Antifaschistisch-demokratische Kultur erobert sich Mozart!
Der große Saal des Theaterhauses Stuttgart war sehr gut gefüllt! Mehrere Hundert Zuhörer/innen, multinational zusammengewürfelt, erlebten eine ganz ungewöhnlich bearbeitete, begeisternde Mozart-Oper, die sich um die Not und das Elend heutiger Flüchtlinge dreht.
Mehr noch, dem Ensemble gehören selbst viele Geflüchtete an. Nach einem anrührenden, von einem afghanischen Flüchtling, Mitglied des Ensembles, geschriebenen afghanischen Liebeslied, nach der düster gefärbten, aber energisch gespielten originalen Ouvertüre setzen sie mit Mozarts Eröffnungschor gleich einen kämpferischen Akzent:
„Brüder, lasst uns mutig sein,
trotzet tapfer den Beschwerden,
denkt, es ist der Fluch auf Erden:
Jeder Mensch hat seine Pein….“
Was hat Mozart mit den heute geflüchteten Menschen zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Aber gerade mit Geflüchteten aus Afrika und dem mittleren Osten und Musikern und Sängern aus Deutschland hat sich das gemeinsame Opernprojekt zwecks Integration politisch Verfolgter zusammengefunden, zum Chorprojekt „Zuflucht“ des Vereins Zuflucht Kultur e.V. Bereits zum zweiten Mal (nach „Cosi fan tutte“ 2014) hat dieses Ensemble fortschrittlicher, demokratischer Kultur eine Oper von Mozart aktualisiert. Profi-Musiker des Orchesters „Ensemble Zuflucht“, Mitglieder der Münchner Philharmoniker, des Bayerischen Staatsorchesters, der Augsburger Philharmoniker, des Theaters Ulm und der Staatsoper Stuttgart, Opernsängerinnen und Sänger um die Sopranistin Cornelia Lanz spielen und singen hier ehrenamtlich. Sie treffen auf eine arabische Band, Tänzer treffen auf eine afrikanische Choreografin, und so wird die Mozartoper zu einer starken Brücke der Integration. Das Unternehmen will auf ganz eigene Art Bewusstsein für die Erfahrungen von Geflüchteten schaffen.
In Mozarts Opernfragment Zaide von 1780 geht es um eine junge Frau, die in ihrer Heimat nicht den Mann lieben darf, den sich ihr Herz ausgesucht hat. Beide beschließen zu fliehen. Sie verlassen ihr Land und begeben sich auf eine Reise in eine hoffentlich freiere Welt, scheitern aber…..
Dieses Textfragment der Mozartoper wurde in enger Zusammenarbeit mit den geflohenen Künstlern aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Nigeria umgeschrieben. Es geht nun um die Flucht aus dem eigenen Land und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Konsequenzen: Was bedeutet es, die Familie, die Kultur, die Heimat zurücklassen zu müssen? Und was passiert Geflohenen, wenn sie in einem fremden Land angekommen sind? Wie reagiert die Gesellschaft auf den übermächtig erscheinenden Flüchtlingsstrom?
Und welche Rolle spielt dabei eine der schönsten Arien der Geschichte, in der Zaide ihren schlaflosen Geliebten Gomaz zur Ruhe bettet? Eine überzeugende Antwort dieses Abends: Mozarts großartige, hier tiefernste, manchmal dunkle Musik, stark gespielt und gesungen, verzaubert Menschen auch in solch einem Zusammenhang und beweist: Mozart gehört unbedingt zur fortschrittlichen Kultur der Menschheit. Der US amerikanische Theater-Regisseur Peter Sellars zum Zaide-Fragment: „Die Musik vibriert geradezu von Mozarts glühender Überzeugung der Notwendigkeit sozialen Wandels, von avantgardistischer Erneuerung der Formen und einer tief anrührenden Zärtlichkeit.“
Absurd komisch wird im zweiten Akt – wie in einem Alptraum – alles umgedreht. Nun fliehen die beiden Protagonisten als Europäer aus einem kriegsgebeutelten Europa in ein arabisches Land, das von dem aus dem Zaide-Personal entliehenen Potentaten, dem Sultan Soliman und seinen Schergen beherrscht wird. Plötzlich verstehen alle Deutschsprachigen im Publikum und die beiden Flüchtlinge auf der Bühne nur noch Bahnhof. Arabische Befehle, Flüche, Verwünschungen, Polizeischikanen fetzen den beiden um die Ohren. Hungrig am Straßenrand zwischen Fast-Food-Müll lagernd, erleben sie eine arabischsprachige TV-Kochshow mit, über die etliche arabischsprachige Zuschauer/innen, darunter auch Schüler/innen herzlich lachen!
Ganz aktuell und natürlich ganz anders als in Mozarts Oper werden die beiden Flüchtlinge von vielen anderen Flüchtlingen begleitet.
Für die beiden und diese Flüchtlinge geht das Spiel nicht gut aus. Die Polizei des Sultan Soliman geht brutal gegen sie vor, und sie verschwinden eine nach dem anderen, auch Zaide und Gomaz, im bedrohlich düsteren Bühnenhintergrund, abgeführt mit nach hinten verdrehten und geknebelten Armen! Mozarts dynamische, mal drohende, mal traurige oder melancholische Musik ist selbst hörbar Teil dieses Dramas…
Für nicht mehr und nicht weniger als eine humane Begegnung mit Geflüchteten und damit für einen streitbaren Antifaschismus engagiert sich der Verein Zuflucht Kultur e.V.. Er will Mut machen für interkulturelles Miteinander. Diese Zaide ist ein großartiges Beispiel dafür. Lang anhaltender, enthusiastischer Beifall! Unvermittelt wie anrührend begann das Ensemble dann, leise Beethovens Ode an die Freude zu spielen und zu singen. Viele im Publikum schlossen sich an und sorgten für einen gemeinsamen Abschluss dieses beeindruckenden Abends.
Der Verein Zuflucht Kultur e.V., und seine KünstlerInnen traten unter anderem auf Anti-Pegida-Demos, bei Amnesty International, Oxfam Deutschland, Women of the World, im Jüdischen Museum Berlin und im Deutschen Bundestag Berlin und beim Bundespräsidenten auf. Die Sendung „Die Anstalt“ (ZDF) erhielt für den Auftritt des syrischen Flüchtlingschores den Grimmepreis 2015 „für den Moment der Echtheit und Wichtigkeit“.
Ft
Flüchtlingschor in „Die Anstalt“:
https://www.youtube.com/watch?v=RCFmJ5d85Ek
Offizieller Trailer des Projektes Zaide hier.