AZ hat den Prozess gegen die Recycling-Firma Envio seit seinem Beginn vor fast genau vier Jahren begleitet und über seinen Verlauf berichtet. Wir haben in dieser Zeit einige unerwartete Wendungen erlebt und sind trotzdem immer wieder überrascht, was die Justiz so alles zustande bringt.
Das Gericht hatte zuletzt vorgeschlagen, den Prozess einzustellen, da den Angeklagten eine Körperverletzung von 51 Envio-Beschäftigten (Vorwurf der Staatsanwaltschaft) nicht nachzuweisen sei. Die Einstellung hätte bedeutet, dass die beiden von ursprünglich vier noch verbliebenen Angeklagten nicht verurteilt worden wären, aber auch nicht freigesprochen wären. Ein Makel wäre also geblieben. Der Einstellung hätten alle drei Seiten – Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidigung – zustimmen müssen. Doch eine der drei Parteien stimmte nicht zu, so dass der Prozess weitergeht, und alles deutet darauf hin, dass die beiden Angeklagten dann freigesprochen werden – mangels Beweisen. Das ist zwar ein Freispruch zweiter Klasse, aber ein Freispruch. Die drei Richterinnen und Richter stimmten natürlich zu – schließlich war es ja ihr Vorschlag. Selbstverständlich stimmte auch die Verteidigung zu und überraschenderweise auch die Nebenkläger. In einer nichtöffentlichen Besprechung zeigten der Hauptangeklagte Dirk Neupert und seine Anwälte die Bereitschaft an, etwa 80.000 € Entschädigung an die Mandanten der Nebenklage zu zahlen.
Aus einer Gruppe linker ehemaliger Opel-Arbeiter in Bochum kam hier sofort die Frage: „Für jeden?“ Eine völlig berechtigte Frage, wie wir finden – aber nein: für alle 51 Nebenkläger zusammen. Also etwa 1500 € für jeden, das reicht gerade mal, um die lokale Tageszeitung vier bis fünf Jahre zu bezahlen. Danke, Herr Neupert – und dafür ein dauerndes Leben in Angst!
Vor allem eine junge Anwältin der Nebenklage hatte seit etwa Mitte 2014 die Aufgabe der Staatsanwaltschaft übernommen, die Körperverletzung durch Envio-PCB nachzuweisen – der Staatsanwalt war, wie Prozessbesucher bezeugen können, körperlich anwesend. Für viele Prozessbeobachter kam die Zustimmung der Nebenklage zur Verfahrenseinstellung überraschend. Ein Grund könnte sein, dass sie durch das Verhalten der Richterseite die Aussichtslosigkeit erkannt hatten und für ihre Mandanten wenigstens noch die Entschädigung herausholen wollten.
Entschädigung – wofür eigentlich? Angeklagt waren die ursprünglich vier ehrenwerten Herren wegen Körperverletzung, Umweltschädigung und Verstößen gegen Auflagen der Bezirksregierung. Die junge Anwältin der Nebenklage hatte jahrelang intensivst versucht, durch Hinzuziehung zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen, medizinischer Gutachten, Sachverständiger usw. die Körperverletzung nicht nur ihrer Mandanten durch das Gift PCB von Envio nachzuweisen – die drei Richterinnen und Richter schmetterten alles ab. Wofür also eine Entschädigung der Nebenkläger durch Herrn Neupert? Da muss man doch eine Begründung angeben und Körperverletzung können wir ja nun nicht nennen, die würden wir ja dann zugeben.
Tja, wir wissen nicht, was sich unsere Leser(innen) jetzt vielleicht ausdenken, aber den Verantwortlichen fiel etwas ganz Tolles ein: eine Entschädigung für die Belastung der 51 ehemaligen Envio-Beschäftigten durch die lange Prozessdauer! Jawoll! Es ist unglaublich: da bemüht sich eine Anwältin jahrelang so intensiv, wie man es sich nur vorstellen kann, Beweise für eine Körperverletzung ihrer Mandanten durch die Angeklagten nachzuweisen und alles wird abgeschmettert. Das ist die eine Seite. Und die andere? Es gibt von Seiten der 51 Nebenkläger kein einziges ärztliches Attest, kein einziges psychiatrisches Gutachten über Schlafstörungen, Verdauungsprobleme o.ä. bei auch nur einem Nebenkläger! Und wenn doch, dann müsste ja erst einmal nachgewiesen werden, dass diese Beschwerden durch die lange Prozessdauer verursacht wurden und nicht durch „ungesunde Lebensumstände“!
Dieser Widersinn zeigt, dass die Begründung für die Entschädigung nur gegeben wurde, weil man ja eine geben musste, und in Wirklichkeit an den Haaren herbei gezogen ist.
Nun wird die/der Leser/in uns zu Recht vorwerfen: „Ja, seid Ihr denn bescheuert? Ihr gefährdet doch damit die Auszahlung der Entschädigung!“
So „bescheuert“ sind wir natürlich nicht, und wenn wir das jetzt so offen schreiben, schwant Euch wahrscheinlich schon Schlimmes und Ihr habt leider Recht mit Eurer Befürchtung: Zuhörer des Prozesses fragten am Ende eines Januar-Termins Anwälte der Nebenklage: „Ist eigentlich die Entschädigung von 80.000 Euro noch im Gespräch?“ Ihre Antwort war knapp und bestand aus nur drei Worten: „Nein, keine Chance!“ Und das Ausrufezeichen hörte man…
Wir hatten das kommen sehen, aber da wir doch noch Hoffnung auf einen anderen Ausgang hatten, haben wir den oben aufgezeigten Widersinn bisher noch für uns behalten. Ursache für die Nichtzahlung könnte sein, dass der Prozess nicht eingestellt wurde und die Angeklagten sich daher nicht an ihre Inaussichtstellung einer Entschädigung gebunden fühlen.
Wir sind keine Rechtsexperten, aber wir verstehen Leute, die nun sagen:
Dann hat die Art, wie die Staatsanwaltschaft den Prozess führte, nicht nur dazu geführt, dass die Angeklagten in einem der größten Umweltskandale Deutschlands freigesprochen wurden, sondern auch dazu, dass die PCB-Geschädigten nicht einmal eine geringe Entschädigung bekommen!
Wie schon geschrieben, wir haben immer wieder unerwartete Wendungen des Prozessverlaufes erlebt, bisher nur negative. Das einzige Positive ist, dass er immer noch läuft. Unsere Phantasie ist nicht verkommen genug, um sich auszumalen…
Mit diesem Satz wollten wir den Artikel eigentlich beenden. Aber wir fügen doch noch an:
Der Dichter Ernst Toller schrieb einmal anlässlich des Todes von Genossen: „Schmerz, gebäre Tat!“
Wir möchten das umformulieren in „Wut, gebäre Tat“!