Kapitalismus macht krank – über gesellschaftliche Ursachen psychischer Krankheiten
Nach einem Report der AOK stieg die Zahl der Krankmeldungen auf Grund psychischer Probleme zwischen 1995 und 2006 von 11 Millionen auf rund 19 Millionen. Obwohl die Zahl der von Depressionen und anderen psychischen Krankheiten betroffenen Menschen auch in den letzten Jahren rapide angestiegen ist, gibt es in großen Teilen der Bevölkerung immer noch Unwissenheit, Ängste und Vorurteile gegen psychisch Kranke. Vermutlich ist dies auch ein Grund, warum einigen Betroffenen zunächst jede Krankheitseinsicht fehlt.
Es gibt sowohl medizinische als auch gesellschaftliche Ursachen, oft auch kombiniertes Zusammenwirken von beidem. Eine medizinische Ursache z.B. für Depressionen kann sein, dass Stoffe wie Serotonin und Noradrenalin in den Synapsen des Gehirns blockiert werden. Man unterscheidet zwischen Negativ- und Positivsymptomen. Bei negativen fehlt den Patienten etwas, was sich z.B. in Antriebslosigkeit und Müdigkeit äußern kann. Positivsymptome erleiden die Betroffenen zusätzlich, z.B. Nervosität.
Mindestens genauso wichtig, aber auch m.E. sehr vernachlässigt sind die gesellschaftlichen Ursachen wie z.B.: steigende Ausbeutung der Lohnabhängigen durch Leistungsdruck, Arbeitshetze, Zeit- und Termindruck, von Bossen geschürte Intrigen, Konkurrenz und Mobbing, soziale Unsicherheit, Existenz- und Zukunftsangst (z.B. Angst um den Arbeitsplatz), vor allem aber auch längere Arbeitslosigkeit, Armut, Druck und Schikane durch Ämter und vieles andere mehr. Jährlich tausende Selbstmorde bzw. Selbstmordversuche beweisen die gesellschaftliche Brisanz psychischer Krankheiten und der Verhältnisse, die die Erkrankungen auslösen.
Während niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten therapeutische Gespräche führen, aber die ärztlichen Psychotherapeuten auch Medikamente verschreiben, liegt der Schwerpunkt der psychiatrischen Kliniken auf medizinischer Behandlung mit Medikamenten, welche jedoch z. T. erhebliche Nebenwirkungen zeigen. Manchmal erleiden Patienten nach anfänglich deutlicher Verbesserung ihres Befindens heftige Rückfälle, wenn z.B. Medikamente abgesetzt werden, weil die Patienten glauben, sie nicht mehr zu brauchen. Neben Ergotherapie und Sportangeboten werden die Patienten mehr oder weniger umfassend über ihre psychischen Erkrankungen informiert. Im Gegensatz zu medizinischen Ursachen bleiben dabei aber gesellschaftliche meistens außen vor. Für soziale oder organisatorische Probleme wie mit dem Arbeitsplatz oder mit Behörden gibt es in den Kliniken Sozialarbeiter, die beraten und praktische Hilfe leisten. Neben offenen und geschützten (also geschlossenen) Stationen gibt es auch Tageskliniken, um die Patienten nicht völlig aus ihrem Alltag und ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen.
Indessen können die Unterschiede zwischen den Kliniken sehr groß sein. So berichtete ein ehemaliger Patient einer Berliner Klinik von sehr schlechten Bedingungen und Zuständen, die eher dazu beitrugen, sein Befinden zu verschlechtern als zu verbessern. Die Kliniken in Halle nahmen sich dagegen seiner Aussage nach „fast wie 5-Strene-Hotels“ aus.
Es gab in den 70ger/80ger Jahren mal ein „Sozialistisches Patientenkollektiv“ (SPK) in Westdeutschland. Obwohl sich die Zustände und Möglichkeiten der Psychiatrie seitdem erheblich verbessert haben, ist es vielleicht wieder an der Zeit, ein neues SPK zu gründen, welches auch rein medizinisch Kranke umfassen könnte. Denn die oben genannten gesellschaftlichen Ursachen für psychische Krankheiten verschlimmern sich immer mehr. Deshalb ist es notwendiger denn je, für eine revolutionär demokratische Diktatur der Arbeiterklasse und des Volkes sowie für eine sozialistische, demokratische Planwirtschaft zu kämpfen. Nur so können kapitalistische Ausbeutung, Unterdrückung und Dekadenz beseitigt werden. Nur so werden die gesellschaftlichen Ursachen für psychische Erkrankungen verschwinden. Krankheiten wird es zwar immer geben, aber im Sozialismus können sie auf ein Minimum beschränkt und die Behandlung erheblich verbessert werden, da Medizin und Forschung nicht mehr vom Konkurrenzkampf und dem Drang nach Maximalprofit beherrscht sein werden.(u. A. durch Verstaatlichung der Pharmakonzerne und eine einzige staatliche Krankenkasse)
Psychisch Kranke können indessen nicht auf große gesellschaftliche Veränderungen warten. Neben der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen muss die Bevölkerung über psychische Krankheiten aufgeklärt werden, damit die Betroffenen besser integriert und nicht isoliert werden. Z.B. ist es fatal, wenn sich einige Betroffene nur noch unter psychisch Kranken bewegen, weil sie kaum noch andere Menschen kennen.
Auf jeden Fall sollten Menschen, wenn sie merken, dass es ihnen psychisch sehr schlecht geht, nicht den Gang zu einem Psychotherapeuten scheuen, bevor sich das Befinden noch weiter verschlechtert oder gar eine akute Krise ausgelöst wird. Es gibt zwar keine Garantie, aber eine erfolgreiche Therapie kann die Lebensqualität erheblich verbessern, und Probleme lassen sich besser lösen, auch wenn ihre gesellschaftlichen Ursachen nicht berührt werden. Wer mehr erfahren will, dem ist der Film „Schnupfen im Kopf“ von der selbst betroffenen Filmemacherin Gamma Bak zu empfehlen.
J. aus Halle/Saale
Anmerkung der Redaktion:
Lieber Genosse, Dein Beitrag ist gut recherchiert und gibt die sozialen, gesellschaftlichen Ursachen von psychischen Erkrankungen gut wieder. In einem Punkt möchten wir die Korrespondenz korrigieren. Du schreibst: „Eine medizinische Ursache z.B. für Depressionen kann sein, dass Stoffe wie Serotonin und Noradrenalin in den Synapsen des Gehirns blockiert werden.“ Das ist leider die Position bürgerlicher Materialisten, die die Dialektik nicht kennen oder kennen wollen. Tatsächlich gibt es den von der bürgerlichen Wissenschaft kreierten Gegensatz von Geist und Körper so nicht. Die Psyche ist nichts Immaterielles, sondern etwas Materielles. Sie kann auch direkt auf die Körperchemie einwirken. Ein verändertes Bewusstsein verändert auch die Produktion von chemischen Stoffen im Gehirn. Marx sagte unter anderem: „Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“ So ist es auch mit psychischen Zuständen. Angst hindert beim Kampf. Kollektivität und Solidarität stärken die Kampfkraft. Deshalb ist es nicht richtig, chemische Stoffe zur Ursache für Depressionen zu erklären. Sondern der psychische Zustand Depression und die Konzentration bestimmter chemischer Stoffe hängen dialektisch zusammen. Das eine kann das andere beeinflussen und umgekehrt. Die undialektischen bürgerlichen Wissenschaftler machen die Erscheinung zur Ursache, ohne nach den wirklichen Ursachen zu forschen.