Wir fragten in unserem ersten Artikel zu den rassistischen Übergriffen in Clausnitz und zur erneuten Brandstiftung, diesmal in Bautzen, den sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich und seinen CDU-Innenminister Ulbig: „Herr Tillich, Herr Ulbig! Könnt ihr oder wollt ihr nichts daraus lernen? Wen wundert’s, dass heute weltweit vermutet wird, dass in Eurem Bundesland in Wirklichkeit eine Kumpanei mit Rechten, mit Nazis und mit „völkischen“ Hetzern herrscht?“
Tillich hat die Antwort selber gegeben. Er will nicht! In der ihm eigenen Art – harmlos tun und gleichzeitig seine Rechten und Nazis in Sachsen schützen – versucht er sich und den rechten Mob dadurch zu entlasten, dass er in Tagesthemen und Heute-Journal behauptet, in Stuttgart wäre mit der Protestbewegung gegen den Bahnhofs„rückbau“ „S 21″ auch keinerlei Dialog möglich, da hätte man ja eine Schlichtung gebraucht, um überhaupt mit den Gegnern zu reden und es hätte kein Ergebnis gehabt. Eine offene Lüge.
Diese Bewegung hat sich mit renommierten Sprechern und Vertretern wochenlang öffentlich und mit einem – äußerst fragwürdigen – Schlichtungsergebnis jedweder öffentlichen Auseinandersetzung gestellt, hat qualifiziert argumentiert und tut das bis heute. Sie hat zahlreiche versierte Ingenieure, Architekten, Juristen, Ökonomen, Ökologen, Gewerkschafter in ihren Reihen, leistet intensive Überzeugungsarbeit, kämpfte und kämpft um Mehrheiten. Aber die eh dürftigen Schlichtungsergebnisse wurden nicht von dieser Bewegung, sondern vom Staatskonzern Deutsche Bahn mit Füßen getreten und zerrissen, wie auch von Ihrem Parteifreund Mappus (und seinem schwarzgrünen Nachfolger Kretschmann). Sogar Schlichter Geißler muss man hier Recht geben. Er sagte zu Tillichs Ausführungen: „Diese Rechtsradikalen brauchen gar keine Schlichtung, sie gehören ins Gefängnis!“ (Stuttgarter Zeitung, 24.02.2016)
Die Protestbewegung gegen diesen unsäglichen Bahnhofsrückbau ist durch und durch demokratisch, ist vital, offen und transparent. Aus ihren Reihen ging Solidarität hervor mit der von der EU verursachten Not in Griechenland, mit den Flüchtlingen, mit der Gezi-Park-Bewegung in der Türkei. Sie integrierte und integriert Migranten in großer Zahl, sie steht solidarisch zu ungezählten anderen demokratischen wie antifaschistischen Aktivitäten – eine bis heute vitale Bürgerbewegung. Wer wie Tillich diese gleichsetzt mit dem rechten, aggressiven, Häuser verbrennenden Mob, der gegen aktive Demokraten hetzt und sie massiv bedroht, in dem sich Nazis tummeln wie Fische im Wasser und de facto längst die Führung übernommen haben, – nimmt bewusst weiterhin den Druck von genau diesen Rassisten.
Übrigens, Herr Tillich: Ihr Parteifreund und damaliger Kollege Mappus ließ die Demonstration der S-21-Gegner, als diese versuchten, die Verwüstung des historischen Schlossparks in Stuttgart zu verhindern, durch eine massive polizeiliche Knüppel- und Wasserwerferorgie angreifen. Bei dieser wurden zahlreiche Demonstranten verletzt, und ein Demonstrant verlor sogar sein Augenlicht. Der Polizeieinsatz wurde inzwischen höchstrichterlich als illegal verurteilt.
Auf ein entschlossenes und resolutes Einschreiten ihrer Regierung und ihrer Polizei gegen das gewalttätige Mobbing in Ihrem Lande wartet man bis heute vergeblich! Dabei sind zahllose Häuser zerstört, wurden berichtende Journalisten aus Pegida-Demos vor den Augen der Polizei gewaltsam angegriffen.
Pegida-Frontfrau Tatjana Festerling erlässt in Dresden – vor Ihrer Haustür, Herr Tillich! – auf den Pegida-Demos offene Gewaltaufrufe! Gewaltaufrufe auch gegen das Parlament, das Sie gewählt hat! Montag, den 22. Februar 2016 lobte sie – wie gesagt, praktisch vor Ihrer Haustür, Herr Tillich – lauthals die Meute von Clausnitz! Sie dagegen, Herr Tillich haben nichts Besseres zu tun, als eine demokratische Bewegung zu verleumden, und sich damit ein weiteres Mal vor die Rassisten und Nazis in Ihrem Land zu stellen.
Herr Tillich, Sie lernen nichts und Sie wollen auch nichts lernen! Aber wie Hannes Rockenbauch, ein Sprecher der Stuttgarter S-21-Gegner deftig schwäbisch sagte: Ein Versager wie Sie wird es nicht schaffen, diese demokratische Bewegung durch Ihren braunen Sumpf zu ziehen!
„Wie nun, Ihr Herren, seid Ihr stumm, dass Ihr kein Recht könnt sprechen?“ fragte vor 400 Jahren ein wirklich bedeutender Dresdner, der großartige, humanistische Komponist Heinrich Schütz, in seinem „Beckerschen Psalter“. Auch dieses starke, aufwühlende Chorlied erklang bei einem der ungezählten Kulturbeiträge auf den Kundgebungen gegen Stuttgart 21.
Nehmen Sie einfach Ihren Hut und treten Sie zurück! Echte Sorgen bereitet Ihnen angesichts der Ereignisse ja eh nur der zu befürchtende wirtschaftliche und Image-Schaden für „Ihr“ Land Sachsen. Da kann Ihr Rücktritt wirklich erste Abhilfe schaffen!
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Leserbrief – Antwort im Anschluss an den Text der Korrespondenz!
Nun scheint es für einen Kommunisten und Antifaschisten gänzlich unangebracht, einen reaktionären Politiker des herrschenden Systems verteidigen zu wollen.
Doch an anderer Stelle der AZ wird der reine Moralismus der Antifaschisten kritisiert.
Was also stört mich an einer Überschrift „Es reicht, Herr Tillich!“
Den derzeitigen sächsischen Ministerpräsidenten für die ekelerregenden Zustände in Dörfern und Städten des so genannten Freistaats verantwortlich zu machen, ist nicht etwa nur zu kurz gegriffen.
Es ist auch Ausdruck jener Sorte Bequemlichkeit, die die spezifischen sächsischen Besonderheiten mit alljährlichen Polittourismus zur Verhinderung von Naziaufmärschen anlässlich der anglo-amerikanischen Bombenangriffe auf Dresden (womöglich mit Parolen alà „Bomber-Harris, do it again!“) begleitet hat, ansonsten nur im heimeligen Alternativghetto die Nase rümpfte.
Tillich ist bald zu liberal für das, dessen Galionsfigur er nun darstellt. Er ist weder unbeteiligt, unschuldig noch in irgendeiner Weise der Richtige, um etwas zu verändern.
Seine Beteiligung an Enteignungen im Rahmen der Bodenreform als CDU-Vorsitzender im Kreis Kamenz führte teilweise schon zu Naserümpfen in der einstigen CDU/FDP-Koalition. Bei NPD und Konsorten ist eher seine sorbische Herkunft (eine slawische Volksminderheit in Sachsen und Brandenburg) ein Grund dazu.
Letztlich ist es aber doch eher das Erbe, das er angetreten hat.
Und das verbindet sich dann eher mit dem Namen Kurt Biedenkopf – ein CDU-Politiker, der damals in Nordrhein-Westfalen mit seiner Parole zur Landtagswahl „Freiheit oder Sozialismus“ rasselnd durchgefallen ist.
Als „Landesvater“ im wiedervereinigten Freistaat Sachsen verband er diese Parole mit großer Gestaltungsfreiheit zu einem sehr eigentümlichen Konzept von Post-Monarchismus. Und schon damals war der Neofaschismus eine nicht nur sehr mächtige, sondern vor allem weitgehend ungebremste Macht in Sachsen.
Ähnlich wie in der „alten BRD“ die Wehrsportgruppe Hoffmann nicht zufällig im bayrischen Freistaat ihr bestes Betätigungsfeld fand – der „gesunde Nationalstolz“ der Sachsen richtet sich gegen Fremde auch aus Westdeutschland, oder auch gegen politische und soziale Minderheiten. Dabei werden reaktionäre Wirtschaftskonzepte mit den üblichen Verleumdungen gegen Gewerkschafter verbunden, aber auch unverhohlene Pogromhetze gegen als „arbeitsscheu“ Empfundene.
Nach Biedenkopfs Regentschaft ward Sachsen von einem durch und durch farblosen Milbradt regiert, der bestenfalls alles fortschreiben konnte, was Biedenkopf hinterlassen hatte.
Unbeachtet blieben ständige Präsenz der Rechtsradikalen auf unerträglich hohem Niveau, Provokationen, Brandanschläge… unbeachtet und unbehelligt.
Die Patriotismusdebatte von Teilen der sächsischen Union mit der NPD war dabei genauso Teil einer ungesunden Entwicklung, wie auch angebliche Erfolge des heutigen sächsischen Innenministers Ulbig bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus in Pirna, wo Ulbig einst Bürgermeister war. Angeblich hätte er dort an den Schulen den Nazis den Nachwuchs abgedreht – ein nettes Selbstbeweihräucherungsmärchen.
Und da er ja solcherart ungemein geeignet war für den Job des sächsischen Innenministers, löste er dabei den allseits bekannten De Maiziere ab, der dann als Bundesinnenminister in Freital viel Verständnis für so genannte „besorgte Bürger“ zeigte.
Eine angebliche Flüchtlingskrise (wohl eher eine Bewusstseinskrise solcherart besorgter Bürger) führte dann mehrere Generationen sächsischer Rassisten zu Pegida zusammen, zum allmontäglichen Gemeinschaftserlebnis.
Und dazu im Regionalfernsehen das Wutschnauben des Dresdener Politikprofessors Pätzold, der im Protest gegen Pegida die Spätfolgen der 68er am Werk sieht.
Oder, wie Ulbig feststellte: „Antifaschismus ist auch keine Lösung…“
Nichts an den Ereignissen in Clausnitz oder Bautzen ist in irgendeiner Weise neu für die spezifisch sächsischen Verhältnisse. Neu ist lediglich Tillich als Vorsitzender des Bundesrats.
7. März 2016, B.S.
Antwort des Redakteurs des Artikels
Lieber Genosse S.,
gut, dass einer unser Leser aus Sachsen zu der Lage dort Stellung nimmt! Das veröffentlichen wir gerne. Aber wir wollen Dir auch antworten. Denn Arbeit Zukunft möchte Herrn Tillich wirklich nicht in Schutz nehmen! Darin können wir Dir nicht folgen.
Aber Du hast das ja wohl selbst auch „mit einem Augenzwinkern“ formuliert. Du hast dankenswerter Weise Herrn Tillich und seine Politik in den wichtigen historischen Rahmen gestellt. Das begrüßen wir!
Auslöser unserer Polemik war ja nicht, dass Tillich sich wieder einmal nicht bereitfindet, die rechten Aktionen in seinem Bundesland ernsthaft zu verurteilen bzw. zu bekämpfen. Auslöser war vielmehr, dass Tillich ausgerechnet die demokratische Massenbewegung gegen Stuttgart 21, die oft antifaschistisch auftritt (obwohl das nicht ihr Thema ist), einer Mitverantwortung für die Clausnitzer und Bautzener Skandale beschuldigt. Das ist nun mal diese empörende, bei der deutschen Reaktion übliche dreckige Demagogie. Da mussten wir einfach Stellung nehmen. Vielleicht ist es tatsächlich leicht überzogen, deswegen seinen Rücktritt zu fordern. Denn was für Typen kommen nach ihm an die Macht?
Tillichs indiskutabler Vergleich zeigt zugleich auch seine Erklärungsnot. Den Hintergrund dafür hast Du zu Recht aufgezeigt: Dass Herr Tillich in den Fußstapfen des Herrn Biedenkopf steht, der als sächsischer Regierungschef seine ganze Verachtung gegenüber jedem Antifaschismus aus der „alten“ BRD nach Sachen, in die Ex-DDR mitbrachte. Dass gerade Biedenkopfs aus dem Westen stammende reaktionäre Politik den reaktionären Kräfte in Sachsen Auftrieb verschaffte. Es war die imperialistische Reaktion aus dem Westen, die den Neofaschismus im Osten entfesselte.
Wo die tieferen Gründe liegen, dass, „schon damals … der Neofaschismus eine nicht nur sehr mächtige, sondern vor allem weitgehend ungebremste Macht in Sachsen“ war, wie Du schreibst, das überschreitet sicherlich den Rahmen Deiner Korrespondenz, für die die Redaktion sich bedankt. Vielleicht können wir Dich ja einladen, sich an der Klärung der Frage zu beteiligen: Woran liegt´s, dass „nichts an den Ereignissen in Clausnitz oder Bautzen …in irgendeiner Weise neu“ ist „für die spezifisch sächsischen Verhältnisse“.
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