z.B. das Mobiliar. Wurde dieses bei der Sanierung nicht ebenfalls entfernt, gaste PCB wiederum aus und zog auch in das neue Baumaterial ein. „Freigemessen“ wurden Räume auch dadurch, dass nicht bei hohen Raumtemperaturen (Sommer, Heizung im Winter) gemessen wurde – dann entweichen die PCB-Verbindungen nämlich stärker als bei niedrigen und schädigt die Menschen im Raum mehr.
PCB ist nicht nur ein Dortmunder Problem – PCB ist ein Problem für alle Menschen in Deutschland. Bei der vorherrschenden „christlich-abendländischen Leidkultur“ (manche sagen Kapitalismus dazu) ist zu befürchten, dass die dieser Kultur unterworfenen nicht nur mit ihrem Geld, sondern auch mit ihrer Gesundheit für so manchen „Bestandschutz“ zahlen müssen…