Wir baten einen Genossen, Mitglied der EMEP, uns die Frage der nächsten Parlamentswahlen vom Juni in der Türkei zu erklären. Emep befindet sich im Wahlbündnis mit der kurdischen Partei HDP und ruft zur Wahl ihrer Kandidaten auf. Sie hat das auch bei den letzten Wahlen gemacht und Levent Tüzel, früherer Vorsitzender der EMEP, wurde zum Abgeordneten gewählt. Er stellt sich dieses Mal wie auch mehrere andere Mitglieder der EMEP, zur Wahl.
Wahlen in Form eines Referendums gegen die diktatorischen Anwandlungen von Recep Tayyip Erdogan
Am 7. Juni finden der Türkei reguläre Parlamentswahlen statt. Nach den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen vor einigen Monaten finden diese Wahlen in einem Umfeld statt, dass sie zum kritischsten Entscheid der ganzen Gegenwartsgeschichte der Türkei werden lässt. In der Tat ist die islamistische Regierung, die den Muslimbrüdern nahesteht und seit 2002 an der Macht ist und ihr Chef Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Republik geworden ist, nahe daran, 400 Sitze zu gewinnen, das sind mehr als 2/3 der Nationalversammlung. Dieses Ergebnis würde es ihnen gestatten, die Verfassung mit dem Ziel zu ändern, „ein Präsidialsystem“ zu errichten. Während die Regierung jede Kritik und Opposition täglich mehr unterdrückt und kriminalisiert, hat sie über ein die Freiheit bedrohendes Gesetz zur inneren Sicherheit im Sinne eines Polizeistaats abstimmen lassen; dieses neue Regime, das sie errichten wollen, wäre ein weiterer riesiger Schritt hin zu einem diktatorischen Regime eines einzigen Mannes und einer einzigen Partei. Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung haben auch bei den vorangegangenen Wahlen immer stärker eine Opposition heraufbeschworen; die Kampagne für diese Parlamentswahlen zieht sich mehrere Wochen hin als eine Art Referendum für oder gegen diese diktatorischen Anwandlungen.
Das Bündnis, das um die HDP hergestellt wurde, kann die Bestrebungen Erdogans verhindern
In diesem Zusammenhang hat die Demokratische Volkspartei (HDP) beschlossen, sich als Partei an den Wahlen zu beteiligen, nachdem sie ein Bündnis mit den fortschrittlichen Kräften des Landes geschlossen hat. Bei den letzten Parlamentswahlen hatte das Wahlbündnis der fortschrittlichen und demokratischen Kräfte „unabhängige Kandidaten“ aufgestellt, um das Quorum von 10%, das politische Parteien erreichen müssen, zu überspringen. 36 Abgeordnete wurden gewählt. Diese Abgeordneten waren die Hauptkraft der Opposition gegen die AKP-Regierung und ihre Arbeit wurde von vielen, die gegen die islamistische Regierung sind, geschätzt.
Dieses Mal hat die HDP sich entschieden, als Partei zu kandidieren, denn der Kontext erlaubt es, die Frage des Wahlquorums als eine der wichtigsten demokratischen Fragen zu stellen, und vor allem, sehr breite Teile der Bevölkerung um die demokratischen Kräfte herum mobilisieren zu können.
Tatsächlich verlangt das Wahlgesetz seit dem faschistischen Staatsstreich von 1980 von den Parteien ein Quorum von 10% zu überschreiten, um Kandidaten für die Nationalversammlung wählen lassen zu können. Wenn eine politische Partei dieses Quorum nicht überschreiten kann, werden ihre Stimmen auf sehr ungleiche Art zugunsten der ersten Partei aufgeteilt. Konkret heißt das: wenn die HDP die 10% nicht übertrifft, wird sie nicht nur keinen Vertreter haben, um die Demokratie und Freiheit zu verteidigen, sondern ihre Millionen Stimmen werden auch noch zugunsten der AKP aufgeteilt. Das macht rechnerisch die von Erdogan so ersehnten 400 Abgeordneten möglich, um sein Präsidialsystem zu errichten.
Diese Frage des Quorums stellt sich also nicht nur allen demokratischen Kräften, die ein Wahlbündnis mit der HDP geschlossen haben, sondern ganz allgemein allen, die gegen die diktatorische Macht, welche die AKP errichten will, sind, einschließlich derer innerhalb der türkischen Bourgeoisie. Die Tatsache, zu wissen, ob die HDP das Quorum von 10% überschreiten kann oder nicht, ist also eine Frage, die heute die öffentliche Meinung fokussiert, insbesondere in den unteren Klassen, die immer besser das wahre Gesicht der AKP erkennen, je mehr sich die wirtschaftliche Krise am Horizont abzeichnet.
Bei zahlreichen türkischen Bürgern, die bis jetzt zögerten, die HDP oder eine ihrer Verbündeten zu wählen, hauptsächlich wegen der Kurdenfrage, stellt sich heute die Frage anders. Die HDP wird zu Recht von Millionen Bürgern als die Hauptkraft betrachtet, die eben verhindern kann, dass die AKP eine Diktatur errichtet. Zusätzlich zur traditionellen Mobilisierung des kurdischen Volks mobilisiert die HDP heute zunehmend Arbeiter, Angestellte, Angehörige von der islamistischen Regierung unterdrückter religiöser Minderheiten, insbesondere Aleviten, Frauen, Gewerkschafter…
Nicht zufällig zeigen alle erstellten Statistiken, auch die der Regierung, dass die HDP das Quorum übertrifft. Sicher, es sind noch einige Wochen bis zum schicksalhaften Datum 7. Juni, umso mehr als die von der HDP und ihren Verbündeten geführte Kampagne die Regierung, und besonders Erdogan, zusehends rasend macht. Nach so vielen Unterschlagungen, so viel Korruption auf allen Ebenen, wissen sie, dass eine Wahlniederlage unvermeidlich ihr Ende beschleunigen wird.
Ihre Äußerungen in Bezug auf die HDP sind so gewalttätig und hasserfüllt geworden, dass circa fünfzig Angriffe, manchmal mit Schusswaffen, gegen die Büros der Partei stattgefunden haben. Die Mitglieder der HDP werden auf der Straße bei Attacken, die von örtlichen Chefs der AKP organisiert werden, mit Hieb- und Stichwaffen angegriffen – Videos beweisen das. Die Regierung hat sogar Soldaten zum Kampf gegen die Kämpfer der PKK, die sich zurückgezogen haben, entsandt, weil sie wissen, dass einige tote Soldaten die öffentliche Meinung gegen die HDP mobilisieren könnten. Zum Glück konnten die Auseinandersetzungen begrenzt werden und ihr Plan funktionierte nicht. Das zeigt, dass sie zu allem bereit sind, um militärische Auseinandersetzungen zu provozieren und einen „inneren Feind“ ins Leben zu rufen, um die öffentliche Meinung in ihrem Umfeld zu mobilisieren. Aber diese Methoden sind schon seit langem bekannt und die Kräfte des Friedens und der Demokratie werden nicht in diese Falle tappen.
Übersetzung aus „La Forge“, Zeitung der Komm. Arbeiterpartei Frankreichs, Mai 2015