Migration: das schlechte Gewissen Europas

 

Seit Januar 2015 sind mehr als 350.000 Flüchtlinge und Migranten über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Fast 2.500 haben dabei ihr Leben gelassen, ertrunken, schiffbrüchig, von Zügen überfahren oder in Lastwagen wie in Särgen erstickt.

Bis dass die neuen Dramen des Monats August allen in Erinnerung riefen, dass nichts und niemand diese Tausende von Frauen, Männern und Kindern daran wird hindern können, alles zu riskieren, einfach in der Hoffnung zu überleben, was auch immer der Preis dafür ist.

Seit Monaten versuchen die europäischen Staatsmänner, zu einer Einigung über eine Antwort auf diesen ununterbrochenen Zustrom an Migranten zu geben, der im Laufe der letzten 15 Jahre ständig zugenommen hat. Jedermann ist sich heute darin einig, dass die Situation des Kriegs und des Elends, die im Nahen Osten und in Afrika (am Horn von Afrika, aber auch in West- und Zentralafrika) herrscht, die Hauptursache dieser nie dagewesenen Migration ist. Aber auf EU-Ebene will niemand dafür die politische Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus gilt es, sich die „Last“ ihrer Aufnahme zu teilen, um Italien und Griechenland, die Haupteinreiseländer, zu „entlasten“. Aber von 40.000 im Juni ist die Zahl der Migranten auf mehr als 120.000 gestiegen, die man unter die 28 (EU-Staaten) aufteilen muss. Von daher rührt die Verhärtung der Positionen. Zwischen den Anhängern der „freiwilligen“ oder der „verbindlichen“ Quoten und denen, welche sie kategorisch ablehnen (Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien, baltische Staaten) und dafür ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme oder die Feindseligkeit der öffentlichen Meinung vorbringen, ist der Dialog am Totpunkt angelangt und es ist keine globale Lösung in Sicht. Indem sich Deutschland, das allein schon fast 800.000 Asylbewerber aufnimmt, Ende August in die Einführung der verbindlichen Quoten eingereiht hat, will es Druck auf die europäischen Partner ausüben, ihren Teil der Last auf sich zu nehmen. Eine speziell an Frankreich gerichtete Botschaft, das bis jetzt die Idee der „freiwilligen Aufteilung“ verteidigt hat und nicht mehr als 60.000 Flüchtlinge auf seinem Boden aufnehmen will. Wenn jedoch ein europäisches Land Verantwortung auf diesem Gebiet übernehmen muss, dann ist es Frankreich, dessen Monopole Areva, Bouygues oder Bolloré ungeniert die Reichtümer Afrikas plündern und Tausende von Migranten auf die Straße werfen, die dem Elend entfliehen. Frankreich, das bei allen Kriegen, in Afghanistan, Syrien, dem Irak und Libyen, aber auch in Mali und Zentralafrika… dabei ist im Namen des Krieges „gegen den Terrorismus“, und das fortfährt, Waffen an reaktionäre Regimes zu verkaufen. Die von M. Valls (frz. Premierminister – d. Über.) gemacht Ankündigung, ein Camp mit 1.500 Plätzen für die Flüchtlinge von Calais zu errichten, gleicht einer Provokation, da schon mehr als 3.000 auf eine hypothetische Überfahrt nach England warten.

Und dann gab es dieses Foto eines syrischen Kindes aus Kobane, gestrandet auf dem Sand eines türkischen Touristenstrandes, ertrunken mit seiner Familie beim Versuch, nach Griechenland zu kommen. Von den sozialen Netzen, aber auch von den auflagenstarken Tageszeitungen der europäischen Länder verbreitet, ist es um die Welt gegangen und hat eine Welle von Emotionen ausgelöst. Jenseits des manchmal widerwärtigen Gebrauchs, der von der Rechten und extrem Rechten, aber nicht nur, gemacht werden konnte, hatte es einen Verdienst: den, die Regierung Hollande in Bewegung zu bringen, die sich gezwungen sah, Beweise zu liefern, dass sie sich bewegte, während sie bis dahin ständig Grenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten setzte, indem sie zwischen Repression, Abschiebung, Nichtanwendung des Asylrechts und Übernahme von nur einem Minimum unter dem Vorwand, man könne nicht das ganze Elend der Welt aufnehmen, jonglierte.

Es dreht sich jetzt nicht mehr darum, über die Zweckmäßigkeit zu debattieren, ob Flüchtlinge aufgenommen werden oder nicht, auch nicht um die wirkungsvollsten Methoden der Vermeidung. Kein Meer, kein Stacheldrahtzaun, keine Mauer, kein Charterflug noch irgendein Gesetz kann diese noch nie dagewesene Migrationswelle aufhalten, wenn sich die Bedingungen, die sie hervorrufen, nicht ändern. Ob sie es wollen oder nicht, diese Realität setzt sich gerade durch und die europäischen Spitzenpolitiker, besonders Hollande, müssen wohl mit ihr umgehen.

 

Unsere Forderungen:

 

Mitgefühl, Scham, Furcht, aber auch Wut angesichts der unmenschlichen Behandlung der Migranten und Flüchtlinge durch die EU, das sind die gemischten Gefühle, welche die Diskussionen durchziehen, seit man sich mit dieser Frage auseinandersetzt. Aber es ist auch von der Solidarität, dem täglichen Einsatz von hunderten Aktivisten oder einfacher Bürger die Rede, um ihnen ein Minimum an Hilfe und Würde zukommen zu lassen und die fehlende Übernahme von Verantwortung durch den Staat wettzumachen, wie es seit Jahren in Calais zu sehen ist. Oder wie es konkret die Tausende einfacher Menschen in Deutschland und Österreich zum Ausdruck brachten, die spontan am Bahnhof zusammen gekommen sind, um die syrischen Flüchtlinge zu empfangen, die per Zug von Ungarn weggeschickt worden sind, und ihnen ihre Gastfreundschaft anboten. Eine direkte Antwort auf die fremdenfeindlichen Reden und die Abschottungspolitik, die von der extremen Rechten, aber auch von denen, die die Völker gegen einander aufhetzen und spalten wollen, transportiert werden.

 

Deshalb fordern wir:

  • eine geziemende Aufnahme aller Flüchtlinge und Migranten und die materiellen und menschlichen Mittel, um ihnen den Neubeginn ihres Lebens zu gestatten.

  • Die Achtung des Prinzips des Asylrechts für alle Flüchtlinge, besonders der syrischen, auf effektive und nicht selektive und diskriminierende Weise.

 

Es ist klar, dass die Antwort nur humanitär sein kann, dass sie vor allem politisch ist.

Ebenso, wie die Streikbewegung der „Sans-papiers“ 1) es erlaubte, das Bewusstsein darüber voranzubringen, dass diese, bevor sie „Sans-papiers“ sind, zuerst Arbeiter sind und aus diesem Grund die gleichen Rechte haben müssen wie alle Arbeiter, bringt die massive Ankunft von Migranten und Flüchtlingen das Bewusstsein über die Verantwortlichkeit der westlichen imperialistischen Länder, voran USA und Frankreich, die Hauptverursacher von Krieg und Elend, voran. Eine Arbeit der Bewusstseinsbildung, die es zu verfolgen und zu verstärken gilt über die Kritik an der Kriegspolitik von Hollande in Afrika und im Mittleren Osten, seiner geheimen Absprachen mit den reaktionären Golfregimes und der Fortführung des „Francafrique“ 2); eine Politik der Verteidigung der Interessen der französischen Monopole und Bourgeoisie gegen die Arbeiter und die Völker.

 

Deutschland

 

Angela Merkel öffnet den Migranten die Tür.

Anlässlich des europäischen Gipfels über den Balkan, hat Angela Merkel, die doch wenig bekannt für ihre zu große Nachgiebigkeit in Sachen Anwendung des europäischen Rechts ist, gefordert und ihrer konservativen Partei CDU aufgenötigt, sich über die strikte Anwendung der Dubliner Konvention hinwegzusetzen, welche die Stellung des Asylantrags im Ankunftsland verlangt, dabei eine Bestimmung, die Deutschland bevorzugt, das kein Land der Erstaufnahme ist. Wenn der Hauptteil der Asylanträge immer noch im Land der Erstaufnahme gestellt wird, das heißt in denen, wo die Migranten in den Schengen-Raum kommen (hauptsächlich Griechenland und Italien), so werden doch immer mehr Anträge in den Ländern, die für die Qualität der Aufnahme bekannt sind und wo die Chancen, den Flüchtlingsstatus zu bekommen, größer sind (Deutschland und Schweden). Während Merkel vor dem Sommer in den Augen eines Teils der öffentlichen Meinung in Europa wegen ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber Griechenland als die Totengräberin der EU galt, wird sie heute gelobt für ihre Parteinahme in der Flüchtlingskrise. Angesichts der migrantenfeindlichen Demonstrationen der extremen Rechten schlug sie zurück und erklärte, dass der „Islam zu Deutschland gehört“. Sie hat ihre Mitbürger aufgefordert, “Geduld“ und „Geschmeidigkeit“ zu beweisen. Aber sie hat vor allem die Initiative ergriffen, die Einführung von „verbindlichen“ Quoten für die Aufteilung der Flüchtlinge in Europa zu fordern, wie es im Mai von der Kommission vorgeschlagen worden ist; ein Vorschlag, den sie damals ablehnte. Sie hat damals sogar Druck auf ihre Partner ausgeübt, es gleich zu tun, und ging so weit, die Zukunft des Schengenraums der Freizügigkeit des Personenverkehrs in die Waagschale zu werfen, was seitdem jedes Land verpflichtet, den Zustrom von Flüchtlingen auf seinem Boden aufzunehmen.

Eine solche „moralische“ Haltung, von einer Konservativen kommend, kann erstaunen, umso mehr, als Deutschland allein im ersten Halbjahr 2015 etwa 800.000 Asylbewerber verzeichnete, gegenüber 60.000 in Frankreich… Freilich, für Deutschland, das mit der Herausforderung einer ungünstigen Demographie konfrontiert ist, ist die Immigration eine Chance, die ergriffen werden muss, um den Erhalt seiner Wirtschaft zu sichern und den Konsum anzukurbeln. Die Unternehmer haben es wohl begriffen und die Mehrheit der politischen Parteien und Gewerkschaften haben sich angeschlossen. Aber jenseits der gut verstandenen Interessen der deutschen Bourgeoisie entspricht die Position von Merkel auf pragmatische Weise einem Problem, das sich stellt und das man lösen muss. Nun, alles soweit in die Tat umzusetzen, um daraus den Höchstprofit zu erzielen. Und die Asylbewerber werden sich nicht darüber beklagen!

 

1) Einwanderer ohne gültige Ausweispapiere

 

2) französische Politik gegenüber den afrikanischen Ländern, die ehemals französische Kolonien waren und immer noch in wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit von Frankreich sind. In diesen Ländern gilt die an den Kurs des Euro gebundene Währung CFA.

 

aus „La Forge“, Sept. 2015, Zeitung der Komm. Arbeiterpartei Frankreichs (PCOF)