Rund 650 (!!) Teilnehmer/innen aus verschiedenen Gewerkschaften, Branchen und Regionen nahmen vom 2. bis 4. Oktober 2014 an der Konferenz „Gemeinsam Strategien entwickeln. Konflikte führen. Beteiligung organisieren – Erneuerung durch Streik II“ im Kulturzentrum Pavillon in Hannover teil. Ver.di Hannover hatte das Treffen zusammen mit der Rosa-Luxemburgstiftung organisiert.
Bemerkenswert in vieler Hinsicht!
Nach der ersten Konferenz 2013 in Stuttgart präsentierte sich die Gewerkschaftslinke immer jünger. Jeanine Geissler (stellvertretende Geschäftsführerin von ver.di Hannover oder Jan Seppelt von ver.di Stuttgart, Dirk Schulze, erster Bevollmächtigter der IG Metall Hannover – das sind junge Gesichter. Das setzte sich in zahlreichen Workshops fort. Jüngere Kolleginnen und Kollegen leiteten Seminare und Workshops.
Vor dem Streik das Organisieren!
Oft stand in Hannover das einheitliche Thema „Erneuerung durch Streik II“ gar nicht so sehr im Vordergrund. Denn vorm Streiken liegt heute in unzähligen Betrieben und Regionen der Industrie, des Handels, des öffentlichen Dienstes, in den krebsartig ausgreifenden prekären Beschäftigungsbereichen das „Organizing“, die Notwendigkeit, Menschen in zäher, oft aufopferungsvoller Kleinarbeit zu organisieren, zu gewinnen, zu überzeugen. In vielen Betrieben ist der Organisationsgrad niedrig, zu niedrig , was in etlichen Beiträgen in den oft sehr lebendigen Workshops zur Sprache kam.
Breites, internationales Themenspektrum
Das Themenspektrum ist sehr breit. Den Auftakt am 2. Oktober machte ein internationales Podium „Streiken unter prekären Bedingungen“: Vorgestellt wurden wichtige Beispiele gewerkschaftlichen Organisierens, Streikens sowie neue Kampfformen wie Flashmobs und anderes in prekären Berufen: Kinoangestellte aus London (Ritzy Cinema), Streiks im Gebäudereinigungsgewerbe in den Niederlanden, die Gewerkschaft der Hausbediensteten innerhalb der türkischen Gewerkschaftsföderation DISK waren auch emotional anrührende Beispiele.
Nebile Irmak Çetin von DISK Istanbul, die das letzte Thema vorstellte, widmete einen Teil ihrer Zeit auch dem kurdischen Befreiungskampf um Rojava und der gerade entbrannten verzweifelten Abwehrschlacht der Menschen von Kobanê. gegen den barbarischen IS. Gleich nach Abschluss dieser ersten Abendveranstaltung nahmen zahlreiche Kongressteilnehmer spätabends auch an der spontanen Demo rund 2500 Menschen im nächtlichen Hannover gegen das IS-Massaker in Kobanê sowie gegen die mehr oder weniger offene Unterstützung des IS durch den US-Imperialismus und seine NATO-Verbündeten teil.
3. Oktober ist kein Thema
Am Freitag, 3. Oktober, dem „Nationalfeiertag“, an dem am nicht weit entfernten Hannoveraner Masch-See Merkel und Gauck zum Einheitsfest und –besäufnis luden, ging die Konferenz weiter, ohne sich darum zu kümmern. Vielmehr blieb auch an diesem Tag die von Krieg, Verwüstung und Flüchtlingsströmen geprägte Weltlage, an der Merkel und Gauck ihren Teil an Verantwortung tragen, im Bewusstsein. Wie schon am Eröffnungsabend ging es immer wieder sehr emotional zu. Unmittelbar gegenüber dem Tagungsort, auf einem kleinen Platz, löste das Camp afrikanischer, um ihr Bleiberecht ringender Flüchtlinge, vorwiegend aus Süd-Sudan, unter den Konferenzteilnehmer/innen starke Solidarität aus.
Große Empörung erregte deshalb im Plenum die Nachricht, dass am Vortag die Berliner Polizei über 20 Geflüchtete und Unterstützer aus dem Gewerkschaftshaus am Wittenbergplatz geräumt, und zwar auf Geheiß des DGB Berlin! Die Geflüchteten hatten im DGB-Haus eine Woche zuvor Zuflucht gesucht. Der Vorstand des DGB Berlin-Brandenburg hatte schließlich die Geflüchteten aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Nachdem dies nicht geschah, wurde die Polizei gerufen, die mit 200(!) Polizisten anrückte, das Haus absperrte und die Flüchtlinge gewaltsam hinaus brachte. Die offizielle Verteidigung des Berliner DGB-Vorstandes „Flüchtlingen helfen? Ja! Unser Haus besetzen? Nein!“ wurde in Hannover nur als Heuchelei gewertet. Die Konferenz beschloss eine Protestresolution!
Im Plenum berichteten unter lautstarkem Beifall unmittelbar im Anschluss Vertreter Hamburger Gewerkschafter/innen und afrikanische Flüchtlinge der „Lampedusa-Gruppe“ von der starken Solidarität in der Hamburger ver.di. Als der Hamburger Senat mit einer Massenabschiebung von Hunderten Flüchtlingen drohte, die über die Insel Lampedusa in die EU eingereist waren; seien fast 200 Flüchtlinge in die ver.di aufgenommen worden, was die Abschiebung politisch unmöglich gemacht habe, was auch zu starken inneren Auseinandersetzungen in der Hamburger ver.di geführt hatte.
Am Freitagabend versuchte eine Gruppe besoffener Nazis, das Flüchtlingscamp gegenüber anzugreifen, was durch zahlreiche Antifaschisten, Flüchtlingsunterstützer und Konferenzteilnehmer verhindert wurde. Innerhalb weniger Minuten rückten mit Blaulicht und Sirenen eine ganze Hundertschaft Bereitschaftspolizei an, die vor dem Tagungszentrum Pavillon Stellung bezog und minutenlang eine diffuse Drohkulisse errichtete, ehe entschieden war, dass sie weder gegen die Antifaschisten noch das Flüchtlingscamp vorgehen würde.
Auf dem Kongress sprach auch das Vorstandmitglied der IG Metall, Hans Peter Urban, der eines der Eröffnungsreferate hielt. Bernd Riexinger, der frühere Geschäftsführer von ver.di und derzeitige Vorsitzende der Partei die Linke sprach ebenfalls. Damit erhielt die Veranstaltung einen starken parteipolitischen Akzent.
Auf dem abschließenden Podium berichtete sehr lebendig die ver.di-Sekretärin im Fachbereich Handel aus Hannover, Juliane Fuchs, über die sehr aufregenden neuen Tarifkämpfe und Streiks im Einzelhandel. Weitere Berichte und Solidaritätsbekundungen betrafen den Tarifkampf der ver.di-Kolleg/innen bei amazon, sowie die üblen gewerkschafts- und betriebsratsfeindlichen Repressionsmaßnahmen in den Unternehmen und Betrieben der Enercon-Gruppe (Windkraftanlagen-Bau, -Montage und –Service) Der von einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung betroffene Betriebsratsvorsitzende Nils-Holger Böttcher von Enercon Magdeburg stellte diesen Skandal persönlich vor.
„Hände weg vom Streikrecht“ Gegen den Angriff von Schwarz-Rot Regierung!
Viele Unterschriften von Teilnehmer/innen der Konferenz schmückten am letzten Tag das Spruchband „Hände weg vom Streikrecht!“ das, tags zuvor im Plenum gezeigt worden war.
Im Abschlussplenum sprach Rechtsanwalt Prof. Dr. Henner Wolter, ein renommierter Fachanwalt für Arbeitsrecht, der viele Prozesse für ver.di, den DGB und andere Gewerkschaften erfolgreich durchgezogen hat. In seinem Referat zum Streikrecht stellte er fest: „Rechtsfortschritt wird nur durch Rechtsbruch erstritten!“ Er meinte ausdrücklich die Gewerkschafter. Er erinnerte daran, dass noch vor zweihundert Jahren auf Streik in Preußen die Todesstrafe drohen konnte! Wie konnte das heutige Streikrecht durchgesetzt werden, ohne immer wieder Rechtsbrüche zu begehen?
Er geißelte in seinem leidenschaftlichen und zugleich ironisch-humorvollen Beitrag die Pläne der Bundesregierung und der Arbeits- und Sozialministerin der Merkel-Regierung, Andrea Nahles (SPD),das so genannte Gesetz zur Tarifeinheit durch den Bundestag zu drücken, das völlig unvermeidlich das sowieso eingeschränkte Streikrecht noch weiter beschneidet.
Henner Wolter: „Ausgerechnet die Arbeitgeber, die seit Jahrzehnten die Belegschaften spalten und in verschiedensten Firmen, Tochterfirmen, Outsourcings auseinanderdividieren, sorgen sich jetzt angeblich um die Einheit der Belegschaften?! Ich kann nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte!“ Tatsächlich –so hat er das gesagt.
Einheit der Belegschaften heiße für Schwarz-Rot und auch für Frau Nahles: Die stärkste Gewerkschaft macht die Tarifverträge, die andern haben den Mund zu halten, vor allem aber: die Friedenspflicht einzuhalten – Streikverbot für die kleineren! Die Lokführer und Zugbegleiter der GDL haben das Problem schon, wenn das durchkommt. Diese kämpfen aber gerade um mehr Lohn, kürzere Arbeitszeit und besser Arbeitsbedingungen.
Wolfgang Räschke, der erste Bevollmächtigte der IG-Metall Salzgitter(Stahlindustrie!) warnte in einem Workshop auf der Konferenz zu diesem Thema sinngemäß, dass sich die Gewerkschaftskollegen, auch in den Vorständen, die sich für das „Tarifeinheitsgesetz“ stark machten, klarmachen müssten, „wie leicht man als DGB-Gewerkschaft im Betrieb in die Minderheit geraten könne“… Auch als IG Metall!
Deshalb wurde eine zuvor erarbeitete Resolution gegen die vom Gesetzgeber forcierte Tarifeinheit verabschiedet. Die Resolution gibt es als Unterschriftenliste unter
http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Veranstaltungen/2014/Endfassung_Tarifeinheit_Resolution.pdf
Wir rufen alle Leser/innen auf, mit dieser Liste in ihren Betrieben und Gewerkschaften Unterschriften zu sammeln und rechtzeitig bis zum 30.11.14 an die angegebene Adresse zu senden.
Sie ist so formuliert, dass obwohl eine Tarifeinheit in jedem Betrieb erwünscht sei, jede gesetzliche Regelung dieser Tarifeinheit strikt abgelehnt wird. Vielmehr müsse diese politisch an der Basis, in den Betrieben, von den Kolleginnen und Kollegen errungen werden. Auch auf die schon von Rechtsanwalt Henner Wolter gegeißelte, äußerst verräterische Unterstützung der Arbeitgeber wird in diesem Zusammenhang hingewiesen „Die Tarifeinheit politisch herzustellen, ist Aufgabe der Gewerkschaften und nicht etwa der Bundesregierung mit Unterstützung der Arbeitgeber“ Die Resolution fordert, dieses Gesetzesprojekt zu stoppen, auch angebliche „Alternativ“-Vorstellungen, das Streikrecht einzuschränken, werden in der Resolution abgelehnt. Sollte „die Bundesregierung ihre … Pläne der Einführung eines betriebsbezogenen tarifvertraglichen Mehrheitsprinzips weiterverfolgen, werden unweigerlich Tarifautonomie und Streikrecht eingeschränkt. Gegen diese Gesetzesinitiative muss der DGB dann zu bundesweiten Protesten aufrufen“, so die Schlussfolgerung der Resolution. Zu einer direkten Solidarisierung mit den streikenden Kolleg/innen der GDL und der Piloten um Cockpit kam es allerdings nicht, was dringend geboten gewesen wäre.
Ein Fortschritt!
Insgesamt hat diese Konferenz Mut gemacht! Sie macht optimistisch, weil jüngere Gewerkschafter/innen das Heft immer stärker in die Hand nehmen. Viele Teilnehmer/innen kommen direkt aus den sich verschärfenden Klassenkämpfen und sind stark internationalistisch eingestellt. Kommunist/innen müssen sich hier einbringen und können es auch.
Auch wenn es immer wieder Schwächen und Inkonsequenzen gab – die Hannoveraner Konferenz war ein Fortschritt. Der stärkste Mangel war, sich aus den laufenden Tarifauseinandersetzungen, besonders der GDL und der Pilotenvereinigung Cockpit herauszuhalten, die dem Kapital und der Regierung als Ziel ihrer Hetze gegen die Streiks und als Anlass für das Tarifeinheitsgesetz dienen. Trotzdem ist es wichtig, dass von Hannover aus eine Initiative gegen diesen Angriff auf das Streikrecht ausgeht.
Interessant wird die Dokumentation sicherlich werden, die über diese Konferenz veröffentlicht werden soll.
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Eine Dokumentation der Konferenzergebnisse gibt es unter:
http://www.rosalux.de/documentation/50464/gemeinsam-strategien-entwickeln-konflikte-fuehren-beteiligung-organisieren.html