Seit Beginn des Prozesses im Mai 2012 sah es immer wieder so aus, als stünde ein für die Betroffenen unbefriedigendes Ende unmittelbar bevor. So war es auch diesmal: der Prozess sollte im Dezember zu Ende sein. Doch wieder einmal kam es anders: Er geht zumindest noch bis Ende April 2016 weiter. Kaum einer der PCB-Geschädigten, kaum jemand aus der Bürgerinitiative hat noch Hoffnung, dass es in einem der größten Umweltskandale Deutschlands zu einer Verurteilung der noch übriggebliebenen zwei (von ehemals vier) Angeklagten kommt. Hauptpunkte der Anklage sind Körperverletzung in 51 Fällen, Umweltschädigung und Verstöße gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg. Die beiden letztgenannten Punkte bildeten auch die Grundlage für die verfügte Schließung der Recycling-Firma im Jahr 2010 – sollten sie fallen, stufen wir den Hauptangeklagten und seine Anwälte moralisch so ein, dass sie eine Schadensersatzklage für die „Rückerstattung“ entgangener Profite erheben könnten.
Die drei Richter und Richterinnen lassen keinen Zweifel daran, dass ihrer Auffassung nach eine Körperverletzung nicht nachgewiesen werden kann, es also in diesem Punkt keine Verurteilung geben wird, sondern einen Freispruch. Die Verseuchung des Bodens durch Envio wird von der Verteidigung ebenfalls bestritten, da schon vor 2003 (Envio-Start) auf dem Gelände PCB-haltiges Material bearbeitet wurde und es außerdem in der Nähe des Firmengeländes auch andere PCB-Quellen geben könnte. Und Nichteinhaltung der Auflagen? Da müsste erst einmal „belastbar“ nachgewiesen werden, dass die abweichend angewendeten Methoden schlechter sind als die vorgeschriebenen…
Die Verteidigung und die Nebenkläger waren bereit, dem vom Gericht gemachten Vorschlag auf Einstellung des Verfahrens zuzustimmen (siehe AZ 5-2015). Nur der Staatsanwalt sträubt sich: Er beharrt auf Körperverletzung, obwohl (oder weil?) er weiß, dass dieser Anklagevorwurf vom Gericht zurückgewiesen werden wird. Objektive, aber nicht neutrale Prozessbeobachter fragen sich: Warum? Sie haben eine Vermutung: Eine Einstellung des Verfahrens bedeutet für den angeklagten Firmenchef Neupert keinen Freispruch und es bleibt dann immer ein Makel an ihm hängen. Aber das Beharren auf der Körperverletzung führt dann zumindest in diesem Anklagepunkt zu einem Freispruch „mangels Beweisen“ – das ist zwar ein Freispruch zweiter Klasse, aber immerhin ein Freispruch…
Eine nicht nur für die Envio-Beschäftigten und Anwohner, sondern für alle Dortmunder wichtige Frage ist auch noch: Wer kommt für die bei der Dekontaminierung des Firmengeländes entstehenden Kosten auf? Aus langjähriger Erfahrung weiß natürlich jede geneigte Leserin, jeder geneigte Leser, wer das wieder einmal sein wird…
Da sollte man ja mal z.B. an das Verursacher-Prinzip denken. Doch da tun die unseres Erachtens Schuldigen einiges, um die Verwirrung und Undurchschaubarkeit zu erhöhen. Wie im Oktober 2015 bekannt wurde, hat das Envio-Gelände im April desselben Jahres – von der Öffentlichkeit unbemerkt – den Besitzer gewechselt. Das Envio-Firmengeflecht ist für Uneingeweihte sowieso nicht leicht durchschaubar, mehrere Teilgesellschaften mit Sitz in Dortmund, Hamburg und eventuell noch anderswo, einige von ihnen inzwischen insolvent – bei dieser Verschachtelung „ohne Leitliniensystem“ können Verantwortlichkeiten problemlos vernebelt werden. Für das Firmengelände verantwortlich ist z.B. eine „Envio Grundbesitz Holding GmbH“. Und die gehört nun seit letztem April einem gewissen Michael Flacks bzw. dessen internationaler „Flacks Group“ mit Hauptsitz in Miami (USA). Das heißt, so richtig gehört ihm das Gelände noch nicht, denn der Vertrag ist zwar unterschrieben, aber unseres Wissens nach ist das Geld dafür noch nicht gezahlt. Wer ist Michael Flacks? WDR-Mitarbeiter Kay Bandermann, der den Envio-Skandal seit Jahren objektiv (!) „begleitet“, charakterisiert ihn so: „Michael Flacks ist spezialisiert auf Firmen, die in Schwierigkeiten sind, aber versteckte Werte haben.“ Aha, das Gelände ist etwa 5 Hektar groß und besitzt – saniert ! – in der Dortmunder Innenstadt dann einen enormen Grundstückswert.
Die Verantwortlichen (!!! – jawoll, das seid ihr!) der Stadt Dortmund machen sich über die Sanierungskosten keine Sorgen. Die Firma, der das Gelände gehört, existiert noch, sie hat nur den Besitzer gewechselt. „Aber ist das denn realistisch,“ fragt sich nicht nur die WDR-Kommentatorin, „dass man von einer US-Firma das Geld einklagt – das ist doch schon bei deutschen Firmen enorm schwer.“
Kay Bandermann wies auf einen anderen Aspekt hin: In den vier Jahren seit Prozessbeginn und in der Zeit davor sind zahlreiche sehr umfangreiche schriftliche Gutachten erstellt worden, die nicht nur für die US-amerikanischen Juristen ins Englische übersetzt werden müssen, sondern die auch inhaltlich von denen verstanden und bearbeitet werden müssen – also eine weitere Verschnaufpause für die Angeklagten. Sollte es dann irgendwann zu juristischen Auseinandersetzungen über die Sanierungskosten kommen, dürften die sich auch noch Jahre hinziehen. Vielleicht sterben ja bis zum bösen Ende auch noch ein paar Nebenkläger weg – natürlich nicht wegen PCB, sondern wegen ihrer „höchst ungesunden Lebensumstände“, die Verteidiger Neuhaus „plausibel“ als Erklärung annahm? Recht hat er ja, nur er vergaß hinzuzufügen, dass gerade wegen der höchst ungesunden Lebensumstände sein Mandant auf der Anklagebank sitzt!