Wessen Bahnhof? Unser Bahnhof! Wessen Stadt? Unsere Stadt! Wessen Geld? Unser Geld! Wessen Land? Unser Land!
Es ist erstaunlich, was derzeit in Stuttgart passiert. Die lange Zeit so braven Schwaben knüpfen an ihre demokratischen und revolutionären Traditionen an. Denn in Schwaben und Baden gab es sowohl im Bauernkrieg von 1525 wie auch bei der demokratischen Revolution von 1848 als auch bei der sozialistischen Revolution von 1918 starke revolutionäre Kräfte. Diese Tradition schien vergessen und verloren gegangen zu sein. Im Konflikt um Stuttgart 21 zeigen die Menschen, dass in ihnen erneut demokratischer und revolutionärer Geist auflodert.
Natürlich hätte es schon vorher tausend Gründe für einen Aufstand gegeben wie Hartz IV, Massenentlassungen, Sozialabbau, Rentenkürzungen, 1-Euro-Jobs, Abbau demokratischer Rechte und Ausbau des Überwachungsstaates, Milliarden für die Banken und für Kriege, Korruption und schwarze Kassen.
Es hat wohl einige Zeit gebraucht, bis das Maß so voll war, dass die Menschen zu zigtausenden auf die Straße strömten. In dem Kampf um Stuttgart 21 kristallisiert sich die gesamte Wut, die sich in den Menschen auf dieses System aufgestaut hat.
– Da ist die Wut auf Politiker, die gegen das Volk regieren und diese Politik mit Staatsgewalt gegen alle Proteste durchsetzen.
– Da ist die Wut auf das Kapital, das mit diesen Politikern seine Interessen durchsetzt.
– Da ist die Wut auf Korruption und mafiöse Klüngelwirtschaft.
– Da ist die Wut auf eine immer weitere Gängelung des Volkes, auf den Abbau demokratischer Rechte, auf den Überwachungsstaat.
– Und da ist noch viel mehr Wut, die sich in den vergangenen Jahren zusammengebraut hat.
Und nun ist diese Wut zu einer Kraft geworden. Was oft als ohnmächtige Wut erschien, als Resignation angesichts der eigenen Hilflosigkeit, hat nun einen Punkt erreicht, wo die Menschen sich wehren, die Straße für sich beanspruchen und ihre Angst und ihren Respekt vor diesem Staat, seinen Politikern und dem Kapital verlieren.
Sie entdecken ihre Macht!
Sie begreifen, dass sie die Mehrheit sind und ohne sie in dieser Gesellschaft nichts läuft!
Und in dem Prozess des Widerstandes lernen sie jeden Tag Dinge hinzu. Menschen, die vor einem Jahr noch diesen Staat verteidigt hätten, sagen nun: „Wir leben in einer Diktatur!“ Sie begreifen zunehmend die Verquickungen von Staat und Kapital. Menschen, die vor einem Jahr nicht an einer Demonstration teilgenommen hätten, besetzen nun ohne Angst die wichtigsten Straßenkreuzungen in der Innenstadt Stuttgarts, stellen sich der Polizei entgegen, besetzen den stillgelegten Nordflügel des Bahnhofs, besetzen das Baugelände oder feiern begeistert diejenigen, die das tun.
In Stuttgart 21 ist ihnen der Staatsapparat und das Kapital in widerwärtiger Weise entgegen getreten.
Über 15 Jahre wurde geplant. Proteste gab es von Anfang an. Jahrelang wurden die Menschen damit beruhigt, dass ja kein Geld da sei und daher dieses Großprojekt wohl aufgegeben werden müsse. Im Stillen wurde weiter geplant und auf einmal war innerhalb kürzester Zeit alles unter Dach und Fach. Trickreich war das Volk von jeder wirklichen Beteiligung ausgesperrt worden.
Die Menschen wurden belogen, z.B.über die Kosten. Inzwischen gehen selbst die Befürworter von fast doppelt so hohen Kosten aus, nachdem sie jahrelang behauptet hatten, es gebe keine Kostensteigerungen. Experten gehen davon aus, dass die Kosten weit über 10 Milliarden steigen werden.
Belogen wurden die Menschen bei der angeblichen Zeitersparnis. So wurde verschwiegen, dass der ICE vor ca. 15-20 Jahren noch 20 Minuten schneller von Stuttgart nach Ulm fuhr. Die Bahn hat diese Gleise so verlottern lassen, dass die Züge heute nur langsam fahren können. Die über 30 Minuten angeblicher Zeitersparnis schrumpfen angesichts dieses Tricks schon mal auf etwas über 10 Minuten. Weitere Verschlechterungen durch Stuttgart 21 bedeuten jedoch, dass Experten den realen Zeitvorteil auf nur ca. 2-4 Minuten schätzen. Dafür sollen rund 8 oder mehr Milliarden ausgegeben werden.
Die Menschen wurden betrogen, indem wichtige Gutachten verheimlicht wurden, die die Befürworter des Projektes selbst in Auftrag gegeben hatten und die aufzeigten, dass das Projekt Schaden anrichtet.
Die Menschen sehen, wie das Kapital regiert. So sitzt auf einmal der erste Bürgermeister, der für Bauangelegenheiten zuständig ist, im Beirat eines großen Baukonzerns, der dazu den ersten Auftrag für Stuttgart 21 erhält, den Abriss des Nordflügels. Der findet das „normal“ und zieht sich erst nach heftigsten Protesten aus dem Beirat zurück. Die Menschen sehen, wie sich das Kapital seine „Experten“ zusammen kauft. Da haben Professoren, die als „unabhängige“ Gutachter vor Gerichten auftreten, gleichzeitig Aufträge der Bahn AG oder waren gar im Auftrag und auf Rechnung der Bahn an der Planung von Stuttgart 21 beteiligt. Banken, Baukonzerne, Politiker, solche „Experten“ sind zutiefst verfilzt. Siehe dazu: http://www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=320
Sie lernen, dass die Politiker und das Kapital alle ihre Proteste ignorieren. Selbst bürgerliche Vorschläge, das Projekt Stuttgart 21 zu verschieben und noch einmal darüber zu reden, um „den Frieden in der Stadt zu wahren“, werden kalt abgelehnt. Die Herrschenden wollen keinen Frieden.
Die Menschen lernen, dass die Medien mit dem Kapital eng verbunden sind und dessen Interessen vertreten. Die beiden großen Stuttgarter Zeitungen, die einem Konzern gehören, sind stramme Befürworter von Stuttgart 21. Erst nach massiven Protesten und zahllosen Abo-Kündigungen veröffentlichten sie in größerem Umfang Leserbriefe gegen Stuttgart 21 und mussten eingestehen, dass sie von tausenden Leserbriefen zu diesem Thema überschwemmt werden.
Die Menschen sehen, wie Zahlen manipuliert werden, um politisch gewünschte Ergebnisse zu erhalten. So schätzte die Polizei die Zahl der Demonstranten regelmäßig um die Hälfte zu niedrig ein, um zu „beweisen“, der Widerstand sei klein und überschaubar.Die Presse übernahm die gestutzten Zahlen der Polizei. Als dann die Gegner von Stuttgart 21 automatische Zählsysteme verwendeten und nachweisen konnten, dass die Teilnehmerzahlen deutlich höher waren, mussten sowohl Polizei als auch Presse zurückrudern. Nun veröffentlicht die Presse zumeist beide Zahlenangaben und die Polizei hat auf einmal Schätzungen, die zwar immer etwas niedriger aber in der Nähe der realen Teilnehmerzahlen liegen.
Die Menschen erkennen, wie die Polizei mit der Taktik „Zuckerbrot und Peitsche“ reagiert. Wenn dreißigtausend auf der Straße sind, hält sich die Polizei zurück. Als in der Nacht vom 19. zum 20. August ein schwerer Abbruchbagger in das Gelände eingeschleust werden sollte, kamen spontan über tausend Menschen zum Nordflügel des Bahnhofes. Daraufhin wurde so getan, als ob die Aktion abgeblasen sei. Als morgens gegen 5 Uhr nur noch ca. 50-70 Demonstrant/innen der dauerhaften Mahnwache da waren, fuhr die Polizei urplötzlich mit über 50 Mannschaftswagen auf. Die Demonstranten, die eine Sitzblockade organisiert hatten, wurden mit Tritten sowie mit schmerzhaft verdrehtem Kopf, Armen und Beinen weggeschleppt, obwohl sie keinen Widerstand leisteten. Polizeipressesprecher Petersen meinte laut Stuttgarter Zeitung vom 20.8.10 dazu, die Demonstranten sollten wissen, dass das Sichwegtragenlassen wehtun könne. Ohne dass die Presse dazu irgendetwas kritisch anmerkte, gab er also zu, dass es Absicht war, die Menschen unnötig zu quälen.
Wir wissen nicht, ob der Widerstand, der jede Woche bis dreimal 10-30.000 Menschen auf die Straße bringt, am Ende siegen wird. Die Chancen dafür sind beachtlich. Denn das System entlarvt sich dabei so sehr, dass die „politischen Kosten“ mittlerweile ungeheuer hoch sind. Der Hass auf dieses System steigt.
Aber auch wenn der Widerstand letztendlich in der Sache erfolglos bleiben sollte, wird er politisch und moralisch ein Erfolg sein. Am Ende werden die Menschen verändert sein. Die Spuren, die der Kampf in den Menschen eingräbt, werden bleiben und in zukünftigen Kämpfen sichtbar werden. Die Menschen werden vor allem gelernt haben, welche Kraft sie besitzen. Und die Idee, dass dieser Bahnhof, diese Stadt, das Geld und das Land uns allen gehören, wird nicht verschwinden. Sie wird weiter wirken. Zudem strahlt der Kampf auf das ganze Land aus. Überall in Deutschland sind in den zurückliegenden Jahren die Wut und der Hass auf das Kapital und die Regierung gestiegen. Ein Hindernis ist dabei das Gefühl der Ohnmacht. Wenn die Menschen aber sehen, was eine Massenbewegung bewirken kann, wird ihnen das Hoffnung und Auftrieb geben Und sie werden durch die Praxis begreifen:
Wer kämpft, kann verlieren! Wer nicht kämpft, hat schon verloren!