Seine Aussagen waren mit Spannung erwartet worden – die des Sachverständigen der Universität Duisburg-Essen. Er sollte die Untersuchungsprotokolle auswerten, die Prof. Krauss von der Universität Aachen im Rahmen des ersten dreijährigen Betreuungsprogramms für die Envio-Opfer erstellt hatte. Denn Prof. Krauss war von der Verteidigung des der Körperverletzung zahlreicher Menschen und des Verstoßes gegen zahlreiche Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg angeklagten Envio-Chefs Neupter und zweier Mittäter als befangen abgelehnt worden – der Sachverständige aus Duisburg-Essen nicht. Warum der eine abgelehnt wurde und der andere nicht, wurde bald deutlich…
Vorweg etwas zur Vorgeschichte: Die Firma Envio machte ihren Reibach durch das Ausschlachten alter Transformatoren und anderer z.B. Kupfer enthaltener Geräte. Die enthielten jedoch nicht nur die wertvollen Metalle, sondern auch die zum „dreckigen Dutzend“ (den 12 giftigsten chemischen Stoffgruppen) zählenden PCB-Verbindungen. Eine für PCB typische Krankheit beim Menschen ist die Hautkrankheit Chlor-Akne; außerdem gibt es zahlreiche andere gesundheitsschädliche Auswirkungen, die allerdings auch andere Ursachen als eine Vergiftung durch PCB haben können und die oft erst nach vielen Jahren auftreten. AZ hat in früheren Ausgaben mehrfach hierüber berichtet.
Prof. Krauss aus Aachen durfte im Prozess nur als „sachverständiger Zeuge“ die von ihm und seinem Team beobachteten Daten vortragen – jede Interpretation dieser Beobachtungsergebnisse war ihm untersagt. Damit wurde dafür der Sachverständige aus Duisburg-Essen beauftragt. Er war schon einmal kurz nach Prozessbeginn als Sachverständiger zum Thema PCB befragt worden und machte einen kundigen Eindruck. Seine erneute Befragung – diesmal zu den Untersuchungsprotokollen aus Aachen – war schon für den Herbst des vergangenen Jahres vorgesehen, wurde aber immer wieder verschoben. Etwa ein halbes Jahr später war es dann endlich so weit. Und nun wurde auch klar, warum die Verteidigung diesen Sachverständigen nicht abgelehnt hatte. Er präsentierte sich als reiner Wissenschaftler, für den die Menschen, deren Untersuchungsergebnisse aus Aachen ihm vorlagen, nur Lieferanten von Daten waren, die man dann auswerten kann oder auch nicht. Bei Herrn Prof. Krauss gewann man einen anderen Eindruck: er wurde in mehreren Fernsehinterviews nach dem Befinden der von ihm untersuchten Menschen gefragt und stellte immer wieder heraus, dass es einigen von ihnen jetzt besser gehe, denn (und nun kommt der Unterschied zum Duisburg-Essener Sachverständigen) sie hätten wieder Arbeit gefunden; für ihn ist ganz offenbar die soziale Lage ein wichtiger Faktor, der sich auf die Gesundheit und Psyche der Menschen auswirkt. Für den einen Wissenschaftler steht der Mensch im Vordergrund, für den anderen die Daten, die er liefert – der eine wird als „befangen“ abgelehnt, der andere nicht…
Wir wollen dem Duisburg-Essener Sachverständigen jedoch keine Böswilligkeit unterstellen, nur haben wir eine andere Auffassung von Wissenschaftlichkeit: sie sollte nicht neutral sein, sondern objektiv. Ist man neutral, so nimmt man nicht Stellung gegen den/die Täter und nicht für die Opfer; ist man jedoch objektiv, so nimmt man Stellung gegen die Täter und für die Opfer. Man braucht nur an das Dritte Reich zu denken, dann wird dieser Unterschied ganz deutlich.
Zur Ehrenrettung des Duisburg-Essener Sachverständigen müssen wir sagen, das er es wesentlich schwerer hatte als sein Kollege aus Aachen. Ihm standen nur die Unterlagen von 29 Untersuchten zur Verfügung, die anderen hatten Prof. Krauss nicht von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden. Wie schwer es daher war, gesicherte Aussagen zu machen, wird klar, wenn man sich z.B. folgendes überlegt: Teilt man diese 29 Personen z.B. ein in Altersgruppen von 21-30 usw. bis hin zu 51-65 Jahren, so ergibt sich, dass in jede dieser Gruppen nur wenige Personen kommen; unterteilt man eine solche Gruppe dann noch in Raucher und Nichtraucher, in Menschen mit und ohne Übergewicht usw., dann wird klar, dass in die jeweiligen Unter(unter)gruppen nur sehr wenige Personen kommen und dass man mit den so erzielten Daten wissenschaftlich gesichert kaum etwas anfangen kann.
Prof. Krauss hatte (erfreulicherweise und leider!) mehr Patienten zur Verfügung. Er ging allerdings auch anders an die Untersuchung heran. Aus den von ihm dem Gericht vorgetragenen Messergebnissen ging eindeutig hervor, dass bei allen Untersuchten die PCB-Belastung des Blutes zu Beginn des ersten Betreuungsprogramms (kurz nach der Envio-Schließung) deutlich höher waren als gegen Ende des Programms etwa 3 Jahre später. Damit ist Envio als Ursache für die Blutbelastung eindeutig festzumachen.
Aus Duisburg-Essen gibt es ein mindestens 70 Seiten umfassendes Gutachten zu den Daten der 29 Personen. Zu diesem Gutachten gab es von Seiten des Staatsanwaltes und der Nebenkläger zahlreiche Nachfragen, merkwürdigerweise keine von der Verteidigung. Und bei den Antworten des Duisburg-Essener Sachverständigen kamen zumindest dem Zuhörer im Gerichtssaal Zweifel daran, ob dieser Sachverständige die hohen wissenschaftlichen Ansprüche, die er an andere stellt, auch an sich selbst stellt. So zeigte sich, dass er an mehreren in letzter Zeit zum Thema PCB durchgeführte Konferenzen nicht teilgenommen hatte und deren z.B. im Internet veröffentlichten Beiträge und Ergebnisse nicht kannte. Ein inzwischen eindeutiger Chlor-Akne-Fall eines ehemaligen Envio-Beschäftigten war ihm offenbar unbekannt – der gehörte allerdings nicht zu den 29. In seinem eigenen Gutachten hatte er die PCB-Verbindungen missverständlich sogar als das Immunsystem aktivierend dargestellt, was zumindest im ersten Augenblick als positiv erscheint, denn ein aktives Immunsystem ist doch gut. Auf Nachfrage stellte er das dann klar: das Immunsystem kann auch fehlgeleitet aktiv werden und Antikörper gegen nützliche Körperzellen produzieren. Gefragt wurde er auch, ob die PCB-Verbindungen und das ebenfalls schädliche, bei Envio verwendete Lösungsmittel Per (Perchlorethylen) nebeneinander wirkten oder miteinander und sich dabei dann eventuell gegenseitig verstärkten; diese Frage wusste er wissenschaftlich nicht zu beantworten, nahm aber an (!), sie wirkten nebeneinander, was den Angeklagten sicherlich recht ist. Er wurde auch gefragt, ob die in Aachen bei den Untersuchten festgestellten psychischen Schäden nicht auf das PCB zurückzuführen seien. Das verneinte er und machte dafür auch die Medienberichterstattung mitverantwortlich, die PCB als „Ultragift“ dargestellt habe. Uns war diese Bezeichnung für PCB bis dahin unbekannt; er nannte auch keine Quellen und keine Medien, die seine 29 untersuchten Personen als Informationsquellen haben.
Der Sachverständige konnte den ihm vorgelegten Unterlagen der 29 Envio-Opfer keine wissenschaftlich gesicherten Aussagen über die Schadensquelle entnehmen. Schilddrüsenschädigungen und Übergewicht gibt es ja auch bei zahlreichen anderen Menschen. Nicht so kritisch war da die Berufsgenossenschaft: die Auffälligkeiten an der Schilddrüse der in Aachen Untersuchten waren für sie Grund genug, das Betreuungsprogramm um weitere drei Jahre zu verlängern. Allerdings werden hierbei die Menschen nur „wissenschaftlich begleitet“, es gibt keine medizinische Behandlung.
Übrigens: wir unterstellen diesem Sachverständigen keine böse Absicht, weswegen wir seinen Namen auch nicht nennen, er hat aber offensichtlich eine andere Auffassung von Wissenschaftlichkeit.
Noch etwas: Die Verteidigung hat sich eine neue Taktik überlegt – dafür hat sie ziemlich genau zwei Jahre gebraucht. Sie fuhr einen Angriff auf gegen die Bezirksregierung Arnsberg und stellte dar, diese sei von Anfang an über „alles“ informiert gewesen und habe es geduldet. Nun sitzen Herr Neupert und Mittäter völlig zurecht auf der Anklagebank, aber da gehören auch noch andere hin. Der Bezirksregierung Arnsberg muss man den Vorwurf machen, dass sie zu vielem geschwiegen hat und sich zahlreiche leicht zugängliche Informationen nicht besorgt hat; auch die Stadt Dortmund muss sich diesen Schuh anziehen, auch bei der Aufarbeitung des Skandals, der Sanierung des verseuchten Geländes usw. Schön ist, dass nicht nur die „Bürgerinitiative für die Aufklärung des PCB-Skandals in Dortmund“ sich nun bei ihrer Kritik an der Bezirksregierung sogar auf die Aussagen der Verteidigung berufen kann. Lenin hat da irgendwann irgendwo mal etwas von „nützlichen Idioten“ gesagt…